Karfreitagspredigt: Mk 15,22-38

… in Begleitung von Marc Chagalls „Weißer Kreuzigung“.

Chagalls Original kann aus urheberrechtlichen Gründen hier nicht gezeigt werden.

von Fabian Brüder, Vikar in München

Bild ansehen hier

[22 Und sie brachten Jesus an den Ort Golgota, das heißt ‹Schädelstätte›. 23 Und sie gaben ihm Wein, der mit Myrrhe gewürzt war; er aber nahm ihn nicht. 24 Und sie kreuzigten ihn und teilten seine Kleider unter sich, indem sie das Los darüber warfen, wer sich was nehmen dürfe. 25 Es war aber die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. 26 Die Inschrift, die seine Schuld angab, lautete: König der Juden. 27 Mit ihm kreuzigten sie zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken. 29 Diejenigen, die vorübergingen, verwünschten ihn, schüttelten den Kopf und sagten: Der du den Tempel niederreißt und in drei Tagen aufbaust, 30 rette dich selbst und steig herab vom Kreuz! 31 Ebenso spotteten die Hohen Priester untereinander mit den Schriftgelehrten und sagten: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. 32 Der Messias, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben. Und die mit ihm gekreuzigt waren, verhöhnten ihn.] 33 Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 34 Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloi, eloi, lema sabachtani!, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! 35 Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: Hört, er ruft nach Elija! 36 Da lief einer hin, tränkte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken, und er sagte: Lasst nur, wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihn herabnimmt. 37 Da stieß Jesus einen lauten Schrei aus und verschied. 38 Und der Vorhang im Tempel riss entzwei von oben bis unten. 

Es ist bereits Mitternacht als ihr Wagen die Lindwurmstraße[1] erreicht. Sie hatten den Abend in den Münchner Kammerlichtspielen verbracht – eine willkommene Abwechslung zum bedenkenschweren Arbeitsalltag. Ihr Sohn hatte sich erfreulicherweise bereit erklärt, seine Eltern im Anschluss an die Vorstellung zurück nach Hause zu fahren. Dreißig Jahre war er mittlerweile alt und zählte damit genau so viele Jahre wie das Namensschild vor der Wohnungstür der Familie. Nur wenige Stufen bedurfte es, um morgens ihr unmittelbar darunter gelegenes Kleidungsgeschäft aufzuschließen und sich nach Feierabend mit hungrigem Magen wieder am Küchentisch zusammenzufinden.

Als sie sich an jenem Abend dem Schaufenster ihres Geschäftes nähern, stehen mehrere unbekannte Gestalten vor dem Eingang: Irgendjemand musste ihre Abwesenheit dazu genutzt haben, einzubrechen – zumindest schien es, als habe jemand mutwillig wie unverhohlen die Glaswand der Ladenzeile eingeworfen. Er hatte seine Eltern gerade erst aussteigen lassen, als ihn beim Parken des Wagens in der benachbarten Bavariastraße eine dunkle Ahnung überfällt. Noch auf dem Weg zum Hauseingang stellen sich ihm einige der Männer, die er glaubte, zuvor am Hauseingang gesehen zu haben, in den Weg. Ehe er verstehen kann, was geschieht, trifft ihn der erste Schlag in die Magenkuhle. Seine Versuche, sich zu wehren, scheitern an der Übermacht unzähliger Fußtritte und Faustschläge. Erbarmungslos prügeln sie auf ihn ein, beschimpfen und bespucken ihn – bis schließlich ein herbeilaufender Polizist dem Treiben ein Ende setzt. Nach einer Aussage auf dem Polizeirevier bietet sich ihm endlich eine Gelegenheit, seine Eltern anzurufen. Erschöpft wie verängstigt verstärkt das mehrmalige Klingeln am anderen Ende der Leitung seine Ungeduld. Seine Mutter nimmt ab: „Max, Sie haben deinen Vater erschossen.“

Joachim Both, geboren 1876 in einem Dorf im heutigen Polen, sollte das erste Todesopfer der Reichspogromnacht in München werden. Auf Betreiben Goebbels hatte an jenem Abend ein Standartenführer der SA seine Männer bei einer Zusammenkunft dazu aufgefordert, nach Hause zu gehen, Alltagskleidung anzuziehen, um sich dann erneut zu versammeln und gemeinsam gegen jüdische Geschäfte und Einrichtungen vorzugehen. Auf ihrem Rückweg von Zuhause hatten zwei SA-Männer die Schaufenster des Kleidungshändlers Joachim Both mit Steinen eingeworfen – wohl in ungeduldiger Vorfreude auf den Rausch der Gewalt. Nachdem sie daraufhin von Besuchern einer benachbarten Gaststätte verprügelt und verscheucht wurden, kehren sie kurze Zeit später mit zehn Kameraden zum Geschäft des Ehepaars Both in die Lindwurmstraße 185 zurück. Als diese gegen Mitternacht von den Kammerlichtspielen heimkehren und das zerstörte Geschäft sehen, stürzen sich die SA-Männer auf sie und ziehen nach einigen Schlägen Joachim Both hinauf in seine Wohnung. Seiner verletzten Frau kommen beim Betreten der Wohnung die SA-Männer bereits wieder entgegen – ihren Mann findet sie tot im Zimmer ihres Sohnes Max.

In ganz Deutschland brennen in jener Nacht die Synagogen, werden Geschäfte zerstört und jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger schutzlos der Gewalt des Pogroms überlassen – sehr zur Freude der NS-Führungsriege um Hitler, Goebbels und Himmler, die an diesem Abend in München versammelt sind.

Die Nachricht von den Ereignissen dieser Nacht ereilt schließlich auch einen Juden namens Moishe, der knapp 30 Jahre zuvor aus dem russischen Zarenreich nach Paris emigriert war. Geboren als Sohn einer jüdisch-orthodoxen Arbeiterfamilie im heutigen Weißrussland, passt er seinen Namen seiner neuen französischen Heimat an und nennt sich fortan: Marc Chagall. Er malt ein Bild, das später unter dem Titel „Die weiße Kreuzigung“ weltweit Bekanntheit erlangen wird – sie haben es am Eingang ausgeteilt bekommen. In ihm verarbeitet und dokumentiert Chagall die Schrecken jener Novembernacht:

Aus der Synagoge in der rechten, oberen Bildhälfte schießen stichartige Flammen in den schwarzverrauchten Nachthimmel. Ein uniformierter SA-Mann streckt seine Arme nach der Thora-Rolle im Inneren aus. Sein Kopf ist vor tollwütig erregter Begierde nach Gewalt blutrot angelaufen. Noch wenige Schritte, dann wird er die auf Pergament geschriebenen Bücher Mose an sich reißen und genauso auf die Straße werfen wie die anderen Gegenstände, die bereits vor der Synagoge verstreut liegen. Die Thora, deren Verse Gottes Wort an sein Volk in sich tragen, wird in den Schmutz der Straße geworfen: In entwürdigender Weise soll dieses Zeugnis der Zuwendung Gottes zu seinem Volk im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten werden. Auf dem Portal der Synagoge sind unter dem Davidstern zwei Löwen zu erkennen – Symbole der Stärke Judas und Israels. Auch sie werden in dieser Nacht zu Bruch gehen – ebenso wie die über dem Portal angebrachte Darstellung der Tafeln mit den Zehn Geboten, dem in Stein gemeißelten Dokument des unverrückbaren Bundes, den Gott mit Israel am Sinai geschlossen hat. Am Ende der Reichspogromnacht wird dieses sichtbare Zeugnis der Treue Gottes vergraben liegen zwischen Schutt und Asche. 2676 Synagogen werden bis in die Morgenstunden gewissenlos geschändet werden. In 2676 Synagogen wird die barbarische Zerstörungsgewalt das Ewige Licht zum erlöschen bringen, welches Marc Chagall in seinem Bild hinter dem kleinen Seitenfenster der Synagoge noch leuchten lässt. Das Ewige Licht, das an Gottes Gegenwart erinnern, und diese vor aller Augen bezeugen sollte, erstickt unter der sich ungehindert Bahn brechenden Gewalt von Menschenhand.

Im Angesicht der Gottlosigkeit versuchen Menschen in der unteren Bildhälfte, dem Geschehen zu entfliehen: Ein Mann, bekleidet mit einem grünen Kaftan, rennt durch die hell leuchtenden Flammen, die von einer ausgerollten Thora in die Bildmitte stechen. In einem über die Schultern geworfenen Sack hat er nur noch mitnehmen können, was ihm blieb und zu retten war. Unter seinen Füßen drückt eine Mutter verängstigt ihr Kind an die Brust. Schützend hält sie mit ihrer linken Hand das Ohr ihres Kindes bedeckt – so, als versuche sie, das sonst wehrlos ausgelieferte Neugeborene vor dem triumphalen Gejohle der SA-Horden fernzuhalten. Links des Leuchters umklammert ein Mann die ihm heilige Schrift. Sein Mund wie seine Augen sind vor Entsetzen über das Geschehen weit aufgerissen. In Fassungslosigkeit erstarrt, scheint ihn der Schrecken über die Eskalation der Gewalt derart überwältigt zu haben, dass er nicht einmal mehr Schuhwerk anlegen wollte oder gar konnte. Vor ihm steht ein Herr, dessen nach obenhin geöffneten Handflächen die Hilflosigkeit und Ratlosigkeit erahnen lassen, die Jüdinnen und Juden in jener Nacht überfiel. Der wie ein Schild wirkende weiße Stoff auf seiner Brust trug einst die Aufschrift „Ich bin ein Jude“ – ein Satz, den Marc Chagall später wegretuschieren sollte. Es war das Attentat eines Juden auf einen deutschen Botschaftsmitarbeiter in Paris, der Goebbels die Grundlage dafür bot, in seiner Rede am Abend des 8. November im Alten Rathaus einmal mehr alle Jüdinnen und Juden der Verschwörung gegen das deutsche Volk zu bezichtigen. Nicht wegen eines konkreten Vergehens, sondern einfach nur wegen ihres jüdischen Glaubens oder Abstammung sollten sie in jener Nacht dem Unmut der Bevölkerung über wirtschaftliche Miseren und soziale Spannungen überlassen werden. Nur wer in ideologischem Starrsinn(!) die Schuld bei seinem Gegenüber sucht, begibt sich in die Verfassung, den ersten Stein zu werfen – in dieser Nacht waren es tausende.

Auf dem über den Männern gemalten Boot reißen Flüchtlinge in der Hoffnung auf Hilfe ihre Arme empor. Andere hängen mit ihrem Oberkörper bereits erschöpft über dem Bug des völlig überfüllten Kahns. Ein Zuflucht schenkender Hafen ist auf dem Bild nicht in Sicht. Vielleicht sind sie aus dem Dorf geflohen, das über ihnen in Flammen aufgeht und dessen Häuser wie Pappschachteln durch die Luft wirbeln. Dass Jüdinnen und Juden nicht nur in Deutschland, sondern auch in Osteuropa keine Sicherheit vor Verfolgung mehr finden konnten, deutet die Menschenmenge an, die mit roten Fahnen brandschatzend über das Dorf hereinbricht.

Über dem Kreuz klagen die Erzeltern über das Leid, dass sich vor ihren Augen abspielt. Der Himmel, in dem sie über dem Geschehen schweben, hat sich verfinstert. Chagall verbildlicht mit der Darstellung der biblischen Gestalten einen Vers aus dem Buch des Propheten Jeremia, in dem es heißt: „Rahel weint um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn da sind keine mehr.“[2] Die Ereignisse, die Chagall in seinem Bild verarbeitet, sind in ihrer menschenverachtenden Brutalität und gottverachtenden Versessenheit nach Macht, derart verstörend, dass jedes Wort des Trostes seiner eigenen Ohnmacht Gewahr wird: „Rahel weint um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen.“ Dort, wo Gottes Gegenwart durch Menschenhand ans Kreuz geschlagen wird, und nicht länger zu erkennen und wahrzunehmen ist, bleibt manchmal nur noch dieser eine Satz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Manch christliche Theologen haben Marc Chagall vorgeworfen, er verstünde nicht, welche Bedeutung der Kreuzestod Jesu habe. Er vergesse, dass Jesu Tod am Kreuz ein Sieg über die Sünden der Menschheit sei. Ich denke, dass Marc Chagall mit seinem Bild gerade an das zu erinnern vermag, was allerlei christliche Deutungen des Kreuzesgeschehens in Vergessenheit geraten ließen: Die Wirkung, die jenes Ereignis auf diejenigen hatte, die wie Maria auf Golgotha den Tod ihres Sohnes mit ansehen mussten: Chagalls Bild zieht zurück in die Fassungslosigkeit über das Leid eines Unschuldigen, in die Sprachlosigkeit über das, was Menschen anderen Menschen zufügen können; es zieht zurück in die Erfahrung der Ohnmacht des Lebens angesichts der Übermacht des Todes. Viel zu voreilig scheinen mir die unzähligen Versuche, in Jesu Tod einen Sinn zu sehen – etwa den, dass er für uns gestorben sei.

Die ersten Versuche, in Jesu Tod einen Sinn zu suchen, stammen aussagekräftiger Weise von Menschen, die keine Augenzeugen seiner letzten Atemzüge waren. Ihnen steht der Tod als ein abstraktes, in seinem Bedeutungsgehalt zu entschlüsselndes Ereignis vor Augen. In dem Versuch, Jesu Tod als den Sieg Gottes über die Macht der Sünde zu deuten, verlieren sie ihn fast aus dem Blick: den sich immer vergeblicher aufbäumenden Oberkörper; seine rastlos kreisenden Augen, die auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit die Orientierung verlieren; seinen im Stich der Mittagshitze von der Stirn rinnenden, blutgesättigten Schweiß. Was Maria in jener Stunde miterleben muss, fühlt sich nicht an wie die Erlösung der Menschheit von Schuld und Sünde, sondern ist ein einziger, unfassbarer Schmerz, ein Gefühl auswegloser Ohnmacht. Jesus selbst spricht aus, was sie am ehesten gefühlt haben mag: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Diese Worte stammen aus Psalm 22, in dem ein Mensch mit drastischen Bildern körperlichen Leids Gott seine Hilflosigkeit klagt. Jesu letzte Worte am Kreuz – sie waren einst die Worte eines Beters, die dieser über 700 Jahre vor Jesu Geburt aufgeschrieben und zu einem Psalm zusammengefügt hatte. Er wusste, dass er mit seinem Psalm einen Raum aus Worten schaffen würde, in den sich Menschen zurückziehen könnten, wenn sie sich eines Tages ebenso von ihrem Gott im Stich gelassen fühlten. Mir scheint, dass nahezu jeder Psalm einem solchen Raum aus Worten gleicht. Manche von uns nehmen immer wieder Zuflucht in diese Räume, einige sind in ihnen aufgewachsen, andere vielleicht auch erst später in sie eingezogen. Jesus gehörte zu denjenigen, die in jenem Haus der Psalmen beheimatet waren, da er sie als Jude Tag ein Tag aus betete – und so malt Chagall ihm, dem Gekreuzigten, einen jüdischen Gebetsschal um die Lenden.

Diejenigen, für die Markus seine Erzählung von der Kreuzigung Jesu schreibt, wissen, dass Jesus, indem er mit der Frage „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ einen einzigen Vers aus jenem Psalm spricht, den ganzen Psalm zu Gehör bringen will: „Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du antwortest nicht, bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe. […] Ich bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, verspotten mich, verziehen den Mund und schütteln den Kopf. […] Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und es fallen auseinander meine Gebeine. Wie Wachs ist mein Herz, zerflossen in meiner Brust. Trocken wie eine Scherbe ist meine Kehle, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, in den Staub des Todes legst du mich. […] Zählen kann ich alle meine Knochen. Sie aber schauen zu, weiden sich an mir. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“[3] In den Kontext dieser Worte stellt Jesus sein Leid. Er klagt – und unterdrückt Gott gegenüber weder seinen Schmerz noch sein Unverständnis. Wie zweifelhaft klingt demgegenüber folgender Vers aus einem Lied unseres Gesangbuches: „Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach? Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit.“

Sicher, es gibt Zeiten, da entzieht Klagen wertvolle Kräfte, die wir für das Leben wie Überleben unverzichtbar benötigen. Doch was macht es mit einer Gesellschaft, wenn der Klage über Leid und Unrecht das Rederecht entzogen wird? Oder wenn jedes noch so zaghaft aufleuchtende Licht der Klage überstrahlt wird vom trüglich schimmernden Glanz erfreulicher wie vielversprechender Parallelentwicklungen? Was geschieht mit einer Gesellschaft, die zuhauf mit der Illusion konfrontiert wird, sie befinde sich auf einem Weg ungebrochenen Fortschritts – indem aus dem Sichtfeld verbannt wird, was die Begrenztheit menschlichen Vermögens vor Augen führt; und uns bewusst werden lässt, wie anfällig unsere Gesellschaft für die Wiederholung der immer gleichen Fehler ist.  

Wie ungemein wohltuend dringt der besänftigende Duft so mancher Rede von blühenden Landschaften in unser Bewusstsein. In diese Landschaften reißen die Klageworte des Karfreitags einen breiten, kargen Krater. Wenn man auf seine steinigen Hänge blickt, wagt man nicht daran zu glauben, in ihnen könnte jemals eine Saat des Trostes oder der Hoffnung aufkeimen. Der Tag, an dem wir des Todes Jesu gedenken, vertröstet nicht mit der Hoffnung, von Not und Schmerz befreit zu werden – denn der ans Kreuz Geschlagene durchlebt die Ohnmacht. Karfreitag schneidet unserer Klage auch nicht das Wort mit voreiligem Trost ab – denn Gott weiß, dass es Zeiten gibt, in denen Menschen derart der Boden unter den Füßen entzogen wird, dass kein Trost mehr vor Anker gehen kann. Es gibt Situationen, denen wir uns schlichtweg machtlos ausgeliefert fühlen; die uns fest umschlungen halten und uns die Luft zum Atmen nehmen. Ein Reigen der immer gleichen Gedanken und Gefühle zieht an uns vorbei und umzingelt uns wie ein Spiegelkabinett, das keinen Ausweg bereitzuhalten scheint.

Doch indem wir eben solche Bilder für unsere Hilflosigkeit finden – und entwerfen! –, tritt sie uns plötzlich vor Augen. Das, was in uns vorgeht, steht in einem solchen Bild auf einmal vor uns – geradezu greifbar und sichtbar. Das, was wir in uns tragen, überträgt sich in ein Bild oder einen Text, ein Musikstück oder ein Ritual. Durch sie dringt das Innere nach außen. In ihnen bekommt der Wust der Gedanken und Gefühle eine Gestalt. Karfreitag gibt Raum für die Suche nach Gedichten, nach Liedern und Traditionen, mit denen wir unserer Klage Ausdruck verleihen können – oder in denen wir unsere Klage bereits ausgedrückt finden; Texte und Klänge, die zu einem Ventil dessen werden, was wir bislang bewusst oder unbewusst zu unterdrücken suchten. Manch einem eröffnet die Suche nach solchen Ausdrucksformen der Klage Schritt für Schritt  einen Weg durch das Tal der Gottverlassenheit.

Marc Chagall gelingt es, Pinselstrich um Pinselstrich, seine Fassungslosigkeit und Ängste sichtbar zu machen. Sie bekommen Farben, Konturen und Gesichter. Und wenn man genau hinschaut, erkennt man sogar, dass Chagall die einzelnen Szenen zu einem Bilderkranz um das Kreuz anordnet. Ein Bilderkranz, der einer Dornenkrone gleicht. Wie Dornen graben sich die Ereignisse der Reichspogromnacht in die Erlebenswelt von Marc Chagall ein. Sie setzen in ihm einen Schmerz frei, der den jüdischen Maler dieselbe Klage anstimmen lässt, die Jesus im Augenblick seines Todes in den Himmel schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Amen.


[1] In einem Seitenarm der Lindwurmstraße liegt die Evangelisch-reformierte Gemeinde München I.

[2] Jer 31,15

[3] Psalm 22,3.7.15-19

[4] Mk 14,72