Reformiertes Kirchesein: Kontextualität und ökumenische Weite

Drei Fragen an Prof. Dr. Ulrich Körtner, Wien

©Foto: Andreas Olbrich, Reigoldswil

Das Reformationsjubiläum als Anlass zu nehmen, sich auf die guten Gründe für evangelisches Kirchesein zu besinnen, empfiehlt Ulrich Körtner in der aktuellen Ausgabe von zeitzeichen (Juli 2014). Reformiert-info sprach mit dem Autor über Einheit und Pluralismus im Christentum, den Nutzen des Kircheseins und den Beitrag der Reformierten zur konfessionellen Ökumene.

reformiert-info: Die Re­formation habe eine Pluralisierung des abendländischen Christentums hervorgerufen, die es grundsätz­lich zu bejahen gelte, schreiben Sie in der Juli-Ausgabe von zeitzeichen. Pluralität gehöre zu den „Grundei­gentümlichkeiten des christlichen Glau­bens“, und die Kirchen bildeten die „unterschiedliche Inter­pretationsgemeinschaften“. Warum dann festhalten am Streben nach „Einheit“?

Ulrich Körtner: Einheit und Vielfalt bzw. Einheit und Pluralismus bilden keinen Gegensatz. Das Streben nach Einheit ist auch ein urevangelisches Anliegen, und die Trennung der Christen beim Abendmahl bleibt eine offene Wunde, mit der wir uns nicht abfinden dürfen. Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen suchen aber keine Einheit, die auf Uniformität und eine einheitliche, zentralistische Kirchenorganisation wie in der römisch-katholischen Kirchen hinausläuft. Ihr Verständnis von Ökumene lautet: Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Modellhaft dafür ist die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), zu der lutherische, reformierte, unierte, methodistische und sogenannte vorreformatorische Kirchen gehören. Ihr Basistext ist die Leunberger Konkordie aus dem Jahr 1973. Sie erklärt, dass die innerprotestantischen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, z.B. in der Abendmahlslehre, ihre kirchentrennende Bedeutung verloren haben, die unterschiedlichen Konfessionen und ihre Traditionen aber weiterbestehen dürfen.

Ohne Kirche kann der Glaube nicht gedeihen

Was nützt Christen das Kirchesein? Wäre es heutzutage nicht angemessener, die Gemeinschaft von Gläubigen einzuordnen in die Rede von unterschied­lichen Christentümern?

Körtner: Ohne Kirche kann auch der evangelische Glaube nicht gedeihen und weitergetragen werden. Jeder Mensch kann zwar nur für sich als Einzelner glauben, aber der Glaube entsteht aus der zwischenmenschlichen Kommunikation des Evangeliums. Die Kommunikationsgemeinschaft des Evangeliums, das ist die Kirche. Die jüngste Erhebung der EKD zur Kirchenmitgliedschaft zeigt deutlich, dass dort, wo Menschen den Kontakt zur Kirche verlieren, über kurz oder Lang auch die Verbindung zum christlichen Glauben und überhaupt zur Religion verloren geht.

Zwischen Kirche und Christentum oder Christentümern ist durchaus zu unterscheiden. Es stimmt auch theologisch nicht, dass außerhalb der Kirche kein Heil ist. Gott wirkt auch außerhalb der verschiedenen Kirchen und Christentümer. Aber die Botschaft von Jesus Christus als letztgültiger Offenbarung Gottes und Grund des Heils und der Hoffnung für die Welt würde aus der Welt verschwinden, wenn es keine Kirche mehr gäbe. Allerdings sind die empirisch existierenden Kirchen immer wieder kritisch daraufhin zu befragen, ob sie ihrem Auftrag gerecht werden, Institution der Freiheit zu sein, die aus dem Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen kommt.

Kontextualität und ökumenische Weite

Sie bedauern, dass das Thema „Reformation und Kir­che“ oder „Reformation und Ökumene“ in der Lutherdekade ausgespart geblieben ist.
Was könnten speziell die Reformierten zu diesem „Reformationsgedenkenthema“ beitragen? Gibt es einen eigenen reformierten Zugang zur evangelisch-katholischen Ökumene?

Körtner: Die heutige presbyterial-synodale Verfassung evangelischer Kirchen hat ihre Wurzeln im Reformiertentum, bei Calvin, in den reformierten Kirchen in Westeuropa, vor allem in Frankreich, in den südlichen Niederlanden und am Niederrhein sowie in Schottland. Und wenn auch zwischen moderner Demokratie und presbyterial-synodaler Kirchenverfassung einige Unterschiede bestehen, weist doch die die mit dem Priestertum aller Gläubigen begründete presbyterial-synodale Ordnung der evangelischen Kirche eine Affinität zum modernen demokratischen Prinzip auf.

Zum reformierten Erbe gehört ferner die Lehre vom dreifachen oder vierfachen Amt in der Kirche. Auch sie geht auf Calvin zurück. Der Genfer Reformator hat auf biblischer Grundlage argumentiert, dass es in der Kirche nicht nur das Pfarramt geben solle, sondern auch das Presbyteramt, das Amt des Lehrers und last but not least das Amt der Diakonie. Später wurden Pfarramt und Lehramt meist zusammengefasst, wie z.B. in der Emder Kirchenordnung von 1571. Die Ämter bilden aber keine Hierarchie wie in der römisch-katholischen Kirche oder den orthodoxen Kirchen. Die reformierte Tradition lehrt uns jedenfalls, die Vielfalt der Ämter und Geistesgaben in der Kirche zu achten. Das bleibt wichtig, wenn die evangelischen Kirchen nicht reine Pastorenkirchen sein sollen.

Was nun die Ökumene betrifft, so sollte z.B. neben Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin auch an einen Mann wie Martin Bucer, den Reformator von Straßburg erinnert werden. Er war in der Reformationszeit gewissermaßen einer der Ökumeniker der ersten Stunde.

Der spezifische Zugang des Reformiertentums zur Ökumene liegt darin, dass es von Beginn an Kontextualität und somit Vielfalt und ökumenische Weite miteinander zu verbinden wusste. Im übrigen ist es gerade die reformierte Tradition, die davon spricht, dass die im 16. Jahrhundert nach Gottes Wort reformierte Kirche immer wieder neu reformiert werden muss. Ohne diesen Grundsatz sind auch Fortschritte in der Ökumene nicht denkbar.

Vielen Dank für das Gespräch!

Juni/Juli 2014

Buchhinweis:

Ulrich H.J. Körtner,
Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert
(Theologische Studien 1), Zürich 2010