'Ein Weckruf angesichts riesiger Probleme'

Christian Wolff im Interview zum Memorandum 'Reformation in der Krise'


Logo des Memorandums (Ausschnitt)

Mit ihrer kritischen Bilanz zum Reformationsjubiläum 2017 sorgten Christian Wolff und Friedrich Schorlemmer für Diskussionen. Im Interview spricht Wolff von einer 'katastrophalen Situation' der Gemeinden in Deutschland. Warum es einen 'selbstkritischen Blick auf die Wirklichkeit' brauche:

reformiert-info.de: In Ihrem Memorandum beschreiben Sie eine „Reformation in der Krise“: 500 Jahre nach der Reformation müsse sich die Kirche fragen, ob sie ihrem Auftrag noch gerecht wird. Ist dieser Vergleich mit der historischen Reformationszeit nicht etwas zu hoch gegriffen?

Christian Wolff: Reformation findet in Krisensituationen statt. Und hier zeigen sich durchaus Parallelen. Was wir damals wie heute vorfinden ist ein Traditionsabbruch: In der Reformationszeit wurden wesentliche Inhalte des Glaubens den Menschen vorenthalten. Heute sind biblische Glaubensinhalte in breiten Bevölkerungsschichten nicht (mehr) präsent. Auch heute befinden sich die Kirchen in einer krisenhaften Situation. Das sieht man an der personellen und inhaltlichen Auszehrung vieler Kirchengemeinden. Gemeinden werden zusammengelegt. Die personale Präsens verkümmert. Noch einschneidender ist der Verlust an in der biblischen Botschaft verankerten Grundwerten.

Welche Grundwerte sind hier gemeint?

Es geht nicht so sehr um einzelne Grundwerte, als vielmehr um die Anknüpfungspunkte, um Grundwerte wie Barmherzigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben, Gewaltlosigkeit abzuleiten. Der Philosoph Wilhelm Schmid hat darauf hingewiesen, dass Moderne bedeutet, sich von Religion, Tradition und Konvention zu verabschieden. Damit aber ist ein Vakuum entstanden, und die Frage muss beantwortet werden: Was machen wir dann? Bleibt mehr übrig als nur noch das eigene Ich? Mit der Wertschätzung und Achtung des Individuums meinten die Reformatoren aber etwas anderes als Egomanie.

Nämlich? Spricht es denn gegen reformatorische Grundwerte, dem „Ich“ und der individuellen Vielfalt Raum zu geben?

Nein. Es spricht auch nichts gegen Vielfalt. Aber das Ich benötigt ein Gegenüber. Dieses Gegenüber, Gott, befreit den Menschen von dem Druck, sich selbst behaupten zu müssen und dabei notfalls über Leichen zu gehen. Das führt dazu, dass der Mensch ein Bewusstsein seiner selbst erlangt und den Nächsten im Blick hat, dass er um seine Würde aber auch um seine Unzulänglichkeit weiß. Diese Sichtweise ist nur möglich, wenn ich gleichzeitig Vielfalt befürworte und ermögliche. Denn niemand ist so, wie ich selbst bin – ist vor Gott aber ebenso gerechtfertigt. Wenn man ehrlich ist: Die Reformatoren haben diese Vielfalt in den Anfängen befürwortet und für sich selbst eingeklagt. Später aber haben sie diese wieder einkassiert – was zu verheerenden Folgen führte. Heute müssen wir lernen: Vielfalt und klare eigene Glaubensüberzeugungen schließen einander nicht aus. Das eine bedingt das andere. Anders ausgedrückt: In einer multireligiösen Gesellschaft kann ich nur dann bestehen, wenn ich meine eigene Identität kenne und weiß, wo mein geistliches Zuhause ist.

Viele fühlen sich in der Kirche offenbar nicht mehr zugehörig. Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, viele Menschen treten aus. Woran liegt das?

Kirchenaustritte sind zunächst nichts Neues. In der Geschichte gab es seit Beginn der bürgerlichen Revolution und Säkularisierung immer wieder beschleunigende Momente: Arbeiterbewegung, Nationalsozialismus und DDR-Zeit. In einer Stadt wie Leipzig ist die Situation deshalb extrem: Rund 80 Prozent der Bewohner gehören keiner Religionsgemeinschaft an und haben deshalb keinen Bezug zur Kirche und den Glaubensinhalten. Ich frage mich weniger, warum die Menschen austreten. Sondern: Was können wir tun, damit die, die jetzt (noch) dazugehören, bleiben und die, die (noch) nicht dabei sind, sich der Kirche (wieder) zuwenden? Das bedeutet, wir müssen mit unseren Pfunden wuchern, unsere Alleinstellungsmerkmale pflegen und auf die Menschen zugehen. Das Reformationsjubiläum ist eigentlich Anlass genug, das inhaltliche Profil der Kirche zu schärfen.

Zum Beispiel?

Da wäre beispielsweise die Art und Weise, wie das Reformationsjubiläum angegangen wurde: als ein Christusfest der Ökumene, mit einem Riesen-Kirchentag. Das klang erst einmal toll. Die Realität sieht anders aus: Die Situation der Gemeinden in Ostdeutschland ist katastrophal. Wir haben einen Notstand an Mitarbeitern. Beim Nachwuchses sieht es überhaupt düster aus. Davon war bei den Feierlichkeiten wenig zu spüren.

Was hätten Sie sich vom Reformationsjubiläum gewünscht?

Einen selbstkritischen Blick auf die Wirklichkeit. Mein Eindruck ist, dass die Kirche sich inzwischen zu sehr ausruht auf ihrer immer noch starken gesellschaftlichen Rolle und ihre eigenen Probleme verdrängt. „Reformation heißt, die Welt zu hinterfragen“, so lautete das Motto des Reformationssommers in Wittenberg. Leider wurde die Kirche selbst wenig hinterfragt. Gehört sie etwa nicht zur Welt? Reformation heißt vor allem, sich der Krise zu stellen und den Ruf der Reformatoren aufzugreifen: ad fontes, und damit zurück zu den Quellen zu gehen. Nehmen wir den Abschlussgottesdienst des Kirchentages auf den Elbwiesen vor der Stadtsilhouette Wittenbergs. Das wäre eine Gelegenheit gewesen, die Tradition der lutherischen Deutschen Messe in das Heute zu übertragen. Aber statt auch nur eines Chorals aus Reformationszeiten oder eines Taktes aus der reformatorischen Musiktradition, hörten wir den immer gleichen Kirchentagssound. Dem Gottesdienst fehlte so jede Tiefe, Begeisterung und Feierlichkeit.

Die Vorwürfe stießen bei mehreren Vertretern der evangelischen Kirchen auf Kritik. Reformationsbotschafterin Margot Käßmann sagte im Interview mit dem MDR, sie sehe „keine tiefe strukturelle oder inhaltliche Krise der Kirche“. Welche Reaktionen erhielten Sie aus den Gemeinden bislang?

Mit unserem Memorandum wollen wir nicht als Besserwisser auftreten. Wir weisen auf Schwachstellen der aktuellen Lage hin, weil wir selbst ein davon Teil sind. Die Thesen sind als Anregung zur Diskussionen in den Gemeinden gedacht. Dass Margot Käßmann keine strukturelle oder inhaltliche Krise sieht, lasse ich einmal unkommentiert. Aus vielen Gemeinden erhielten wir positive Reaktionen. Die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands plant unser Memorandum in die neueste Ausgabe ihrer Mitarbieterzeitschrift beizulegen. Die Reformierte Kirche in Frankreich hat um Genehmigung zur Übersetzung ins Französische gebeten. Beim Kirchentag in Straßburg soll der Text ebenfalls diskutiert werden. Der katholische Propst von Leipzig sagte: Tolles Memorandum. Es ist fast 1 zu 1 auf die katholische Kirche anzuwenden. Deswegen hat er es im Pfarrkonvent verteilt. Aber wie gesagt: Was wir geschrieben haben, ist keine Resolution, schon gar kein Bekenntnis. Es ist ein Weckruf angesichts riesiger Probleme.

Das Reformationsjubiläum endet in wenigen Wochen. Sehen Sie für die Zeit danach noch Chancen zur Diskussion Ihrer Thesen?

Ich hoffe natürlich, dass auch nach dem 31. Oktober über diese Fragen weiter reflektiert wird. Die Probleme bleiben bestehen. Inhaltslose Strukturreformen bringen nichts. Vor jeder wie auch immer gearteten Veränderung muss jede Kirchgemeinde die Frage beantworten können: Warum muss es uns in diesem Stadtteil oder Ort geben? Wenn sie das nicht beantworten kann, dann hat sie dort keinen Platz. Das setzt aber Kommunikation auf Augenhöhe voraus. Verordnungen von oben haben da keinen Platz.

Können die Gemeinden denn diese Aufgabe bewältigen?

Grundsätzlich: Ja. Aber das setzt auch voraus, dass diejenigen, die hauptberuflich zur Führung einer Gemeinde eingesetzt sind, die Pfarrerinnen und Pfarrer, sich inhaltlich dieser Aufgabe stellen. Wir, die Pfarrer/innen, tragen ein hohes Maß an Verantwortung dafür, dass offene Kommunikation und theologische Fundierung in den Gemeinden stattfindet, dass also Glaube und Bildung zusammengehören. Bei Führung geht es nicht um einen einstimmigen Gesang. Vielmehr gilt es die Mehrstimmigkeit zuzulassen und zu gestalten – und daran auch die Lust zu verspüren, die Luther dem mehrstimmig gesungenen Choral abgewinnen konnte. Irgendwann sollte es dann in jeder Gemeinde zu einem Schlussakkord kommen – aber immer in dem Bewusstsein: es geht mehrstimmig weiter. In diesem Sinn ist die Reformation längst nicht abgeschlossen.


Das Interview führte Isabel Metzger

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