Ökumenisch kann nur sein, wer konfessionell ist

Was bedeutet


Dr. Friedrich Weber, Landesbischof der Lutherischen Kirche in Braunschweig, stammt aus einer reformierten Gemeinde in Hessen-Nassau. ©️Pressefoto

Der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Braunschweig Dr. Friedrich Weber plädiert für eine Stärkung der Konfessionen um des gesamtevangelischen Profils willen.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!

Vorbemerkungen

Wenn ich als Titel für diesen Vortrag ein Wort des ehemaligen Limburger Bischofs Franz Kamphaus gewählt habe, möchte ich damit festhalten, dass ein konfessionelles Profil, ein konfessionelles Bewusstsein notwendig sind, um gesprächsfähig zu sein und in einem Dialog als ernst zu nehmender Partner auftreten zu können.

1. Mit der Frage nach der „Konfession“ macht die jeweilige Kirche deutlich, was sie als ihren Glauben bekennt und wie sie ihm in ihrer Kirchenorganisation Gestalt verleiht. Entscheidend ist, dass es gelingt, die alle Christen und Christinnen verbindenden Grundeinsichten und Erfahrungen zu benennen. Elementare verbindende Aussagen über unseren Glauben werden gerade dann wichtig, wenn das Erscheinungsbild der Kirche sich immer weiter differenziert. Dass heißt, obwohl wir eine Kirche der Vielfalt zu werden beginnen und auch schon sind, kommt es darauf an, dass sowohl nach innen als auch nach außen erkennbar ist, was uns im Kern zusammenhält. Genau hier aber liegt das Problem. Es ist eben nicht erkennbar, was uns im Kern zusammenhält.

2. Konfessionalität ist nicht nur unverzichtbar, sie auch unvermeidbar. Denn wie Menschen in eine Nationalität oder Landsmannschaft hineingeboren und von ihr geprägt werden, so finden wir uns auch - mehr oder weniger bewusst - konfessionell gebunden vor. Nicht jedem mag das bewusst sein; zudem vermute ich, dass es viele Menschen gibt, die das Besondere ihrer eigenen Konfession nicht benennen können - aber es wäre töricht, davon abzusehen, wie stark konfessionelle Beheimatung unsere kirchliche Landschaft prägt und mit all ihrer Verschiedenheit ja auch ihren Reiz ausmacht. Ich beobachte zunehmend, dass zwar die in religiöser Praxis Gestalt findenden jeweiligen Ausprägungen von Konfessionen gelebt werden, auch als je eigene identifiziert werden können, aber nicht mehr einer konfessionellen Familie zugeordnet werden.

Zum Vortrag will ich vorausschicken, dass seine mosaikartige Struktur, bzw. sein Charakter als Suchbewegung, die unterschiedliche Ebenen abschreitet, nicht nur der Tribut an ein großes Thema ist, sondern vermutlich auch etwas vom Charakter seines Gegenstandes beschreibt.

1. Was macht das evangelische Christsein aus?

„Was macht das evangelische Christsein aus? Ist es vor allem protestantisch im Sinne von 'nicht katholisch'? Oder ist es reformatorisch im Sinne eines bewussten Rückbezugs auf die Lehre der Reformatoren? Welche Rolle spielen die reformatorischen Bekenntnisschriften im Leben evangelischer Gemeinden? Kurz: Wie würde ein evangelischer Christ sich definieren?“ Diese Fragen, die einmal von den Ökumene-Beauftragten der katholischen Diözesen in Deutschland gestellt wurden, sind hoch interessant. Und ich gestehe, dass ich gerne eine Antwort auf diese Fragen hätte. Ich befürchte jedoch, dass es eine solche Antwort nicht gibt. Und ich stelle dazu folgende These auf: Dass es auf die Frage keine bzw. viele verschiedene Antworten gibt, hat etwas mit dem evangelischen Profil zu tun.

In der wissenschaftlichen theologischen Diskussion gibt es zu einer Frage immer mehrere Antworten. Wie ist der Pentateuch entstanden? Wann war Luthers reformatorischer Durchbruch? Wie ist das Verhältnis von Gesetz und Evangelium zu verstehen und fruchtbar zu machen? Auf alle diese Fragen wird gegenwärtig wesentlich mehr als nur eine Antwort gegeben. Allerdings zeigen diese Fragen auch, dass die Gründe, warum in verschiedener Weise geantwortet wird, verschieden sind. Geht es bei den ersten beiden Fragen um das sorgsame Abwägen von Argumenten, so haben wir es bei der dritten – Gesetz und Evangelium – durchaus um eine den konfessionellen Hintergrund betreffende Frage zu tun. Ein Evangelischer wird sie anders beantworten als ein Katholischer, ein Lutheraner anders als ein Reformierter.

In meiner Tätigkeit in der Kirchenleitung und der ACK begegnet mir die evangelische Pluralität in noch anderer Weise, als konfessionelle Vielfalt. Kirchen in Deutschland sind, wenn sie nicht römisch-katholisch oder orthodox sind, eben lutherisch, reformiert oder uniert, dazu kommen die Freikirchen. Und diese Aufgliederung nach Konfessionen setzt sich auf Europa- und Weltebene fort, sie ist dort der Normalfall. Man muss jetzt fragen, ob diese konfessionelle Vielfalt einen Reichtum der Kirche Jesu Christi darstellt oder ein schnellstmöglich zu überwindendes Ärgernis. Ich kann den Reichtum genießen, sofern Kirchengemeinschaft besteht, also die Ämter anerkannt werden und Abendmahlsgemeinschaft besteht. Was ist also typisch evangelisch? Die vertrauten Antworten lauten: Zum Evangelisch-Sein gehört - die Freiheit des einzelnen, auch die Gewissensfreiheit - das verantwortliche Christsein in Distanz zur Kirche die Überwindung der Trennung zwischen Sakralem und Säkularem die Offenheit für ein christliches Engagement in der Gesellschaft - die Betonung des Prophetischen - das Priestertum aller Gläubigen.

Trotz all dieser Richtigkeiten würde ich sagen, evangelisch ist das im allerbesten Sinne Pluralistische, in seiner negativen Gestalt das Beliebige. Dieses mag protestantische Züge – wenn man protestantisch im Sinne von „nicht katholisch“ versteht – insofern haben, als uns das römisch-katholische Drängen auf Vereinheitlichung nicht als sachgemäß oder erstrebenswert erscheint, und dasselbe gilt für die Dominanz des ordinationsgebundenen (bzw. römisch-katholisch: durch Weihe verliehenen) Amtes bis hin zu der diesem Amt innewohnenden Wahrheitsgewährleistungskompetenz.

Das Pluralistische hat insofern reformatorische Züge, als die Reformation die Sorge um das Seelenheil der Institution Kirche entrissen und jedem einzelnen Christenmenschen zugewiesen hat. Jeder evangelische Christenmensch steht mit seinem Gewissen unmittelbar vor seinem Schöpfer, Erlöser und Richter und trägt dort selbst Verantwortung, die ihm keine kirchlichen Riten, kein Priester, Bischof oder Papst abnimmt. Das führt zu existenziell gravierenden Situationen, nötigt aber auch dazu, den eigenen Standpunkt vor Gott und in der Welt zu reflektieren und zu verantworten. Jeder auf seine Weise. Genau das halte ich für typisch evangelisch. Oder anders gesagt: Luthers Ringen mit seinem Gott und seiner Kirche spiegelt sich auch heute noch in jedem bewusst evangelischen Christenmenschen wider.

Dennoch scheint mir an dieser Stelle genau das Problem zu liegen, denn nicht selten werde ich gerade von römisch-katholischen Christen gefragt, wer denn eigentlich für die „Evangelischen“ spreche? Es kann nicht um einen Pluralismus als Prinzip gehen, vielmehr muss das, was die pluralistisch wirkenden Lebensäußerungen des „Evangelischen“ im Kern zusammenhält, beschrieben werden.

2. Protestantismus – die dritte Gestalt des Christentums?

Nun habe ich wiederholt vom Protestantismus gesprochen. Gibt es eine protestantische Konfession? Gewohnt sind wir, von reformierter oder lutherischer Konfession zu sprechen und wir bezeichnen auch die sich um diese Konfession bildenden Kirchen als Konfessionskirchen. Was also ist mit Protestantismus gemeint? Sind mit ihm die Grenzen evangelischer Konfessionalität überschritten?

1984 noch schreibt Gerhard Schmidtchen: „Die Protestanten sind die Trendmacher, nicht nur bei Änderungen des gesellschaftlichen Wertsystems, sondern auch bei den stillen Kulturrevolutionen. Sie voran betreiben den Abbau von Normen, die den freizügigen Umgang mit Ressourcen behindern könnten. Dass man kein Brot wegwerfen solle, früher einmal allgemeine Überzeugung, finden besonders Protestanten heute nicht mehr verbindlich. Sie sind dafür, dass ein junges Mädchen die Pille nimmt. Sie treten für eine rechtlich umstandslose Schwangerschaftsunterbrechung ein. Die Kehrseite dieser aufgeklärten Unruhe ist ein prekäres psychisches Gleichgewicht. Die Persönlichkeit der Protestanten ist durch eine gleichzeitige Tendenz zur Aktivität und Desorganisation gekennzeichnet.“[1] Richtig und falsch zugleich und zugleich nicht nur typisch protestantisch oder evangelisch. Noch einmal, ist der Protestantismus die dritte evangelische Konfession?

Ein kurzer Rückblick in Entstehungsgeschichte und Bedeutungswandel des Begriffs „Protestantismus“ mag klärend wirken. Mit dem am 8. Mai 1521 beschlossenen Wormser Edikt, das Luther in die Reichsacht legte, den Druck und die Verbreitung seiner Schriften unter Strafe stellte und Luthers Anhänger der Verfolgung preisgab, schien die junge reformatorische Bewegung an ihr Ende gekommen zu sein. Aber das Edikt war politisch so nicht durchsetzbar. Der Reichstag forderte vielmehr ein Konzil und beschloss 1526 in Speyer, dass „bis zum angekündigten Konzil ein jeder sich halten (solle), wie er sich das gegen Gott, auch kaiserliche Majestät und das Reich getraue zu verantworten.“

Diese Formel wurde von reformatorisch gesonnenen Fürsten und Städten genutzt, um ihre Reformation als rechtsförmig zu beschreiben. Weil nun die Altgläubigen auf dem 1529 stattfindenden Reichstag in Speyer wieder zur „Schärfe des Wormser Edikts zurückkehren“[2] wollten, legten Kurfürst Johann von Sachsen, Markgraf Georg von Brandenburg, Landgraf Philipp von Hessen und Fürst Wolfgang von Anhalt sowie 14 Reichsstädte eine „Protestatio“ ein. Ihr wichtigstes Argument war, dass „in den Sachen Gottes Ehre und unser Heil und Seeligkeit belangend, ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft geben muss“. Fortan wurden sie als Protestierende oder Portestanten bezeichnet.

Evangelische Theologen und Juristen haben den Begriff Protestanten als vereinheitlichenden Begriff für die unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen der Lehre nur mit großen Vorbehalten angenommen. Sie befürchteten, dass die theologischen Differenzen auf dem Wege einer neuen Begriffsbildung nivelliert werden könnten.[3]

Ganz anders war die Entwicklung im Ausland. Dort haben mit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Protestanten als eine Größe Raum gefunden, die gegenüber Papisten und Römern als Vertreter des reinen Glaubens galten. Sogar bei den Anglikanern findet sich die Bezeichnung „Protestanten“. Wohl unter diesem Einfluss, denn England verstand sich als die protestantische Nation und so als eine wesentliche Gegenmacht der papistischen Kirche Roms, wird man etwa mit Beginn des 17. Jahrhunderts auch in Deutschland zunehmend von Protestanten gesprochen haben.

Mit dem westfälischen Frieden von 1648 trat für die nunmehr 120 Jahre bestehenden evangelischen Kirchen eine neue wichtige Entwicklung ein. Den Gebildeten war die Differenz zwischen den Konfessionen zwar wichtig, aber sie sahen keinen Sinn mehr darin, konkurrierende Wahrheitsansprüche auf kriegerische Art zu lösen. Das Gebot der Stunde war der Friede zwischen den Religionen.[4]

Auch die evangelischen Fürsten, die ja zugleich die Garanten des Fortbestands der evangelischen Kirche waren, wurden von dieser neuen Geistesbewegung erfasst. Der religiöse weltanschauliche Pluralismus wurde nicht nur geduldet, man gewährte Menschen, die aus religiösen Gründen verfolgt wurden, sogar Zuflucht. Wir wissen, dass in Preußen nicht nur die Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) das Land verlassen mussten, als verfolgte Protestanten aufgenommen wurden, sondern auch der von Papst Clemens XIV. 1774 verbotene Jesuitenorden durfte in Preußen offiziell weiter existieren.

Dies alles geschah unter dem Aspekt der Religionsfreiheit. Wir kennen den Satz Friedrich II., der auch heute noch zur Charakterisierung der preußischen Religionspolitik dient, nämlich „Die Religionen müssen alle toleriert werden und muss der Fiskal nur das Auge darauf haben, dass keiner der anderen Abbruch tue, denn hier muss ein jeder nach seiner Fasson selig werden“.[5]

Zunehmend trat nun der Gegensatz zwischen den lutherischen und reformierten Kirchen in Deutschland in den Hintergrund. Zwei theologische Richtungen haben diesen Trend geprägt: Pietismus und Rationalismus. Während die Pietisten fromm leben und zugleich tätige Nächstenliebe praktizieren wollten, lag dem Rationalismus daran zu zeigen, dass der christliche Glaube selbst vernünftig ist und nicht vom Tribunal der Vernunft abgeurteilt könne. Beiden Richtungen war gemeinsam, dass für sie die Untergliederung des Protestantismus in Lutheraner und Reformierte nebensächlich war. 1788 redete das Wöllnersche Religionsedikt und 1794 das Preußische allgemeine Landrecht im Singular von der „Protestantischen Kirche in Preußen“. 1817 verfügte der König die Vereinigung von Lutheranern und Reformierten.

Schleiermacher hat hierzu die wesentlichen theologischen Grundlagen einer Unionstheologie erarbeitet. „Er fordert die gänzliche Aufhebung des kirchlichen Unterschieds zwischen Lutheranern und Reformierten, damit die protestantische Kirche durchaus nur Eine sei.“[6] 1848 wird nach der gescheiterten Revolution das Wort Protestantismus ein Erkennungszeichen der liberal gesinnten Theologen, die am Erbe der Aufklärung festhalten wollen und sich zu diesem Zweck im Protestantenverein sammelten.

Vier Jahrzehnte später dient dasselbe Wort zur Bezeichnung eines kämpferischen Programms zur „Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen.“[7] Heute werden zur protestantischen Gemeinschaft, außer den methodistischen Kirchen und apostolischen Gemeinschaften, die auf die englischen und schottischen freikirchlichen Bewegungen des 16. und 17. Jahrhunderts zurückgehen, auch die sich erst seit 1960 formierenden neuen Pfingstkirchen und vielen charismatischen Bewegungen gerechnet. Religionsphänomenologisch gilt, dass für den Protestantismus ein starker Individualismus und daraus folgend die zumeist starke Stellung der Einzelgemeinde kennzeichnend ist.

Inhaltlich gelten für diese eigenständige dritte Gestalt des Christentums, ganz abgesehen von ihren unterschiedlichen überlieferungsgeschichtlichen Ausprägungen, folgende theologische Elemente: das Sola scriptura, d.h. die exklusive Schriftbindung im Gegensatz zum katholischen Prinzip der Doppelorientierung an Schrift und Tradition - das Sola fide, „allein aus Glauben“, wodurch allen Vorstellungen, dass durch verdienstvolle Werke oder zu erwerbende Gnadenschätze von heiligen Märtyrern das Heil erreicht werden könnte, verneint werden sowie - das Sola gratia, das die Rechtfertigung des Sünders allein aus der Gnade Gottes bezeichnet, womit die Vorstellung, dass der sündige Mensch durch irgendeine Leistung des Glaubens oder anderes, also durch religiöse Leistungen vor Gott Gnade erlangen könnte, abgewiesen wird.[8]

Diese theologischen Standards voraussetzend, kommt Graf (im Sinne der von mir oben behaupteten Pluralität) zu folgender Definition: „Unter Protestantismus sind alle jenen Strömungen des neuzeitlichen Christentums zu erfassen, die sich in ausdrücklicher Differenz zum römischen Katholizismus und zu den orthodoxen Christentümern als eigene, dritte Überlieferungsgestalt des Christlichen verstehen“. Es gilt also, diese Bestimmungen (die drei soli) als Grundmotive evangelischer Konfession festzuhalten.

3. Wie artikuliert sich evangelische Konfession als Frömmigkeit?

In einer weiteren Suchbewegung frage ich danach, wie sich evangelische Konfession, die von den drei soli bestimmt ist als Frömmigkeit artikuliert. Evangelische Frömmigkeit hat es vor allem mit zwei Büchern zu tun: mit der Bibel und dem Gesangbuch.[9]

Natürlich wissen wir, dass die Bibel zwar in ev. Haushalten weit verbreitet ist, aber eher selten gelesen wird. Nichtsdestotrotz erwarten unsere Gemeindeglieder, dass in jedem Gottesdienst zu einem biblischen Text gepredigt wird, dass Kirchenleitungs- und -vorstandssitzungen, Frauen- und Altenkreise, Freizeiten mit einer Andacht, einem Bibelwort beginnen und/oder enden, sonst fehlt etwas. Brautpaare suchen ein Bibelwort für die Trauung aus, junge Eltern einen Taufspruch für ihr Kind, in Familien von Konfirmanden sucht man gemeinsam nach einem Konfirmationsspruch. Alte Menschen und Kranke suchen manchmal selbst ein Wort für ihre eigene Beerdigung aus. Die fortlaufende selbständige Lektüre dagegen kommt langsam außer Gebrauch – ohne Zweifel. Andere Formen treten an ihre Stelle. Die Tradition der Lektüre der Losungen gibt es in vielen Familien seit Generationen. Dazu kommen die Wochen- und Monatssprüche sowie die Jahreslosung, mit der nicht wenige Christen leben.

Eine neuere Form der Bibelaneignung ist das Bibliodrama sowie damit verwandte Zugangsweisen zur Bibel – etwa der biblische Tanz. Jede Generation verschafft sich ihren eigenen Zugang zur Bibel, wobei das Buch der Bücher selbst die Konstante bleibt.

Neben der Bibel ist das Gesangbuch der Schatz der evangelischen Christen. Es ist eine gute Tradition, dass Konfirmanden zu ihrer Konfirmation ein solches Buch geschenkt bekommen. Die Liedzeilen, etwa von Paul Gerhardt, dessen 400. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, sind für viele Menschen eine Hilfe, ihren Glauben auszusagen. Man darf das nicht unterschätzen.

Neben dem Liedteil finden sich im Gesangbuch auch Bekenntnisse, darunter der Kleine Katechismus Martin Luthers und Auszüge aus dem Heidelberger Katechismus. Luthers Katechismus ist bis in die 70er Jahre hinein auswendig gelernt worden. „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen ...“ Das kennen die Menschen, damit leben sie – noch. Es ist zu fragen, wie hier wieder angeknüpft werden kann. Weiter finden sich im Gesangbuch Gebete, etwa Luthers Morgen- und Abendsegen. Der Gebetsteil bedarf dringend der Erschließung für die Gemeinden. Und schließlich stehen – jedenfalls in manchen Ausgaben – die Evangelien, Epistel, AT-Lesungen samt Wochenspruch und – leider nicht immer[10] – Wochenpsalm im Anhang; manche Psalmen sogar vertont.

So ist uns evangelischen Christen eine kleine wöchentliche Bibellese in die Hand gegeben, die nicht wenige auch gebrauchen. Denn das erlebe ich immer wieder: das Gesangbuch ist das Buch, mit dem Christenmenschen leben, das sie mitnehmen in die Kirche, auf den Friedhof, in den Frauenkreis oder die Bibelstunde. Es entlastet uns von einer allzu protestantischen Individualität unseres geistlichen Lebens und erschließt uns die Schätze, die wir von unseren Müttern und Vätern geerbt haben. So kann man für diesen Punkt zusammenfassend vielleicht sagen: Evangelische Frömmigkeit bleibt in aller Regel an das Wort gebunden. Der Überzeugung folgend, dass Gott sich durch sein Wort offenbart, suchen evangelische Christen ihm vor allem auf diesem Wege zu begegnen. Nichtsdestotrotz finden sich auch andere – sinnlicherere – Formen der Frömmigkeit, wird liturgischen Formen neue Aufmerksamkeit geschenkt.

4. Charakteristika lutherischer Frömmigkeit – unter den Bedingungen der Postmoderne

In einer weiteren Suchbewegung gehe ich nun der Frage nach, ob es in meiner lutherischen Kirche charakteristische Ausdrucksformen von Frömmigkeit gibt. Das ist zunächst die Freude an schönen Gottesdiensten und die Hochschätzung des Gottesdienstes überhaupt. Luther hat die römische Messe in ihrer äußeren Struktur nicht wesentlich verändert. Er hat getilgt, was nicht mit dem Evangelium vereinbar war, insbes. den Gedanken des Messopfers, aber ansonsten war er liturgisch eher konservativ.[11]

In der reformierten Tradition sind wesentlich mehr Veränderungen am Gottesdienst vorgenommen worden. Schmückendes wurde fortgelassen. Ein reformierter Gottesdienst – so sage ich einmal unzulässig pauschalisierend – wird dann von den Gemeindegliedern als gut empfunden, wenn die Predigt gut war.

Für lutherische Gottesdienstbesucher ist das anders. Ein Gottesdienst ist dann gelungen, wenn Gebete gesprochen wurden, die die Menschen berühren und ihre Anliegen mitnehmen, wenn schöne Lieder ausgesucht, die Lesungen ordentlich vorgetragen wurden und es schöne Vor- und Nachspiele auf der Orgel oder gute Chorbeiträge gab. Gewiss: Die Predigt des Evangeliums steht im Mittelpunkt, aber nach lutherischer Auffassung gehört die Kirchenmusik durchaus zum Verkündigungsdienst.[12] Sie verhilft der Gemeinde zur Erschließung des Evangeliums und trägt dazu bei, dass die Gemeinde einander das Evangelium sagt. Ich denke nicht, dass Reformierte das auch so beschreiben würden.

Zum Gottesdienst zählt in besonderer Weise das Geschehen im Abendmahl. Und hier gilt meiner Beobachtung nach, dass das Abendmahl für lutherische Gemeindeglieder eine etwas andere Dignität hat. Der Konsens, den Reformierte und Lutheraner 1973 in der Leuenberger Konkordie erzielt haben, nivelliert ja gerade nicht die Differenzen, sondern hebt das gemeinsame Verständnis hervor und erklärt die bleibenden Differenzen als nicht mehr kirchentrennend. Aber bis heute – so erlebe ich es jedenfalls – sehen gläubige Lutheraner im Abendmahl stärker den Aspekt der Sündenvergebung betont, während Reformierte eher den Gemeinschafts- und Erinnerungsaspekt hervorheben.

Da dem gläubigen Lutheraner das Lebensgefühl des simul iustus et peccator durchaus eigen ist, bekommt das Abendmahl in lutherischen Kirchen einen „heiligen Ernst“, der von manchen als Trauerklößigkeit missverstanden wird. Ein Abendmahl, das v. a. den Gemeinschaftsaspekt betont, hat diesen Charakter nicht in solchem Maße. Außerdem erlebe ich in manchen lutherischen Gemeinden noch oder wieder die Praxis, in den Abendmahlgottesdienst einen Beichtteil – mindestens aber einen Abschnitt mit Sündenbekenntnis und Vergebungszuspruch – zu integrieren.

Die Beichte – ja ich kann sagen: eine erneute Hochschätzung der Beichte[13] – ist durchaus ein lutherisches Spezifikum. In einer reformiert geprägten Theologie haben Beichte und der Zuspruch der Sündenvergebung als äußeres Gnadenmittel keinen Ort. Dort ist das Leben stärker Bewährung, die in Askese und anderen Übungen praktiziert wird, wohingegen es im Luthertum eine Abfolge immer neuer Sündenerkenntnisse, Sündenbekenntnisse und Vergebungszusprüche ist.[14]

5. Evangelisch-Lutherisches Profil

Was bleibt am Ende für unsere Frage nach dem konfessionellen und dem evangelischen Profil unserer Arbeit in Kirche und Gemeinde? Ich nenne nochmals einige konkrete Beispiele, die vom Erleben in meiner Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig geprägt sind, die aber zugleich zeigen, dass sich in der Alltagspraxis eine deutliche „Nivellierung“ der praktischen Ausdrucksformen konfessionellen Herkommens zeigt. Bewußt wechsele ich in der Beschreibung zwischen evangelischem und lutherischem Profil und bin mir zugleich bewusst, dass diese Kennzeichnung durchaus vorläufig ist.

a. Als erstes gehört zum evangelischen Profil, dass die Kirche den einen, unvertretbaren Auftrag der Kirche ernst nimmt: die Verkündigung des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben allein. Bei allen Überlegungen zur Zukunft von Kirche und Gemeinde und bei allen Überlegungen zur Profilierung der Arbeit muss dies im Vordergrund stehen; ansonsten werden wir unserem Auftrag untreu. Für mich gehört die Missionsaufgabe ganz deutlich dazu.[15]

b. Als zweites gehört zum evangelischen Profil im deutlichen Unterschied zum römischkatholischen das Wissen um die Unterscheidung von Grund und Gestalt der Kirche. Grund der Kirche ist die Heilstat Jesu Christi für uns, die im Evangelium zum Heil der Menschen bezeugt und durch den Heiligen Geist zum rechtfertigenden Glauben erschlossen wird. Die Gestalt der Kirche, ihre Organisationsform, ist demgegenüber nachgeordnet, sie ist nicht heilsrelevant. Gemeinde oder Region, bischöflich oder konsistorial – das ist letztlich irrelevant. Relevant ist allein, dass die Organisationsform so gewählt wird, dass sie bestmöglich dem Auftrag (s.o.) dient. Das bedeutet konkret, dass Lutheraner auch die Ortsgemeinde nicht für die allein selig machende Organisationsform halten, sondern Sinn haben für organisatorisch übergeordnete Strukturen wie Kirchenkreis, Sprengel, Landeskirche, VELKD, EKD und LWB. Und ebenso sollten wir Dienste, Einrichtungen und Werke daran messen, inwiefern sie Teil an der Erfüllung des Auftrags der Kirche haben, wo also dort ev. Profil sichtbar wird.

c. Als drittes gehören zum lutherischen Profil eine reflektierte Verhältnisbestimmung von ordinationsgebundenem Amt und Allgemeinen Priestertum der Getauften. Wir wehren uns dagegen, das Amt an Wort und Sakrament klein zu reden, es einzuebnen und seine Besonderheit zu leugnen. Das Amt hat seine Dignität darin, dass es den Wesensmerkmalen der Kirche, Wort und Sakrament, zugeordnet ist. Wir wehren uns aber genauso dagegen, das Allgemeine Priestertum zu einer bloßen Hilfsfunktion abzuwerten, sondern betonen, dass die Vermittlung des Evangeliums allen Christenmenschen als Aufgabe anvertraut ist und schätzen daher den ehrenamtlichen Dienst außerordentlich hoch – nicht nur, weil das Geld für Hauptamtliche immer knapper wird.

d. Als viertes gehört zum lutherischen Profil die Betonung des Gottesdienstes als Mitte der kirchlichen Arbeit. Mir ist klar, dass er es faktisch längst nicht mehr ist, dass andere Gemeindeangebote auch mehr Menschen anziehen. Da aber Wort und Sakrament nach ev.-luth. Verständnis die Wesensmerkmale der Kirche (CA 7) sind, ist deren Vermittlung der eine Auftrag der Kirche, den niemand anderes für uns tun kann – also gleichsam unser Alleinstellungsmerkmal. Hier haben wir eine besondere Kompetenz, die wir uns auch nicht streitig machen lassen dürfen. Und ich rechne die Kasualien, etwa Beerdigungen und Trauerbegleitung – ausdrücklich dazu.

e. Als fünftes gehört zum lutherischen Profil die Konzentration auf die seelsorgliche Aufgabe der Kirche. Die Rechtfertigungsbotschaft als Mitte lutherischer Theologie hat ihren Ort im Leben des Einzelnen vor Gott, genauer: in der Situation der Beichte und der Absolution. In Treue hierzu sollte die lutherische Kirche die Sorge um das Seelenheil des bzw. der Einzelnen nicht aus dem Blick verlieren und zu ihrer Verantwortung hierfür stehen. Auch wenn politische Statements und Positionsbestimmungen zu ethischen Fragen pressewirksamer sind, müssen wir beachten, dass dies für uns nur nachgeordnete Fragen sind. Keine unwichtigen, aber den Kernaufgaben nachgeordnete. Für Lutheraner wird hier die Zwei-Regimenten- Lehre zum Kriterium.

f. Als sechstes gehört zum evangelischen Profil das selbstverständliche Leben des Glaubens im Alltag der Welt, also die diakonische und politische Dimension. Gewiß wird sie in lutherischer und reformierter Theologie je anders begründet, allerdings lassen sich diese Begründungen in den seltensten Fällen im praktischen Vollzug erkennen.

g. Nach Luther erkennt man siebtens „das heilige Christliche Volck“ nicht nur „an Evangelium, Taufe, Absolution, kirchlichem Amt und öffentlichem Gottesdienst, sondern auch 'bey dem Heilthum des heiligen Creutzes, daß es mus alles unglück und verfolgung, allerley anfechtung und ubel … vom Teufel, welt und fleisch … leiden, damit es seinem Heubt Christo gleich werde'. (Von den Conciliis und Kirchen 1539)“[16]

h. Und als achtes und letztes sei noch eine gesamtevangelische, ja protestantische Konkretion genannt, die Begleitung der Christenmenschen zur Mündigkeit.[17] Den Glauben zu verstehen, ihn ausdrücken und darüber Rechenschaft geben zu können, ist nicht heilsnotwendig, aber doch typisch evangelisch. Denn es befähigt zur Kunst der Unterscheidung des Christlichen vom diffus Religiösen und des Evangelischen vom Nichtevangelischen. Wo wir Menschen Hilfestellung anbieten, ihr Allgemeines Priestertum glaubwürdig und überzeugend zu leben, handeln wir typisch evangelisch.

6. Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 als evangelische Antwort

Ich habe am Ende bewusst einige Beispiele gewählt, die teils typisch lutherisch, teils gesamtevangelisch sind. Zum einen wird daran sichtbar, dass es natürlich durchaus gemeinsame evangelische Positionen gibt, insbesondere dort, wo sich alle evangelischen Konfessionen auf ihr gemeinsames reformatorisches Erbe besinnen, also auf jene Punkte, in denen sich Luther, Calvin und Zwingli einig waren. Auf der anderen Seite gibt es zweifellos konfessionsspezifische Eigenheiten, und zwar durchaus solche, die von Gewicht sind. Diese speisen sich nicht aus einer besonderen Lust auf Konservierung spitzfindiger Differenzierungen des 16. Jahrhunderts, sondern sie sind im konkreten Leben der Kirche sichtbar.

Ich plädiere nachdrücklich dafür, diese Eigenheiten nicht abzuschleifen, sondern sie zu pflegen, denn sie stellen einerseits einen Reichtum in der Evangelischen Kirche in Deutschland dar; andererseits stiften sie Identität, aus welcher dann wieder die Fähigkeit zum Dialog und zur ökumenischen Gemeinschaft ebenso erwächst wie die Erkennbarkeit des Dialogpartners. Mitunter denke ich, es wäre sehr hilfreich, wenn sich die in der EKD zusammengeschlossenen unierten, lutherischen und reformierten Kirchen deutlicher darauf einigen könnten, dass sie in den Grundaussagen der CA zusammengehören und dass die Barmer Theologische Erklärung von 1934 als Beispiel aktuellen Bekennens gewertet wird. In ihr findet sich eine angemessene Antwort auf die Frage, was es bedeutet evangelisch zu sein.

 


[1] G. Schmidtchen, Protestanten und Katholiken, in: Konfession - eine Nebensache? Kohlhammer TB 1068, S. 16, 1984.

[2] Johannes Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, 6., durchgesehene Auflage, Tübingen 2006, 66.

[3] Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus, München 2006, 13.

[4] Im Folgenden schließe ich mich der Darstellung Martin Schucks an. Siehe Martin Schuck, Protestantisches Profil, unveröffentlichter Vortrag vom 24. März 2004 vor der Bezirkssynode Bad Dürkheim.

[5] zitiert nach Eilert Herms, Notwendigkeit, Schwierigkeiten und Chancen religiöser Institutionen in komplexen Gesellschaften und besonders im vereinigten Deutschland, in: Marburger Jahrbuch Theologie 15, 81-110; 102, Anm. 29.

[6] Schuck, a.a.O.

[7] so im Gründungsaufruf des Evangelischen Bundes 1886 in Erfurt.

[8] Graf, a.a.O., 18f und Friedrich Weber, Typisch evangelisch, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hgin.), Typisch evangelisch? Konfessionelle Profilierung in der Diskussion, Arnoldshainer Texte Bd. 105, Frankfurt 1998, 27ff

[9] Vgl. hierzu: Martin Vetter, Art. Bibel und Christian Finke, Art. Gesangbuch, in: Michael Meyer-Blanck/Walter Fürst, Typisch katholisch – typisch evangelisch, Rheinbach 2003, 65-68 und 78-82.

[10] Warum nicht alle Wochenpsalmen abgedruckt sind, ist mir ein Rätsel. Angesichts des ohnehin schon großen Volumens können diese wenigen zusätzlichen Seiten nicht das Argument sein, diese fortzulassen. Bei einer kommenden Revision sind hier Nägel mit Köpfen zu machen!

[11] Warum nicht alle Wochenpsalmen abgedruckt sind, ist mir ein Rätsel. Angesichts des ohnehin schon großen Volumens können diese wenigen zusätzlichen Seiten nicht das Argument sein, diese fortzulassen. Bei einer kommenden Revision sind hier Nägel mit Köpfen zu machen! Gottesdienst, in: Klaus Grünwaldt (Hg.), Konfession Evangelisch-lutherisch, Rheinbach/Gütersloh 2004, 159-166, bes. 161- 164.

[12] Vgl. hierzu Corinna Dahlgrün, Zum Profil einer lutherischen Praktischen Theologie – an den Beispielen Kirchenmusik und Beichte, in: Reinhard Rittner, Was heißt hier lutherisch!, Bekenntnis. Fuldaer Hefte 37, Hannover 22005, 211-233, bes. 219-227.

[13] Das VELKD-Faltblatt zur Beichte „Wie mein Leben wieder hell werden kann“ ist bis heute 112.000 Mal verschickt worden.

[14] Vgl. hierzu Corinna Dahlgrün, Profil (wie Anm. 6), 227-233.

[15] Zu einem evangelischen Verständnis von Mission vgl. künftig das Papier der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – Leuenberger Kirchengemeinschaft „Evangelisch evangelisieren“, das auf der Vollversammlung der GEKE in Budapest (September 2006) verabschiedet worden ist. Dieses Papier ist eher praktisch orientiert. Stärker missionstheologisch ist die Ausarbeitung des Luth. Weltbundes „Mission im Kontext. Verwandlung – Versöhnung – Bevollmächtigung“, Genf 2006; vgl. dazu die gleichnamige Handreichung für Gemeinden, die vom Deutschen Nationalkomitee des LWB herausgegeben wird.

[16] Zitiert nach Claus Bachmann, Sola Ecclesia?, in: Deutsches Pfarrerblatt Heft 9, September 2007, 479.

[17] Hier hat insbes. die Katechismusarbeit der VELKD ihren Ort, insbes. der. Ev. Erwachsenenkatechismus (62000), der Kleine Ev. Erwachsenenkatechismus (2004) und zuletzt auch das Konfirmandenwerk „kreuzundquer“ (2005).