Warum wird in der Kirche immer noch von Sünde geredet?

O Mensch bewein dein Sünde groß… - EG 76 zum Sonntag Judika


Predella mit dem Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen, Stuttgart, Stiftskirche, Taufkapelle, 15. Jh.; Foto: Andreas Praefcke / Wikipedia Commons

Ein Impuls zum Wochenlied von Sylvia Bukowski

Warum wird in der Kirche immer noch von Sünde geredet? Warum steht am Anfang des Gottesdienstes immer noch ein Schuldbekenntnis? Für manche Zeitgenossen ist das unerträglich. Sie wollen nicht „kleingeredet“ werden, nicht auf ihre Defizite behaftet werden. „Ich führe ein anständiges Leben, lasse mir nichts zuschulden kommen. Ich vermeide jeden Streit, quäle niemanden, also was soll ich groß als Schuld bekennen?“

Es ist interessant, dass Heiko Ernst, Herausgeber der Zeitschrift „Psychologie heute“ und  bekennender Atheist 2006 ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel: „Wie uns der Teufel reitet.  Von der Aktualität der 7 Todsünden.“ Darin behauptet er: „Das Raster der Großen Sieben ist auch außerhalb des religiösen Kontextes unvermindert aktuell. Es bietet nicht nur ein Instrument der Selbstbetrachtung in einem dunklen, aber genauen Spiegel, sondern erlaubt auch in Zeiten zunehmender moralischer Verunsicherung und transzendentaler Obdachlosigkeit eine kritische Prüfung des Zeitgeistes.“ Das Wesen der Sünde sieht er mehr im Verrat der Menschlichkeit als im Verbrechen. Er beschreibt sie  als Bruch von Bindungen und Beziehungen, als Akt der Selbstentstellung und -zerstörung, als Verlust jeglichen menschlichen Maßes. Und sehr plausibel weist er in der Abhandlung von Hochmut, Neid, Habgier, Zorn, Trägheit, Völlerei und Wollust unsere gutbürgerliche Verstrickung in die Sünde nach.

Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen, vor allem wenn man meint, die Rede von der Sünde sei nicht mehr zeitgemäß, sie schmälere das Selbstbewusstsein, und man käme in der Kirche besser ohne sie aus. Es ist heilsam, die eigenen Schattenseiten nicht zu leugnen, Schuld auch in ihren gut getarnten Spielarten zu erkennen, ehrlich mit sich selbst zu sein. Wenn das im Vertrauen auf Gott geschieht, werden wir dadurch nicht entwertet, nicht in Grund und Boden verdammt. Die Zusage der Vergebung, die unsere Verstrickung in die Sünde ernstnimmt, macht uns frei: frei, im Licht der Gnade Gottes aufrecht zu leben; frei, Beziehungen zu heilen und neu zu gestalten; frei, ein menschliches Maß zu finden für unseren großen Lebenshunger. Aus dem Weinen über die Sünde (Vers 1) führt Jesus uns in ein Leben, in dem „Gotts Wort helle scheint“(Vers 2) und wir in Liebe zueinander finden.

Sylvia Bukowski, 6. April 2014