Gelegentlich führt Schmerz zur Besinnung

Predigt zum Volkstrauertag über Mt 5,10f. in Verbindung mit dem Bild „Tranchée des Baionnettes – Graben der Bajonette“ von Uwe Appold aus dem Bilderzyklus 14/18


„Tranchée des Baionnettes – Graben der Bajonette“ von Uwe Appold aus dem Bilderzyklus 14/18 (Ausschnitt)

Gehalten in der Ev.-ref. Christuskirche Detmold am 13. November 2016 von Matthias Freudenberg

„Meine Bilder lege ich in gemeinsame europäische Wunden. Gelegentlich führt Schmerz zur Besinnung.“

Diese Sätze, liebe Gemeinde, hat der Künstler Uwe Appold geschrieben, dem wir den Bilderzyklus 14/18 und das Bild verdanken, das in der Detmolder Christuskirche ausgestellt ist. „Gelegentlich führt Schmerz zur Besinnung.“ Ja, um Besinnung geht es, wenn wir heute, am Volkstrauertag, unsere Gedanken in besonderer Weise auf das Grauen lenken, das vor 100 Jahren Europa und die Welt erschüttert hat. Aber all der notwendigen Besinnung auf das Geschehen des 1. Weltkriegs geht noch eine andere Besinnung voraus, die uns den Horizont zeichnet, in dem wir Christinnen und Christen alles Erschreckende auf Erden sehen können. Es ist der Horizont des Evangeliums, in dem wir das, was auf Erden geschieht, betrachten. Jesus lässt seine Seligpreisungen in die Verse einmünden: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen.“

Eine erste Besinnung. Die Seligpreisungen sind die Botschaft von dem freundlichen Antlitz Gottes. Er schaut freundlich auf die Armen im Geist, auf die Leidenden und Traurigen, auf die Ohnmächtigen und Schwachen, auf die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, auf die Barmherzigen, auf die Aufrichtigen, auf die, die nach Frieden suchen, auf die, die um einer gerechten Sache willen geschmäht und verfolgt werden. Gott sucht gerade sie. In die Mitte werden sie gestellt: Seht sie an! Sie sind es, denen Gottes freundliches Antlitz gilt. Sie haben Ansehen bei ihm. In seinem Sohn Jesus Christus hat er sie für sich entdeckt – diese Menschen am Rande, die mit der Welt, so wie sie ist, nicht zurechtkommen, arm in ihrem Kampf ums Leben und Überleben, immer wieder zurückgeworfen mit ihren Hoffnungen, mit ihren Ideen für eine gerechtere, friedlichere Welt, nicht ernst genommen, ausgelacht, verstoßen. In Jesus Christus hat Gott sie für sich entdeckt. Er hat sie in seine Gemeinschaft aufgenommen.

Es ist nicht einfach nur das Lied der kleinen Leute, das Jesus hier singt – derer, die in Hütten wohnen, in Lagern, in Ghettos, in den Townships. Es sind die Nachdenklichen, die sich in allen Völkern finden, jene, die nicht der Eigengesetzlichkeit dieser Welt in den Kriegen und im Kampf ums nackte Überleben folgen. Sie suchen erfülltes Leben jenseits aller Erfahrungen, weil sie sich als Menschen vor Gott begreifen und seinem Sohn nachfolgen. Darum werden sie Gottes Kinder genannt, zu ihm gehörig – seine Familie.

Zu ihnen spricht Jesus das erlösende Wort. Es drängt sie nicht an den Rand, sondern es bestätigt sie: „Selig seid ihr!“ Gott hat euch gesucht und gefunden! Der Himmel steht euch offen! Alte Verheißungen werden sich an euch erfüllen: die von dem Land, in das Gott sein Volk führen und in dem es zur Ruhe kommen wird; und die vom Himmel, der sich öffnen wird über denen, die diese Worte hören: „Selig seid ihr!“ Euer Hunger wird gestillt, euer Durst gelöscht, und ihr werdet Barmherzigkeit finden. Ihr werdet Gott schauen, und seine Freude wird euch umfangen. Was für ein Leben im Kraftfeld von Jesu Gegenwart, von seinem Kreuz und seiner Auferstehung! Ein Leben, in dem das Scheitern überwunden wird und sie hinausgeführt werden in eine Zukunft, die Gott ihnen aufschließt.

„Selig seid ihr!“: Das predigt Jesus solchen Menschen, denen das glatte Gegenteil von Glück und Seligkeit widerfährt: den Verfolgten, denen, die in Angst und Schrecken vor Krieg, Gewaltherrschaft und Terror leben, denen, die mitten in Konflikten für Gerechtigkeit eintreten und deshalb geschmäht und verfolgt werden.

Eine zweite Besinnung. Das glatte Gegenteil von Glück und Seligkeit haben Menschen vor 100 Jahren im 1. Weltkrieg erfahren: Soldaten weit draußen auf den Schlachtfeldern wie denen bei Verdun, aber auch die Zivilbevölkerung in den am Krieg beteiligten Ländern. Unendliches Elend hat der Krieg in seiner Erstreckung von 1914 bis 1918 hervorgebracht. Jahrhunderte zuvor hat Johannes Calvin das Unrecht des Krieges einmal so formuliert: „Ein Krieg kann nicht anders geschehen als dass man jedes Recht vergisst und es kein Recht mehr gibt, dass die Menschen zu wütenden Tieren werden.“

Der Krieg hat seine ganze Unseligkeit in die Bevölkerung und in die Familien hineingetragen. Wo es ein Überleben gab, hat der Krieg ganze Lebensläufe umgeschrieben. Auch in meiner Familie war das so. Mein Großvater, den ich nicht mehr kennengelernt habe, wurde 1914 sofort zum Militärdienst eingezogen und kam bald an die Westfront. Wenige Tage vor Kriegsende im November 1918 wurde er schwer am Bein verwundet. Eine Verwundung, die sein Leben und das der Familie verändert hat. Drei Jahre Lazarett. Eigentlich sollte er als ältester Sohn die kleine Landwirtschaft weiterführen. Aber das ging nun nicht mehr. Die beruflichen Pläne waren auf den Kopf gestellt, und die schmerzhaften Nachwirkungen des Kriegs begleiteten ihn ein Leben lang. So oder ähnlich oder anders schreibt sich der Krieg in die Biographien von Menschen und Familien ein und hat Langzeitwirkungen.

Dass vom Schmerz des Krieges Besinnung ausgehen kann, das war für Uwe Appold wohl der entscheidende Anstoß für seinen Bilderzyklus 14/18. Sein Thema ist die Schlacht um Verdun – jenes grauenhafte Gemetzel zwischen Februar und Dezember 1916.
Das hier ausgestellte Bild trägt den Titel „Tranchée des Baionnettes – Graben der Bajonette“. Es erinnert an einen Schützengraben, in dem im Juni 1916 französische Soldaten durch Artilleriebeschuss zu Tode kamen. Nach einer Version wurden sie lebendig begraben. Ihre Gewehre mit den aufgesetzten Stichwaffen – den Bajonetten – ragten aus dem zugeschütteten Graben hervor. Oder war es anders, dass sie schon zuvor gefallen waren und von den Deutschen bestattet wurden, wobei die Bajonette ihrem Grab als Kreuze dienten? Wie auch immer: Das Bild, für das zu Matsch gewordene Erde aus dem Graben verwendet wurde, lenkt den Blick auf ein Individuum, auf die Not eines einzelnen französischen Soldaten, verschüttet und begraben in seinem blauen Mantel. Umgehängt eine kleine Tasche. Links neben ihm eine Platte als Schild, das ihm keinen Schutz mehr gab. Am oberen Bildrand leuchtet in dem ansonsten dunklen Bild eine grelle Explosion auf. Oder ist es mehr als eine Explosion: die Explosion einer hellen Hoffnung, dass es jenseits des Krieges wieder Leben gibt? Wer das Bild anschaut, dessen Augen werden nach unten, in den Graben, der zum Grab wurde, gezogen. Eine Anspielung auf jene Grablege auf Golgatha? So blicken wir in das Bild hinein und aus ihm wieder hinaus in die Situationen unseres Lebens und das der Welt unserer Tage.

Eine dritte Besinnung. Jesus preist Menschen trotz allem, was sie an Krieg, Unrecht und Verfolgung erleiden, selig: „Selig sind, die um ihrer Gerechtigkeit willen verfolgt werden.“ Leid, Unrecht und Verfolgung zu verherrlichen, gar das Geschehen des Krieges zu verklären, ist uns vollkommen fremd. Das Bild vom Graben der Bajonette vor Augen klingt die letzte Seligpreisung wie eine Zumutung. Was für einen Sinn hat es, Menschen, die leiden und verfolgt werden, selig oder auch nur glücklich zu preisen? Jesus provoziert. Was haben Leid und Verfolgung mit Glück oder Seligkeit zu tun? Die Seligpreisung wirft mehr Fragen auf als sie Antworten gibt.

Wir müssen genau lesen. Es heißt ja: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.“ Seligkeit hat nicht einfach etwas mit „wohlfühlen“ zu tun. Seligkeit umfasst auch die dunklen Seiten des Lebens. Jesus ist von einem realistischen Weltbild geprägt. Er klammert die finsteren Täler unserer menschlichen Existenz nicht aus. Er durchleuchtet sie vielmehr mit seinem Licht. Er nimmt Leid, Verfolgung und Schmähung ernst. Aber er lässt Menschen dabei nicht einfach stehen. Er hebt sie aus solchen Situationen heraus. Er betrachtet die Welt mit all ihren Abgründen und Schatten in einem neuen Licht.

Wen meint Jesus, wenn er sagt: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden?“ Nach unserem heutigen Verständnis ist der, der um der Gerechtigkeit willen verfolgt wird, jemand, der sich für eine gerechtere Ordnung, für Frieden in unserer Welt einsetzt. Gerecht ist, wer sich engagiert für unterdrückte Menschen, für die gleichen Rechte von Männern und Frauen, für die Rechte von ethnischen und religiösen Minderheiten, für geflüchtete Menschen. Gerecht ist, wer sich um eine gerechtere Verteilung der Güter unserer Welt bemüht. Gerecht ist, wer der Natur ihre Rechte lässt. Gerechtigkeit hat viele Facetten.

Und doch meint Jesus wohl noch etwas anderes, wenn er von denen spricht, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Ihm geht es um die Menschen, die Gottes Geboten und Weisungen entsprechend leben. Wenn Jesus die selig preist, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, dann sind das insbesondere die, die zu ihrem Handeln vor und für Gott stehen. Ich denke an die wenigen noch verbliebenen Christen im Nahen Osten, besonders in Syrien und im Irak. Sie halten fest an dem, was sie für recht und billig halten, für Gerechtigkeit vor Gott und den Menschen. Und sie sind dabei oft die größten Opfer von Hass und Gewalt, aufgerieben zwischen den Bürgerkriegsparteien.

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden – weil sie anders denken und leben als ihre Umwelt, weil sie Liebe predigen anstatt Hass, weil sie versuchen, auch in allem Bösen noch Gutes zu tun, weil sie an ihrem Glauben und ihrer Einstellung zum Leben festhalten. Wenn wir in unsere Gesellschaft blicken, legt sich nahe, dass „Gerechte“ es auch hier nicht immer leicht haben. Wer zu einem Leben in Verantwortung vor Gott und den Menschen steht, der kann in Frage gestellt, ja sogar angefeindet werden. In einer Zeit, in der Menschen einander und vor allem Minderheiten ungeniert in ihrer Würde herabsetzen, braucht es solche, die sich um Recht und Gerechtigkeit bemühen. Darum: Selig, wer auch hier und heute zu dem steht, was für ihn oder sie den Weg zum Leben ausmacht!

Jesus füllt die Gerechtigkeit mit Inhalt. Wer sein Leben an Gottes Geboten orientiert, der orientiert sich an der Gerechtigkeit Gottes. Manchmal läuft sie unserer menschlichen Logik, die oft nach dem Prinzip von Stärke, Überlegenheit und Macht verfährt, zuwider. Gottes Gerechtigkeit hat die Barmherzigkeit und das Mitgefühl an der Seite.

Schließlich noch eine vierte Besinnung. Eine Frage steht noch aus: Warum sind die, die ihren Weg konsequent gehen, glücklich oder gar selig? Warum gehört ihnen das Himmelreich? Verfolgung, Hass und Gewalt, aber auch Verachtung, Infragestellung und Ausgrenzung fühlen sich doch alles andere als gut an. Jesus spricht seine Seligpreisungen gegen alle Fakten. Er verbindet die leidvollen Erfahrungen mit einer vollkommen anderen Sicht. Er macht deutlich, dass der, der zu seinem Weg steht, gehalten und begleitet ist. Gott ist bei ihnen, auch wenn sie allein dastehen. Erfüllung findet man auch darin, einfach nur ja sagen zu können zu dem, was man tut. Selig ist, wer sein Gewissen nicht preisgibt, wer zu dem steht, was ihm und ihr wichtig ist, denn sie werden eine innere Bestätigung finden. Es gibt bei Gott nicht nur eine tiefere Art von Gerechtigkeit. Es gibt auch ein tieferes Glück – ein Glück, dass nicht auf Applaus und Zustimmung aufbaut. Allen, die sich darum bemühen, Gott und seinen Geboten entsprechend zu leben, spricht Jesus zu: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich.“

Liebe Gemeinde, Jesu Seligpreisungen pflanzen den Gedanken des Himmelreichs in unsere aufgewühlte Gegenwart ein. Jesus stellt unseren Sichtweisen den Blickwinkel Gottes und die Sichtweise des Himmels gegenüber. Und zeigt, wie verantwortlich Gesinnung sein kann. Sind der Hunger und der Durst nach Gerechtigkeit nur der Traum der um Ansehen und Würde Gebrachten? Oder gehört es nicht überhaupt zu den Motiven eines verantwortlichen Lebens, das Schreien von Menschen nach Gerechtigkeit zu hören und Gerechtigkeit für sie zu wollen? Dass die Starken Hunger und Durst haben nach Gerechtigkeit für die anderen! In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2016 hat die Publizistin Carolin Emcke gesagt: „Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. […] Wir können immer wieder anfangen. Was es dazu braucht? Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut, und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern.“

Ich bin mir sicher, dass der Glaube derer, die Jesus nachfolgen, das Gesicht dieser Erde verändern wird: hin zu mehr Frieden und Gerechtigkeit. Als Christen leben wir auf der Schwelle von Erde und Himmel und suchen für die Menschen in der Ferne, für die Menschen in unserem Land und für die Menschen in unserer Stadt das Beste.

Amen.


Matthias Freudenberg

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