Ihr sollt leben – jetzt, heute

Von Kathrin Oxen

„Ihr sollt leben, sagt Jesus, heute. Eine Zumutung für unseren Glauben, der sich nirgendwohin fliehen kann und der Gegenwart ausgesetzt bleibt.“

Die Jahreslosung für das kommende Jahr ist ein Wort aus den sogenannten Abschiedsreden des Johannesevangeliums. Wie vor ihm Jakob und Mose wendet sich Jesus vor seinem Tod mit diesen Worten an den engsten Kreis der Menschen, die ihn bisher auf seinem Weg begleitet haben. Nun kommt die Zeit, Abschied zu nehmen. Die letzten Worte sind von Gewicht.

Noch heute klingen die Wendungen, die sich über Todesanzeigen finden, oft wie letzte Worte. „Weinet nicht, ich hab‘ es überwunden“, „Wenn ihr mich sucht, sucht mich in euren Herzen“ und dergleichen mehr. Meist sind sie als letzte Worte wohl unausgesprochen geblieben. Trauernde legen sie gleichsam ihrem Verstorbenen in den Mund und schöpfen damit Kraft zum Weiterleben.

Dieses Abschiedswort Jesu begründet Hoffnung. Ich, sagt Jesus, und ihr auch, weil ihr zu mir gehört und nichts uns trennen kann. Es wäre aber zu wenig, diese Worte nur auf die Hoffnung der Christen angesichts des Todes zu beziehen.

Ihr sollt leben, heißt es, nicht „ihr werdet leben“. Ihr sollt jetzt leben, heute, in der Gegenwart. Nicht rückwärtsgewandt, versunken in der Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit und auch nicht der Hoffnung auf eine Zukunft, in der wir endlich wieder zusammen sein können. „Kein Morgen bringt das Heute uns zurück/Wir haben keine andere Zeit als diese“ (Mascha Kaléko).

Für Trauernde ist gerade das Leben in der Gegenwart die größte Zumutung. Viel anders geht es den Menschen, die Jesus Christus heute nahe sein wollen, auch nicht. Aus den Schwierigkeiten mit der Gegenwart resultieren Verirrungen des christlichen Glaubens, der rückwärtsgewandte Fundamentalismus ebenso wie übersteigerte Erwartungen einer kommenden Endzeit.

Ihr sollt leben, sagt Jesus, heute. Eine Zumutung für unseren Glauben, der sich nirgendwohin fliehen kann und der Gegenwart ausgesetzt bleibt. In den Abschiedsreden des Johannesevangeliums spricht Jesus aber immer wieder davon, dass wir nicht alleine sind. Ich lebe, sagt Jesus, ich bin kein Toter, um den ihr trauern müsst oder dessen Wiederkunft ihr zu fürchten habt. Ihr könnt meine Lebendigkeit spüren, durch den heiligen Geist, der bei euch ist.



Kathrin Oxen