Stärken stärken

Interview mit Prof. Dr. Ulrich H. J. Körtner, Wien, zur Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Der „Gewohnheitsatheismus“ breitet sich auch im Westen Deutschlands aus, wie die aktuelle Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft zeigt. Den „Religionslosen“ mit einem „anspruchsvollen Glauben“ zu begegnen, empfiehlt Ulrich H. J. Körtner. Statt „in seichtem Ton vom gelingenden Leben“ zu reden, sei es Zeit für eine „neue Theologie des Wortes Gottes“.

reformiert-info: Nach der neuen Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft ist der Forderung, die Kirche solle gegen den Trend wachsen, die Ernüchterung gewichen. Sie sprechen von einem sich ausbreitenden „Gewohnheitsatheismus“. Was ist damit gemeint?

Körtner: Den Ausdruck „Gewohnheitsatheismus“ habe ich von Wolf Krötke übernommen, emeritierter Theologieprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat besonders die Situation in Ostdeutschland vor Augen, wo es einen großen Anteil an Konfessionslosen gibt, die schon in dritter, vierter Generation ohne jede religiöse Sozialisation aufgewachsen sind. Es gibt einen Atheismus, der sich mit dem Gottesglauben kritisch auseinandersetzt oder sich offensiv gegen jede Religion wendet. Man denke an Richard Dawkins und andere „neue“ Atheisten oder an die Aktivitäten der Giordano-Bruno-Stiftung. Gewohnheitsatheisten ist dagegen selbst die Frage nach Gott abhandengekommen. Sie leben ganz selbstverständlich ohne Religion. Auch in Westdeutschland ist ein derartiger Gewohnheitsatheismus auf dem Vormarsch. Er ist auch in anderen Teilen Europas verbreitet. Die Behauptung, wir erlebten seit Jahren eine Wiederkehr der Religion oder einen Megatrend Spiritualität, hat sich als Wunschdenken entpuppt.

Wider die Banalisierung der christlichen Botschaft

Was ist zu tun, um Religionslosen das Evangelium zu verkündigen?

Körtner: Dass viele Menschen gar nicht mehr religiös sozialisiert sind – also der nicht mehr zu leugnende Traditionsabbruch des Christentums – sollten wir als Herausforderung, vielleicht sogar als Chance annehmen. Ich denke z.B. an diakonische Einrichtungen in Ostdeutschland, die etliche Mitarbeiter beschäftigen, die keiner Kirche angehören. Wie mir berichtet wird, zeigen sich viele von ihnen durchaus interessiert, in Leitbildschulungen etwas über den christlichen Glauben und die biblische Botschaft zu erfahren, durch welche die diakonische Identität geprägt wird.
Ganz allgemein halte ich es für entscheidend, dass die christliche Botschaft nicht trivialisiert und banalisiert wird. Wir brauchen den Mut, vom biblischen Gott zu sprechen, dem wir im Leben und im Sterben vertrauen können, dem wir aber auch für unser Leben verantwortlich sind. Statt nur von Gottes Zuspruch zu reden, müssen wir auch von Gottes Anspruch auf unser Leben sprechen. Ein in diesem Sinne anspruchsvoller Glaube hat nach meiner Überzeugung den Menschen mehr zu sagen als eine Verkündigung, die in seichtem Ton vom gelingenden Leben redet und in leicht erhöhtem Ton irgendwelche Alltagsweisheiten zum Besten gibt, wie sie sich in jedem x-beliebigen Ratgeber für Lebensfragen findet. Wer im biblischen Sinne von Gott reden will, wird nicht umhin können, auch von Sünde, Gericht und Gnade zu sprechen. Alles Reden von Gott bleibt freilich unglaubwürdig, wenn man dem Redenden nicht abspüren kann, dass er nicht nur fromme Reden schwingt, sondern ernsthaft versucht, aus Glauben zu leben.

Sich den Zumutungen der Bibel aussetzen

Welche Theologie tut not?

Körtner: Statt einer „Religionstheologie“, die den Menschen einzureden versucht, dass sie im Grunde doch eh alle religiös und irgendwie vielleicht sogar anonyme Christen sind, brauchen wir eine neue Theologie des Wortes Gottes, welche den Mut findet, sich auch den Zumutungen der Bibel, ihrer Fremdheit und Widerständigkeit auszusetzen. Eine Theologie, die inständig danach fragt, von welchem Gott die Bibel spricht und was dieser Gott uns zu sagen hat.
Die evangelische Kirche versteht sich als Kirche des Wortes. Im Sinne der Maxime „Stärken stärken“ ist darüber nachzudenken, wie die protestantische Predigtkultur gefördert werden kann. Wie aber ist es gegenwärtig um diese Predigtkultur bestellt? Die Schlüsselfrage lautet: Was sollen wir predigen? Was hat die Kirche den Menschen zu sagen, was ihnen andere nicht sagen können?
Wir leben in theologisch dürftiger Zeit. Der in der Kirchenmitgliedschaftserhebung angesprochene Traditionsabbruch führt zu einer fortschreitenden „Bibelvergessenheit“ (Thomas Schlag). Schon Dietrich Bonhoeffer hat von der Erfahrung gesprochen, dass die Worte der biblischen Überlieferung kraftlos werden. Er führt dies auf die eigene Schuld der Kirche zurück. Sofern Theologie und Kirche einer Verkündigung Vorschub leisten, die die christliche Botschaft banalisiert, ist der Sprachverlust des Glaubens auch unsere Schuld. Durch solches Gerede wird Gott zum Schweigen gebracht.
Dass Gott zu uns spricht, lässt sich aber nicht erzwingen. Eine Theologie des Wortes widersteht dem Machbarkeitswahn kirchlicher Reformprogramme, welche kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Erfolgszwang setzen. Kurzfristig werden sich die in der neuen Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft beschriebenen Trends nicht umkehren lassen. Schlüsselbegriffe eine Theologie in dürftiger Zeit sind: Warten, Hoffen, Beten.

Diasporaexistenz als gemeinsame ökumenische Erfahrung

In einem Beitrag für den Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW)* fordern Sie eine missionarische Theologie. Zeigt sich da doch die Hoffnung, die Kirche könne gegen den Trend wachsen?

Körtner: Die neue Kirchenmitgliedschaftserhebung zeigt ein doppeltes Bild. Auf der einen Seite ist erfreulicherweise eine Zunahme bei Menschen zu verzeichnen, die ganz bewusste Mitglieder der Kirche sind und bleiben. Auf der anderen Seite nimmt – gerade bei jüngeren Menschen – die Verbundenheit mit der Kirche dramatisch ab. Groß ist die Zahl der Indifferenten, denen Kirche nichts mehr zu sagen hat. Wenn ich für die Stärkung der missionarischen Dimension von Kirche und Theologie plädiere, geht es mir überhaupt nicht um irgendwelche kurzfristigen Strategien zur Trendumkehr. Manche verwechseln Mission mit Wachstumsprogrammen, die sich mehr an Modellen der modernen Ökonomie als an der Bibel orientieren.
Unter einem missionarischen Christentum verstehe ich zunächst einmal die Bereitschaft zum persönlichen Glaubens- und Lebenszeugnis. Vor allem aber geht es darum, dass die Kirche und alle Christen an der Mission Gottes teilnehmen. Die Frage um den Fortbestand der Kirche darf nicht im Zentrum stehen, weil die Kirche kein Selbstzweck ist. Es geht vielmehr um den Anbruch der Gottesherrschaft.
In der modernen pluralistischen Gesellschaft findet sich das Christentum in einer Diasporasituation vor. Nicht nur in Ostdeutschland, sondern in vielen Ländern Europas bilden evangelische Christen und Kirchen eine Minderheit. Auch gesamteuropäisch betrachtet ist die Zahl der Protestanten in Europa geringer als die von römischen Katholiken und orthodoxen Christen zusammengenommen. Zunehmend machen aber auch katholische Christen die Erfahrung, zur gesellschaftlichen Minderheit zu werden. Die Diasporaexistenz des Glaubens wird zur gemeinsamen ökumenischen Erfahrung.
Wir brauchen darum eine neue Theologie der Diaspora, wie sie seit kurzem in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in der Europa (GEKE) diskutiert wird. Eine solche Theologie ist jedoch nicht als Theologie des Rückzugs aus der Gesellschaft zu verstehen, sondern im Gegenteil als Ermutigung, sich in diese Welt einzumischen und das Evangelium von der Liebe Gottes in Wort und Tat zu bezeugen. Statt sich in binnenkirchliche Milieus zurückzuziehen ist es Theologie und Kirche aber weiterhin aufgetragen, ihren Öffentlichkeitsauftrag zu erfüllen.
Theologie der Diaspora als öffentliche Theologie: das ist meine Vorstellung von einer missionarischen Theologie. Öffentliche Theologie beschränkt sich aber nicht auf ethische Themen, sondern begreift als ihre Aufgabe auch die Weitergabe des Evangeliums und des Glaubens. Das ist unsere Verantwortung. Was dabei aus der Kirche wird, müssen wir getrost Gott überlassen.

*EZW 4/2014; eine Kurzfassung im Artikel von evang.at.

Ulrich H. J. Körtner, Dr. theol., Dr. h.c. mult., Jahrgang 1957, ist seit 1992 Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und seit 2001 auch Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

reformiert-info, 29. März 2014