Religionen scheinen die großen Unruhestifter unserer Tage zu sein.
Tatsächlich fallen die Gewaltausbrüche in den Religionen eher ins Auge als die Ansätze zum Frieden und Verständigung.
Das diesjährige Motto der Woche der Brüderlichkeit lädt ein zum „Gehen“. Einen Weg zu gehen – das ist für sich genommen schon viel, denn was wir sehen ist Stillstand, Standpunkte, die man bezieht und verteidigt. Man stellt sich auf ein Fundament und ist nicht bereit, einen Millimeter zu rücken – das nennt man „Fundamentalismus“ – da ist „Gehen“ schon der Anfang der Erlösung.
Religionen haben schon lange keine gute Presse.
Ich spreche heute zu Ihnen als evangelischer Theologe, der mir Judentum und Islam am Herzen liegen wie die ältere Schwester und der jüngere Bruder:
Für Christen heißt Gehen „Nachfolgen“. In diesem Gehen entsteht ein Weg und was für einer!
Christen gehen den Weg in der Nachfolge Jesu Christi und kommen unterwegs dorthin, wo er gegangen ist.
(1) Zuerst: In die Gemeinschaft mit seinem Volk Israel. Alles was er ist, ist gewonnen und empfangen aus diesem Volk: sein hebräischer Name, seine Heilige Schrift, die Worte seines Gebetes (avinu she-ba-shamaim oder abba debishmaija), sein Vertrauen auf den Schöpfer der Welt, seine Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, finde ihn im Gespräch mit den rabbinischen Lehrern seiner Zeit im Einverständnis über den Kern der Gottesgebote und des Bekenntnisses zum einen Gott – Israel ist der Lebens- und Hoffnungsraum, ja der Wahrheitsraum für Jesus, den Christus. Auf dem Weg der Nachfolge werden Jesu Volksgenossen meine Geschwister.
Unter Geschwistern geht es sicher nicht immer ohne Reibungen, aber es ist das gemeinsame Band da und nicht die totale lebensbedrohende Feindschaft.
Und wo dieses Band in unserer Geschichte zerschnitten wurde – wie am furchtbarsten und schrecklichsten in der Zeit zwischen 1933 und 1945 – da sind wir heute in dieser Woche und weit darüber hinaus miteinander auf dem Weg es wieder von neuem zu knüpfen.
(2) Und dann komme ich auf dem Weg der Nachfolge mit IHM an jenen Berg der Seligpreisungen, wo er ausruft: „Selig sind die Friedenstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Oder: „Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden.“
Diesen Weg hat er vorgezeichnet – und eine Kirche, die den Weg der Gewalt geht oder gutheißt, die mit dem Kreuz Christi zu Felde zieht – hat seinen Weg verlassen.
(3) Und dann werde ich auf diesem Weg anderen Menschen guten Willens begegnen, anders Glaubenden, die sprechen gut vom Geistträger aus Nazareth – und dann lesen wir zusammen im Heiligen Kor’an an nicht weniger als 25 Stellen von „Issa“, dem Propheten, gar dem Gesandten Gottes, anerkennend gelobt als "kalima min Allah" (Wort von Gott). Wir finden, dass das Evangelium an zwölf Stellen erwähnt und als "Licht und Rechtleitung" gelobt wird. Sure 19 erzählt die spannende Geburtsgeschichte Jesu aus Maryam nicht im Stall, sondern an einem wundersamen Bach unter einer Dattelpalme in der Wüste.
Da gibt es im Lesen des Kor’an noch so viel zu entdecken!
Z.B. dass der Koran alsbald nach der Geburtsgeschichte Jesus folgende Worte in den Mund legt: „Und Er (Gott) machte mich gesegnet, wo immer ich bin, und befahl mir Gebet und Almosen, solange ich lebe. Und Liebe zu meiner Mutter. Und Er (Gott) hat mich weder gewalttätig noch unheilvoll gemacht. Und Frieden war mit mir am Tage meiner Geburt und wird es am Tage sein, da ich sterbe, und am Tage, da ich zum Leben erweckt werde! (Sure 19,31-33)
Das sind Lichtblicke in den Beziehungen der Religionen zueinander: dass eine Religion in der anderen den Friedenswillen anerkennt.
„Im Gehen entsteht der Weg“ – auch mit dem Frieden ist das so. Im Ausprobieren des Friedens wird Frieden, Schalom, Salam.
(4) „Im Gehen entsteht der Weg“. Diesen Schritt gehe ich noch mit in der Nachfolge und lerne dabei die Solidarität und das Gespür mit den Mittellosen und Schwachen und Bedürftigen dieser Welt. Und dort treffe ich ihn tatsächlich wieder, dem ich nachfolge, denn er hat gesagt:
„Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet.
Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.
Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.
Herr, wann haben wir …?
Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan (Mt 25,35-40).
Dieser Gedanke ist den drei großen Religionen gemeinsam: In der Zuwendung zum Geringen begegnen wir dem, der von sich sagt in den Zeugnissen des Judentums, des Christentums und des Islam: Ich bin Stütze der Armen und Hort für die Schwachen – ich habe den Menschen geschaffen zu meinem Bilde – mir zum Gegenüber.
„Im Gehen entsteht der Weg“ – lasst uns diesen Weg anfangen zu gehen: wenn schon nicht mit einem gemeinsamen Bekenntnis, dann mit einer gemeinsamen Suppenküche für die Mittellosen! Wenn schon nicht mit einem gemeinsamen Gebetbuch, dann mit der gemeinschaftlich ausgestreckten Hand der Solidarität und der Freundschaft mit den Ausgegrenzten und Diffamierten.
Prof. Dr. Klaus Müller, Dialogbeauftragter der Evang. Landeskirche Baden, zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit, Sonntag, 8.3. 2015, 17 Uhr im Kulturhaus Osterfeld in Pforzheim