Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1492-1549)
Ludwig XII. versuchte mehrmals, Marguerite als Braut in Europa zu verhandeln, aber weder ihre Aussichten, noch ihr Vermögen waren ausreichend, um eine internationale Ehe einzugehen. Stattdessen heiratete sie 1509, gerade siebzehn Jahre alt, den Herzog von Alençon, von dem wenig bekannt ist. Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie und ihr Gatte wenig Gemeinsames hatten, zumal der Herzog vor Allem ein Soldat war. Dafür hatte sie aber eine geliebte Schwiegermutter, Marguerite von Lorraine, die eine zutiefst fromme Frau war. Jahre später schrieb Marguerite über ihren Tod und ließ ihre Trauer darüber durchblicken.
Als Ludwig XII. befürchten musste, nicht selbst Söhne zeugen zu können – er hatte „nur“ zwei Töchter, Claude und Renée de France – holte er Franz d´Angoulême an seinem Hof und gab ihm seine Tochter Claude zur Ehe. 1515 verstarb er und Franz bestieg als Franz I. den Thron Frankreichs.
Für Marguerite änderte sich das Leben schlagartig. Sie kam zu ihrem Bruder an den Hof, und da die Königin Claude sehr zurückhaltend und scheu war, übernahm sie bald die repräsentativen Pflichten. Zusammen mit ihrer Mutter bildete sie mit Franz ein Trio, die sogenannte „Dreieinigkeit“. Franz konnte immer mit seiner Mutter und seiner Schwester rechnen, und sie unterstützten ihn nach Kräften.
Franz I. wurde der erste Renaissancekönig Frankreichs. Er war jung, viril und plötzlich auch reich. Er ließ bauen an der Loire, eroberte das Herzogtum Mailand, versuchte sich als Deutschrömischer Kaiser wählen zu lassen – das war eine extrem teure Angelegenheit – und verwickelte sich in Rivalitäten sowohl mit Heinrich VIII. von England als auch mit Kaiser Karl V.
Schon 1516 verhandelte er ein Konkordat mit dem Pabst in Bologna. Die französische Kirche hatte seit dem Mittelalter ihre gallikanische Freiheiten gegenüber dem Pabst verteidigt, und als Frankreich sich als Nationalstaat festigen konnte und mit Franz I. fast die Grenzen erreicht hatte, die noch heute gelten, gelang es auch Franz, eine römisch-katholische Nationalkirche zu vereinbaren. Vor allem durfte er wichtige Posten in der Kirche mit seinen Kandidaten besetzen, die dann vom Pabst anerkannt wurden. Damit war die französische Kirche ihrem König treu ergeben, nicht desto weniger war sie streng katholisch, besonders die Fakultät der Theologie der Universität von Paris (oft abgekürzt Sorbonne genannt) wachte über die reine katholische Lehre. In den Jahren 1515 bis 1534 war Franz theologisch eher liberal und pfiff die eifrigen Theologen zurück, nach 1534 machte er mit ihnen gemeinsame Sache.
In Frankreich bildeten sich Kreise von Reformkatholiken und Humanisten, die der etwas verkrusteten katholischen Theologie kritisch gegenüberstanden. Sie forderten die Bibel in der Muttersprache und in den Händen von Laien. Sie kritisierten Heiligenkult und Reliquienverehrung, und versuchten eine Erweckung der Gläubigen im Sinne vom reformatorischen „sola fide, sola scriptura“ (= durch den Glauben allein und durch die Heilige Schrift allein) herbeizuführen. Der leitende Humanist war der alte Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis), der nach Jahren als Herausgeber klassischer antiker Schriften endlich bereit war, die Heilige Schrift zu übersetzen. Er wurde unterstützt von Guillaume Briçonnet, Bischof von Metz. Dieser führte Reformen in seiner Diözese durch, legte die Bibelübersetzung des Lefèvre in den Kirchen aus, verjagte die Franziskaner, die sonst fast Predigtmonopol besaßen, und ließ durch seine eigene Leute „reformatorisch“ predigen. Unter ihnen waren Gérard Roussel, der später Hofkaplan bei Marguerite wurde, Guillaume Farel, der später in Genf als Reformator zusammen mit Calvin wirkte, und Simon Robert, der die frühere Nonne Marie Dentière heiratete und auch in die Schweiz zog.
Als katholischer Bischof wollte Briçonnet nicht die katholische Kirche umstürzen oder dem Pabst die Treue kündigen, er wollte dagegen die Kirche von innen erneuern. Er gehörte dem Reformkatholizismus an, der in Frankreich oft als „évangelisme“ bezeichnet wird, mit dem deutschen Wortbrauch „evangelisch“ aber wenig zu tun hat. Die Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Lefèvre d´Etaples wollten zu den Quellen zurück, sie wollten die Bibel allen zugänglich machen, sie hatten von Paulus gelernt, dass Rechtfertigung durch den Glauben geschieht, aber er sah das alles nicht als Grund, die Einheit der Kirche auf Spiel zu setzen. Diese Männer prägten Marguerite.
An Bischof Briçonnet wandte sich Marguerite mit der Bitte um geistigen Beistand. Ein Briefwechsel folgte, der sich (nachweislich) über die Jahre 1521 bis 1524 erstreckte. Der Bischof schrieb lange Homilien, und Marguerite bat ihn ständig um mehr „seelische Nahrung“. Sie verwendete vermutlich seine schriftlichen „Predigten“ als Grundlage für Andachten mit ihren Hofdamen. Abschriften ließ sie in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis verteilen .
Briçonnet legte ihr die Bibellektüre ans Herz, mit besonderer Wertschätzung der Paulinischen Briefe. Nebenbei sei bemerkt, dass sowohl Luther als auch Calvin in jungen Jahren den Römerbrief auslegten, denn wer Erneuerung für die Kirche erhoffte, kam um Paulus nicht herum. Das Besondere bei Briçonnet war allerdings sein Hang zur Innerlichkeit, die Liebe zwischen Christus und der Seele, die Aufgabe des Selbst und das Hinschmelzen in Christus. Gute Werke, der Verdienst der Heiligen, Fasten und Pilgern kamen bei ihm dagegen nicht vor.
Für Marguerite bedeutete diese religiöse Erneuerung, dass sie anfing, geistliche Gedichte zu schreiben, ihre poetische Ader wurde freigelegt. Das erste Gedicht handelt von einer nächtlichen Vision. Ihre Nichte – die Tochter ihres Bruders – starb 1524 mit acht Jahren, und Marguerite fragt die reine Seele, was sie glauben soll. Der Antwort ist klar, sie soll Christus allein lieben und glauben. Briçonnet hätte es nicht besser ausdrucken können.
In diesen Jahren wurden Luthers Schriften in Frankreich verbreitet und wir wissen mit Sicherheit, dass Marguerite seine Schriften kannte. Die theologische Fakultät der Universität von Paris leistete Widerstand gegen die lutherische Ketzerei und das bekam Bischof Briçonnet zu spüren. In seinen Briefen an Marguerite bat er sie wiederholt um Unterstützung und besonders darum, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter für seine Reformen gewinnen möge. Marguerite hatte zwar großen Einfluss auf ihren Bruder, aber trotzdem musste Briçonnet alle seine Reformvorhaben aufgeben. Die Gruppe um ihn flüchtete nach Straßburg, während er selbst widerrufen musste. Er starb kurze Zeit später.
1524 starb Königin Claude, und Marguerite wurde mit der Aufsicht der königlichen Kinder betraut. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, wie sehr diese Kinder ihr ans Herz wuchsen. Ihre Ehe blieb kinderlos – ihre Trauer darüber vernimmt man in den Briefen an Briçonnet – und jetzt konnte sie ihre mütterlichen Gefühle den Kindern ihres geliebten Bruders zu Gute kommen lassen.
1525 verlor Franz I. die Schlacht bei Pavia in Norditalien. Seit vielen Jahren, schon in der Regierungszeit Karl VIII. hatte Frankreich mit den italienischen Stadtstaaten Krieg geführt. Jetzt stießen in Italien die habsburgischen und die französischen Truppen zusammen. Die Blüte des französischen Adels wurde an einem Tag vernichtet, und Franz selbst wurde gefangengenommen. Der Herzog von Alençon flüchtete vom Schlachtfeld und starb wenige Monate später, von seiner Gattin liebevoll gepflegt.
Jetzt schlug die Stunde für Marguerite. Mit ihrer Mutter hatte sie in Lyon den Ausgang des Krieges abgewartet, und nach dem Tod ihres Gatten ließ sie ihre Mutter als Regentin Frankreichs zurück, sie selbst segelte und ritt zu ihrem Bruder, der schwer krank in Madrid im Gefängnis lag. Sie pflegte ihn wieder gesund und versuchte mit dem unerbittlichen Kaiser Karl V. zu verhandeln. Sowohl sie als auch Franz dachten, dass der ritterliche Ehrencodex seine Befreiung möglich machen würde, Karl war aber auf handfeste Vorteile aus. Am Ende versprach Franz alles, um freizukommen, fuhr nach Hause, gab seine Söhne quasi als Unterpfand dem Kaiser und musste eine Riesensumme als Lösegeld aufbringen.
Als Regentin hatte die streng katholische Louise von Savoyen die französische Kirche in ihrem Kampf gegen die „Ketzer“ unterstützt, deshalb war auch keine Hilfe für Briçonnet und seine Leute zu erwarten. Nach der Rückkehr Franzens war er noch abhängiger als zuvor von der Kirche, nur sie konnte ihm mit dem Geld, das er dem Kaiser schuldete, versorgen. Anders als die deutsche Fürsten, die sich sehr wohl handfeste Vorteile von der Reformation in ihren Ländern erhoffen konnten, hatte der französische König schon eine (katholische) Nationalkirche, die ihn kräftig unterstützte, natürlich in der Annahme, dass er keine „Ketzer“ dulden würde.
Marguerite war eine noch junge Witwe, und ihr zweiter Gatte war ein junger, strahlender Held: Henri d´Albret, König von Navarra. Er hatte sich in der Schlacht von Pavia tapfer geschlagen, war gefangen genommen worden, hatte sich aber in einer „Mantel und Degen Aktion“ buchstäblich erfolgreich abgeseilt. Er war zudem ein Frauenheld und 12 Jahre jünger als Marguerite. Sein Königreich war winzig: das Königreich Navarra war ursprünglich das, was wir heute das Baskenland nennen, ein Gebiet, das sich beidseitig über den Pyrenäen erstreckte, jedoch sein Schwerpunkt auf der Südseite der Bergkette mit Pamplona als Hauptstadt hatte. Die Albrets, als südfranzösische Großgrundbesitzer, waren durch Heirat an die Krone gekommen, nur um erleben zu müssen, dass Spanien 1512 der Gebiet um Pamplona eroberte. Damit schrumpfte das Königreich auf Basse-Navarre zusammen, der französische Teil des Baskenlandes. Da er auch Vicomte von Béarn war, eine unabhängige Grafschaft mit eigener Regierung und Generalständen, hatte er dennoch sein eigene Hausmacht. Er erwartete, sozusagen als Mitgift, dass Franz ihm helfen würde, ganz Navarra zurückzuerobern. Franz dagegen erwartete, dass er die Grenze gegen Spanien verteidigen würde und machte ihn zum Oberbefehlshaber in Guienne, eine Bezeichnung für Südwestfrankreich von den Pyrenäen bis Loire, vom Atlantik bis Auvergne.
Was Marguerite erwartete, wissen wir nicht. Ihre Ehe bedeutete für sie eine Zerreißprobe zwischen dem geliebten Bruder und dem Ehemann, und es war für sie nicht einfach, beiden gegenüber loyal zu sein.
Ihre Ehe bedeutete aber auch, dass sie endlich Mutter wurde. 1528 gebar sie ihre Tochter, Jeanne d´Albret, danach einen Sohn, der kurz nach dem Geburt starb, und dann – sie wurde ja nicht jünger – hatte sie eine Reihe von Fehlgeburten und Scheinschwangerschaften.
Als Königin mit eigenem Herrschaftsgebiet konnte sie jetzt Glaubensflüchtlingen Schutz bieten. Bei ihrem Bruder trat sie immer noch für Andersdenkende ein, sie konnte aber jetzt in Bourges luthersche Studenten und Dozenten an die Universität holen, sie brachte den alten Lefèvre d´Etaples bei ihrem Hof in Nérac unter, sie machte Gérard Roussel zum Bischof von Oloron, und sie stellte als Sekretäre bekannte humanistische Skribenten ein, unter ihnen Clément Marot, Dichter und Verfasser vom ersten gereimten französischen Psalter.
Anfänglich blieben sowohl sie wie ihr Gatte am Hofe. Sie verhandelte zusammen mit ihrer Mutter und Margaretha von Habsburg, Statthalterin der Niederlande, den sogenannten Damenfrieden von Cambrai aus. Sie empfing Botschafter, verhandelte mit dem Pabst, und hatte immer noch die Aufsicht über die königlichen Kinder. Sie reformierte Klöster überall in Frankreich, ihre Lektüre der Lutherschrift „Von den Mönchsgelübden“ hatte sie nicht dazu gebracht, die Klöster abzuschaffen, sondern eher Missstände abzubauen.
1531 veröffentlichte Marguerite ihr religiös-poetisches Werk „Ein Spiegel der sündigen Seele“. Die zweite Ausgabe 1533 wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und verboten. Wütend verlangte Franz I. die Rücknahme der Verurteilung, und die Universität fügte sich schleunigst. Als dann, 1534, die Plakataffäre mit ihrem Angriff auf die Messe und das katholische Abendmahlverständnis die Gemüter erregte, ging sie nach Südfrankreich. Dort konnte sie unter Anderen einem Flüchtling, dem jungen Calvin, weiterhelfen. Sie hatte seit jungen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, gepflegt, und jetzt schickten die zwei gleichgesinnten Verwandten einander hilfsbedürftige Glaubensflüchtlinge zu.
In den nächsten Jahren war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester etwas abgekühlt. Franz I. unterstützte die römisch-katholische Kirche nach Kräften, und Marguerite war vorsichtig geworden. Als der Berater des Königs ihn aber fragte, ob Gefahr bestünde, Marguerite könne zum Protestantismus übertreten, erwiderte der König: „Dafür liebt sie mich zu sehr!“, und behielt Recht damit.
Die Ruhe und Abgeschiedenheit am Hofe bedeutete für Marguerite Zeit für eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Die religiösen Gedichte waren wohl eher eine Art meditative Übung inmitten der oberflächlichen Geschäftigkeit des Hofes. Jetzt verfasste sie Schauspiele, die am Hof aufgeführt wurden. Angeregt durch die Beschäftigung mit den Schriften des Plato, die sie durch den italienischen Humanisten Pico della Mirandola und Marsilio Ficino kennengelernt hatte, dachte sie über das Wesen der Liebe nach, und ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von diesen Überlegungen geprägt. Sie ließ Platos Schriften ins Französisch übertragen, so wie sie auch die Novellen von Boccaccio, „Dekameron“, übersetzen ließ. Diese Novellen beeinflussten ihre berühmteste Werk, die Novellen, aus denen das „Heptameron“ besteht, und die von ihr über einen längeren Zeitraum zusammengefügt wurden. Sie gab nur ein Buch in Druck, „Les marguerites de la Marguerite des princesses“, die Perlen der Perle (Marguerite) der Prinzessinnen, mitsamt dem Folgeband: „Suyte des marguerites“ (1547). Alle andere Schriften von ihr waren zu ihren Lebzeiten nur als Manuskript vorhanden, aber das Heptameron wurde ungefähr zehn Jahren nach ihrem Tod als Buch herausgegeben, und zählt seitdem zu den Klassikern des 16. Jahrhunderts, obwohl es oft missverstanden worden ist – dazu mehr später (vgl. Nielsen, Theologie als Erzählung).
Eine andere wichtige Angelegenheit in den letzten Jahren, ihr Verhältnis zu ihrer Tochter Jeanne, wird im Artikel über diese behandelt. In den letzten Jahren hatte sie eine Auseinandersetzung mit Calvin über die Freigeister, die sich bei ihrem Hof aufhielten. Ihre Bedeutung für die Reformation wird später untersucht. Klar ist allerdings, dass sie als Katholikin starb. Als ältere Frau zog sie sich immer öfters in Klöstern zurück und auch, wenn sie nie besonders rechtgläubig war, trat sie nie aus der Kirche aus. Sie starb 1549 auf ihrem Schloss Odos.
Marguerite d`Angoulême war eine hoch begabte, zutiefst fromme Frau. Sie ging unbeirrt ihre eigenen Wege, und auch, wenn sie diskret war, ließ sie sich nicht einschüchtern. Ihre Verdienste für die Verbreitung der Reformation sind offenkundig, und in Genf wusste Calvin sehr wohl, wie dankbar er ihr sein musste. Dabei war die geistige Freiheit ihr ohne Zweifel eine Herzensangelegenheit, während ihre Tochter und Enkelin mit Nachdruck Partei ergriffen. Zu Marguerites Zeiten waren diese geistige Freiheit und die Hoffnung, die katholische Kirche von innen zu erneuern und zu „reformieren“, ohne die Glaubensspaltung vollziehen zu müssen, noch möglich. Diese Umstände gaben ihr etwas Spielraum, den spätere Generationen nicht länger hatten.
Literatur
In Deutschland ist die Literatur zu Marguerite d´Angoulême übersichtlich. Zu erwähnen sind:
Margarete von Navarra: Das Heptameron, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, mit einem ausgezeichneten Nachwort von Peter Amelung. Neudruck München 1979, 1999 (dtv 12710)
Eltz-Hoffmann, Lieselotte von: Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995
Kraus, Claudia: Der religiöse Lyrismus Margaretes von Navarra, München 1981
Schönberger, Axel: Die Darstellung von Lust und Liebe im Heptaméron der Königin Margarete von Navarra, Frankfurt a/M 1993
Sckommodau, Hans: Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, Köln 1955
Sckommodau, Hans: Galanterie und vollkommene Liebe im „Heptaméron“, Münchener Romanistische Arbeiten, Band 46, München 1977
Sckommodau, Hans: Die spätfeudale Novelle bei Margareta von Navarra, Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Bd. XIV, Nr. 4, Wiesbaden 1977
Zimmermann, Margarete: Der Salon der Autorinnen: französische „dames de lettres“ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2005
Stedman, Gesa & Zimmermann, Margarete: Höfe – Salons – Akademien, Hildesheim 2007
Hinzu kommt eine Übersetzung:
Febvre, Lucien: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion, Frankfurt a/M 1998 (Originaltitel: Autour de l´Heptaméron: Amour sacré, amour profane, Paris 1996)
Allgemeine Kirchengeschichte:
Strasser-Bertrand, Otto Erich: Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1975
In Frankreich zählt sie zu den wichtigen Renaissancedichterinnen. Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke von Nicole Cazauran ist in Arbeit:
Marguerite de Navarre: Oeuvres Complètes, Paris 2001. Bisher erschienen:
Heptaméron, Paris 2000 und die Bände 1,3,4,8 & 9
Die klassische Biografie ist:
Jourda, Pierre: Marguerite d´Angoulême, duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Étude biographique et littéraire, Paris 1930, Genf 1978
Jourda, Pierre: Répertoire analytique et chronologique de la Correspondance de Marguerite d´Angoulême, Duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Paris 1930
Christine Martineau, Michel Veissière & Henry Heller: Guillaume Briçonnet/Marguerite de Navarre: Correspondance, 2 Bd., Paris 1975-79
Herminjard, Aimé, hrsg.: Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Genf 1886-79
In Heptaméron, ed. Nicole Cazauran, ist weiterführende Literatur erwähnt. Hier verweise ich nur auf drei Kolloquien aus dem Jahr 1992:
Marguerite de Navarre, 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau (1992), Mont-de- Marsan 1995
Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de Navarre, Colloque de Nice, 15-16 Fèvrier 1992, Uni.de Nice, o. J.
Marguerite de Navarre, Actes du colloque international du 14 au 16 septembre 1992, Lódź 1997
Karlsson, Britt-Marie: Sagesse divine et folie humaine, Etude sur les structures antithétiques dans l´Heptaméron de Marguerite de Navarre (1492-1549), Göteborg 2001
Montaigne: Oeuvres complètes, Paris 1962
Ausgewählte Literatur in englischer Sprache:
- Patricia F. Cholakian & Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre, Mother of the Renaissance, New York 2006
- Cholakian, Patricia F.: Rape and Writing in the Heptameron, Carbondale 1991
- Cottrell, Robert D.: The Grammar of Silence, A Reading of Marguerite de Navarre´s Poetry, Washington D.C. 1985
- Davis, Betty J.: The Storytellers in Marguerite de Navarre´s Heptaméron, Lexington 1978
- Davis, Natalie Zemon: Society and Culture in Early Modern France: eight Essays, Stanford 1975
- Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France, The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985
- Ferguson, Gary: Mirroring belief: Marguerite de Navarre´s Devotional Poetry, Edinburgh 1992
- Gelernt, Jules: World of Many Loves, The Heptameron of Marguerite de Navarre, Chapel Hill 1966
- Greengrass, Mark: The French Reformation, London 1987
- Salmon, J.H.M.: Society in Crisis, France in the Sixteenth Century, London 1975
- Tetel, Marcel: Marguerite de Navarre´s “Heptaméron”: Themes, Language and Structure, Durham N.C. 1973
Zwischen Toleranz und Antijudaismus
Martin Bucer und Philipp Melanchthon und ihr Verhältnis zum Judentum
Schon vor der Reformation waren die Juden Westeuropas fast vollständig aus den meisten Städten und Territorien vertrieben worden. Zu den wenigen protestantischen Territorien, in denen Juden im 16. Jahrhundert noch geduldet wurden, gehörte die Landgrafschaft Hessen unter Philipp I. (1504-1567). Auf Druck der hessischen Geistlichen kam jedoch 1539 eine Judenordnung zustande, die die Lebensbedingungen der jüdischen Gemeinden massiv beeinträchtigte. Der Jude Josel von Rosheim (1476-1554[?]), der bis zuletzt gegen die Verschärfungen in der Judenordnung angekämpft hatte, schrieb aus diesem Anlass eine Trostschrift an seine verfolgten Glaubensbrüder in Hessen.
Diese Trostschrift ist eines der wenigen erhaltenen Dokumente, die die Zeit der Reformation aus jüdischer Perspektive beleuchteten. Josel von Rosheim war Vertreter und Verteidiger der jüdischen Gemeinden in rechtlichen und religiösen Angelegenheiten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Durch seine vielen Reisen und seine zahlreichen diplomatischen Kontakte war er bestens informiert über die Situation im Reich und über die Auswirkungen der Reformation. Zudem hat er einige protestantische Fürsten und Reformatoren persönlich gekannt.
Seinem Urteil über die Reformation kommt somit einige Bedeutung zu. Und hier ist von Interesse, dass sein Urteil überaus kritisch ausfiel; Josel von Rosheim sah in den reformatorischen Neuerungen eine massive Verschlechterung für die jüdische Situation. Gleichwohl versuchte er in seiner Trostschrift zu differenzieren: Unter den Führern der Reformation gäbe es auch solche, die nicht in den verbreiteten Antijudaismus einstimmen würden. Josel erklärte diesen Umstand folgendermaßen:
”Aber dargegen gibt Gott den großen Heuptern, solchen verstanndt, daß sie auch versteent die h[eilige] geschrift, dardurch sie uns wider solche gnediglich erhalten, und keren sich nit an alle giftige geschrey über uns; Je großer die herren seint, so großer sie auch gnad von Gott haben “.
Josel von Rosheim sah also in der intellektuellen Größe einzelner führender Persönlichkeiten den Grund, dass sie aus der Heiligen Schrift die heilsgeschichtliche Besonderheit Israels erkannten und deshalb immun waren gegen das ”giftig Geschrei“ der Menge. Das begnadete Verständnis der Heiligen Schrift war für Josel von Rosheim demnach ein wichtiger Faktor für das positive Verhalten gegenüber dem Judentum.
In diesem Beitrag möchte ich untersuchen, ob dieses Urteil zutreffend ist, und danach fragen, welche Faktoren im 16. Jahrhundert die Einstellung gegenüber dem Judentum bestimmt haben. Als Beispiele dazu habe ich Martin Bucer (1491-1551) und Philipp Melanchthon (1497-1560) ausgewählt. Josel von Rosheim hat beide Reformatoren persönlich gekannt und sich in seiner Trostschrift über sie geäußert; seine Urteile fielen gegensätzlich aus: In dem Straßburger Reformator Bucer sah Josel den Inbegriff eines ”vergifteten Gemüts“, das mit seinen gefährlichen Äußerungen zum Judenhass beigetragen habe. In seiner Trostschrift notierte er:
”Aber es befremdet mich von dem Butzero dieweil er [...] on noth und gezwang, wi[e]der ein hertere disputation, wider uns armen zugericht, und [...] offentl. trugkt [= gedruckt], uns armen gar hinzulegen [= zunichte zu machen] [...]. do er aber feelt, und Gott kein wolgefallen doran hat, sollich seine geschwinde [= gefährlichen] urtheilen, so er über uns armen schreibt, würt Gott nach seinem Willen das wol offenbar machen welcher Rathgeber uß Gott oder uß vergiftem gemieth“.
Im Hintergrund stand hier der Umstand, dass Bucer 1538 für die neue hessische Judenordnung einen ”Judenratschlag“ mitverfasst hatte, in dem folgende Maßnahmen vorgesehen waren: Handels- und Wucherverbot für Juden, Ausschluss von öffentlichen Ämtern, einkommensgestaffelte Schutzgeldbestimmungen, Enteignung reicher Juden, Zwangsarbeit mit den allerniedrigsten Verrichtungen, Verbot des Baus neuer Synagogen, Verbot talmudischer Schriften, Verpflichtung zum Judeneid und zur Teilnahme an judenmissionarischen Predigten. Ein Verstoß gegen diese Bestimmungen wurde mit Vertreibung bzw. Todesstrafe bedroht.
Diese Vorschläge waren für die hessische Judenordnung von 1539 maßgebend, und Bucer untermauerte seine Vorschläge eigens mit einer Rechtfertigungsschrift. Diese Schrift war für Josel der Anlass, seine ”Trostschrift ahn seine Brüder wider Buceri Büchlein“ – so der vollständige Titel – zu verfassen. Anders verhielt es sich mit dem Wittenberger Reformator Melanchthon. Ihn zählte Josel zu den ”großen Heuptern“, die sich gegen antijüdische Verleumdungen gewandt hatten. In seiner Trostschrift berichtete Josel:
”Sehet jetzt auf nechst gehaltenem tag zu franckfort durch den hochgelerten Dr. Philippum Melancton ißt dem Hochgebornen fürsten und Herren, Marggr[af] Joachim [II.] von Brandenburg Churf[ü]r[st], glaubhaftig fürgepracht worden, wie von Tyrannen die armen Juden, bey seines Vattern [Joachim I.] seligen leben zu unrecht verbrannt worden “.
Diese Mitteilung bezog sich auf den Brandenburger Hostienschändungsprozess von 1510. Damals waren 38 Juden des Hostienfrevels angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Zudem wurden alle Juden aus dem Kurfürstentums vertrieben. Melanchthon aber enthüllte 1539 auf dem Frankfurter Fürstentag, dass der Brandenburger Bischof damals der Öffentlichkeit ein entlastendes Beichteingeständnis vorenthalten und den Tod der 38 Juden billigend in Kauf genommen hatte. Ein Christ, der zu Recht des Hostiendiebstahls verdächtigt wurde, hatte nämlich seinem Priester gebeichtet, dass er die Juden absichtlich verleumdet hatte. Dessen Beichteinge ständnis sei aber den Richtern und der Öffentlichkeit auf Betreiben des Brandenburger Bischofs vor enthalten geblieben.
Diese überraschende Mitteilung Melanchthons hatte zur Folge, dass Josel von Rosheim beim Kurfürsten eine Wiederaufnahme der Juden in Brandenburg erreichen konnte. Es verwundert also nicht, wenn Josel von Rosheim Bucer als gefährlichen Gegner des Judentums betrachtete, Melanchthons Eintreten auf dem Frankfurter Fürstentag jedoch als hoffnungsvolles Zeichen wertete.
Im folgenden soll nun untersucht werden, wie beide Reformatoren zu ihren Haltungen gegenüber dem Judentum gekommen sind und welche theologischen Zusammenhänge dafür ausschlaggebend waren. Dabei gilt es zunächst, die Israel-Lehren der beiden Reformatoren zu untersuchen.
1. Die Wittenberger Dialektik von Gesetz und Evangelium
Die Israel-Lehre des Wittenberger Reformators Melanchthon gilt in der Forschung als überaus ”israelfreundlich“. Im Melanchthon-Jahr 1997 wurde ihm gleich von mehrfacher Seite eine Offenheit für den christlich-jüdischen Dialog bescheinigt. Dieses Urteil bezieht sich im wesentlichen auf das Frühwerk Melanchthons, die Loci communes von 1521. Dieses Werk ist jedoch wenig aussagekräftig für Melanchthons Israel-Lehre, da er an entscheidenden Stellen zum Teil schon ein Jahr später grundlegende Veränderungen vorgenommen hat.
So wehrte sich Melanchthon z.B. in den Loci von 1521 gegen eine Auftei lung von Gesetz und Evangelium auf das Alte und Neue Testament. Zwei Jahre später jedoch betrachtete er die Gesetzespredigt als das Proprium des Alten und die Evangeliumsverkündigung als das Pro prium des Neuen Testaments. Ebenso bezeichnete er Mose in den Loci von 1521 noch als ”non iam legis minister, sed evangelista“; doch schon ab der Ausgabe von 1522 betonte Melanchthon den Unterschied
”inter Mosen et Christum, inter legem et Evan gelium. Moses veteris testamenti, hoc est, legis minister erat. Christus novi testamenti, non legis quidem, nam ea iam antea promulgata erat, ministerio Mosi, sed re missionis peccatorum.“
Außerdem plädierte er noch 1521 dafür, die Rechtsprechung an den mosaischen Gesetzen zu orientieren, da die Christen in den Ölbaum Israels eingepfropft seien (vgl. Röm 11,17). Später zeigte er sich dann zurückhaltender gegenüber einer unmittelbaren Anwendung des Mosegesetzes. Als Grundlage für die bürgerliche Gesetzgebung empfahl Melanchthon nunmehr das römische Recht. Auf mosaische Gesetze dagegen dürfe nur zurückgegriffen werden, sofern diese mit dem Naturrecht in Einklang stünden.
Und auch das paulinische Ölbaumgleichnis deutete Melanchthons immer stärker in Richtung einer Substitution Israels durch die Gläubigen der christlichen Kirche. Der Grund für diese signifikante Veränderung in der Israel-Lehre Melanchthons lag in den sog. Wittenberger Unruhen von 1521/22. Unter Berufung auf das alttestamentliche Bilderverbot hatten nämlich einige Bürger begonnen, die Bilder aus den Kirchen gewaltsam zu entfernen.
Dies führte bei Luther und Melanchthon dazu, dass sie die Bedeutung des Alten Testamentes für die kirchlichen Reformen zurückwiesen. Als schließlich auch sozial reformerische Forderungen des Bauernaufstandes (1524/25) mit dem Alten Testament begründet wurden, wandte sich vor allem Melanchthon entschieden gegen den Versuch, das mosaische Gesetz dem geltenden Recht überzuordnen und dadurch anarchische Zustände herbeizuführen. Statt dessen ging Melanchthon dazu über, das Mosegesetz dem Naturgesetz unterzuordnen.
Analog zu Luther entwickelte er die Dialektik von ”Gesetz und Evangelium“. Dieses Prinzip von ”Gesetz und Evangelium“ sah Melanchthon zwar schon im Alten Testament vertreten, wodurch er eine gewisse Einheit der beiden Testamente festhalten konnte. Doch zugleich brachte er mit dem Prinzip ”Gesetz und Evangelium“ auch die heilsgeschichtliche Gegenüberstellung der Testamente zum Ausdruck. Diese offensichtliche Spannung wird verständlich vor dem Hintergrund, dass Melanchthon die Einheit der Testamente im wesentlichen auf die Glaubensväter des Alten Testaments bezog.
Die konkreten Gesetze und Verheißungen des Alten Testaments jedoch waren für ihn von untergeordneter Bedeutung. Nur sofern sie mit dem ewig geltenden Natur gesetz übereinstimmten oder den künftigen Mittler verhießen, ragten sie gewissermaßen in den Neuen Bund hinein:
”Wiewol nu das Gesetz Moisi, seine eigen zeit gehabt, und al lein dem Jüdischen volck gegeben ist. So gehet doch das Gesetz der natur (wel ches mit den zehen Geboten uber ein stimmet) von anbe gin der Welt bis zum ende, alle Menschen, Jüden und Heiden an, Denn es ist in aller Menschen hertzen gebildet und geschrieben. [...] nach dem diese Verheissung, das ist, das Euangelium von Christo, allen Menschen von anbegin der Welt, Gottes gnade, und heil anbeut, und alle angehet, So sollen wir das wort, Testament, nicht also verstehen, als gehe es die Patriar chen oder Veter nichts an, Sondern new Testament, das ist ein new Bund, ein new wort und göttliche Ver heissung, und etwas anders und höhers, denn der bund des Gesetzes. Denn unter dem Gesetz hatten sie allein verheissung von zeitlichen dingen, des Königreichs Israel etc. Das Euangelium aber ist ein newer Bund, ein new Testament, und ein newe göttliche Verheissung“.
D.h., nur als Ausdruck des Naturgesetzes oder des Christusevangeliums war das Alte Testament für die christliche Kirche von bleibender Bedeutung. Im Blick auf die konkrete geschichtliche Ausgestaltung des alttestamentlichen Bundes hatte das Alte Testament jedoch mit dem Kommen Christi jede Bedeutung verloren. Auf die Frage, welchen Zweck der ”Bund des Gesetzes“ denn gehabt habe, antwortete Melanchthon:
”Gott wollte damals, dass das mosaische Staatsgefüge von den anderen Völkern unterschieden sei, damit es einen sicheren und offenkundigen Ort gäbe, und ein bestimmtes, kenntliches Volk, wo der Mittler geboren würde, wo die Zeugnisse von der Verheißung verkündet würden usw. Später ist dieses Staatsgefüge als abschreckendes Beispiel aus vielerlei Gründen zerstört worden.“
Das alttestamentliche Israel repräsentierte somit für Melanchthon nur den äußeren Ort, an dem Gott vorübergehend die Lehre und Ver kündigung vom kommenden Mittler aufgehoben wissen wollte. Zu diesem Zweck sei die politia Moisi mit besonderen Vorschriften und Gesetzen ausgestattet worden; diese hätten aber mit dem Anbruch des Gottesreiches unter Christus und dem Ende des jüdischen Staates (70 n. Chr.) ihre Berechtigung verloren.
2. Die oberdeutsche These von der Einheit des Bundes
Im Unterschied zu Melanchthon hat der oberdeutsche Reformator Bucer eine deutlich andere Israel-Lehre vertreten. Nicht die Dialektik von Gesetz und Evangelium bestimmte sein Denken, sondern die These von der substanti ellen Einheit des Bundes:
”Das Verhältnis von Neuem und Altem Testa ment ist im wesentlichen nicht das eines neuen Testaments, das durch Christus Bestand hat, und das eines alten [Testaments], das Gott mit den Vätern geschlossen hat. Beide sind nämlich von Grund auf idem in substantia.“
Die Besonderheit in der Bundestheologie Bucers lag darin, dass er sowohl für den Inhalt als auch für die Einrichtungen (instituta) des Alten Bundes eine Kontinuität zum Neuen Bund behauptete. Das Gesetz des Alten Bundes z.B. war für Bucer keineswegs abgetan:
”Denn das durch Mose über lieferte Gesetz Gottes [...] ist ein Gesetz, das geradlinig und vollkommen ist und die Seele dessen wiederaufrichtet, der sich selbst erforscht; es ist ein zuverlässiges Zeugnis von Gott, wodurch er den Unerfahreneren Weisheit vermittelt; es sind treffliche Anordnungen, die das Gemüt erfreuen; es sind klare Vorschriften, die die Augen erleuchten; es ist eine gewissenhafte Lehre der Religion, die ewig Bestand hat; es sind wahrhafte Grundsätze, in denen es keine Ungerechtigkeit gibt [... und] mit denen allein der Knecht Gottesrecht unterwiesen wird und, wenn er sich um sie müht, hundertfachen Lohn empfängt [vgl. Ps 19,8ff].
Diese gesetzlichen Einrichtungen (Riten, Zeremonien, bürgerliche Gesetze und Vorschriften) waren für Bucer Bestandteil des einen Bundes und auch im Neuen Bund keineswegs einfach abgetan:
”Die Gegner führen wiederholt den Grundsatz an: Die den Al ten gemachten Vorschriften seien für uns [nur] Bilder [vgl. 1 Kor 10,6], die verschwinden müssten, sobald das Wesen der Sache selbst erscheine [...]. Daraus würde allerdings folgen, dass auch die äußere Lehrtätigkeit und das Amt der Obrigkeit aufgehoben wären. Denn diesbezüglich finden wir bei Mosche viele Vorschriften, die sowohl innere und geistliche Unterweisungen sind, als auch Vorbilder und Abbildungen des Reiches Christi in den Herzen. Folglich ist im Reich Christi nicht alles abgeschafft, was bei Mosche äußerlich vor geschrieben und daher im Blick auf das Reich Christi [nur] Abbil dung und Abschattung der geistlichen Dinge war [vgl. Kol 2,17] [...]. Denn auch wir le ben noch im Fleisch [...], und deshalb haben auch wir Zere monien nötig.“
Dies galt nun allerdings nicht unterschiedslos für alle Vorschriften des mosaischen Gesetzes. Als abgeschafft galt Bucer alles, was dem spezifischen ministerium Moseos zuzurechnen sei, d.h. was nur eine auf Christus vor ausweisende Funktion gehabt habe oder nur ein Zugeständnis ( accessoria) an die Zeitumstände (circunstantiae corporales) gewesen sei:
”[...] auch in jenen äußeren [Vorschriften] hat Gott allein diese [pietas] erwartet: beim Opfern Glauben, in der Recht sprechung Liebe und bei den übrigen Riten eine anständige Lebensweise. Soweit sie aber nur Äußeres enthalten, wie das Werk selbst, den Ort, die Zeit, die Person, die Anzahl, die Beschaffenheit und andere äußere Umstände [...], auf die Gott niemals irgendeinen Wert gelegt hat, liegt es derart fern, dass Gott seine Lehre und sein Gesetz darauf errichtet hätte. Die se accessoria sind also mit Sicherheit nicht mit dem Begriff und dem Ehrentitel des göttlichen Gesetzes gemeint, obgleich die Heiligen sie zu ihrer Zeit genau beachten mussten.“
Unter diesen accessoria fasste Bucer vor allem das alttestamentliche Zeremonialgesetz. Das Judizialgesetz dagegen erachtete er für derart vorzüglich, dass es zu ”bedauern ist, dass die Christen ihre Staatsangelegenheiten weniger nach diesen Gesetzen Gottes als nach denen der Menschen regeln. [Denn] geradezu alles, was den Schutz der wahren Religion, die Regelung des zwischenmenschlichen Handels und alle Förderung von Sitte und Anstand anbetrifft, ist jenen in der Weise vorgeschrieben und überliefert worden, dass man sich nichts Vollkommeneres vorstellen kann.“
Diese inhaltliche und formale Kontinuität der beiden Testamente wurde von Bucer u.a. abgesichert durch den Hinweis, dass die Kirche keineswegs einem neuen, anderen Bund angehöre, sondern dem alttestamentlichen Bundesvolk eingepfropft sei (vgl. Röm 11,16-24; Eph 2,11-22; 3,6):
”Somit gibt es [nur] einen einzigen Wurzelstamm des Herrn, ein und dasselbe Volk [und] eben denselben Leib – vom ersten Auserwählten bis zum letzten [...]. Das neue Volk, das Gott durch den Herrn Jesus aus den Völ kern aufgenommen hat, ist es also nicht in der Weise, dass es von dem Alten verschieden ist; sondern es ist dem Alten [Volk] einge pfropft, damit es im Blick auf den Lebenswandel vor Gott stärker hervorrage.“
Durch die Aufnahme in den bereits bestehenden Bund würden die Christen auch auf die inhaltlichen und formalen Voraussetzungen des Bundes verpflichtet. Im Blick auf die Ehescheidung formulierte Bucer beispielsweise folgenden Grundsatz:
”Was der Herr seinem Alten Volk erlaubt und ins besondere vorgeschrieben hat, bezieht sich auch auf die Christen. [...] [Denn] was der Herr schon seinem erstgeborenen Volk erlaubt und vorgeschrieben hat, dies kann er den Hinzugekommenen aus den Völkern, die er zu Miterben und Miteinverleibten seines Volkes gemacht hat (Eph 3[,6]), freilich unmöglich verbieten.“
Dies bedeutete nun aber keineswegs, dass Bucer jeden Unterschied zwischen den Testamenten in Abrede gestellt hätte. Auch er benannte Unterschiede, doch waren sie bei ihm von vornherein der Lehre von den drei Epochen der Heilsgeschichte (”Triplex aetas populi Dei“35) untergeordnet. Bucer unterteilte die Heilsgeschichte nämlich in eine pueritia, eine aetas adultior und eine aetas plene virilis. Die beiden ersten Epochen repräsentierten den Alten und Neuen Bund und würden sich im wesentlichen nur durch die Intensität der Geistesgabe von einander unterscheiden. Einen gravierenden Unterschied sah Bucer erst im Übergang zur letzten Epoche, dem himmlischen Zeitalter:
”Wenngleich aber das mittlere Zeitalter, in dem das Wort des Evangeliums regiert, geistlicher ist als das der Kindheit, so ist es doch nicht ganz geistlich, wie es das volle Mannesalter, d.h. das himmlische Leben, sein wird. “
Der entscheidende Unterschied war also nicht der von Altem und Neuem Bund, sondern der von ‚Schon’ und ‚Noch-nicht’:
”Bi unns ists aber auch noch nit volku men, sonder stuckwerck, 1.Cor.13 [V.9-12]. Unnd erwarten noch, das wir das volkomen alter Chri sti erlangen. Darumb wir gleych jm mittel seind des alten unnd künfftigen volcks. “
Angesichts dieses eschatologischen Vorbehalts bewegten sich die von Bucer benannten Unterschiede zwischen Altem und Neuem Bund ausschließlich auf der Ebene einer quantitativen Differenz. Der Grund für diese deutlich andersgelagerte Israel-Lehre Bucer lag darin, dass er seine Theologie nicht wie Melanchthon gegenüber Bilderstürmern und Bauernforderungen zu profilieren hatte, sondern gegen über den täuferischen Gruppen in Straßburg. Und hier diente ihm die These von der Einheit des Bundes dazu, mit Hilfe der alttestamentlichen Kinderbeschneidung die christliche Praxis der Kindertaufe zu rechtfertigen.
Betrachtet man die Israel-Lehren der beiden Reformatoren, so überrascht das Ergebnis zunächst einmal. Aufgrund der eingangs genannten Urteile Josels von Rosheim hätte man eher bei dem erklärten Judengegner Bucer eine stärkere Abwertung des Alten Testamentes erwartet und nicht bei dem offensichtlich moderateren Melanchthon. Doch die Einschätzung des Alten Bundes hatte in der Reformationszeit ihren hauptsächlichen Ort in der innerchristlichen Auseinandersetzung; über die Verhältnisbestimmung zum Judentum sagt die Einschätzung des Alten Bundes offensichtlich wenig aus. Deshalb soll nun in einem zweiten Schritt die theologische Beurteilung des Judentums durch Melanchthon und Bucer untersucht werden.
3. Die theologische Beurteilung des Judentums durch Melanchthon
Bereits oben wurde deutlich, dass Melanchthon die Substitution Israels durch die Kirche voraussetzte. Melanchthon war der Überzeugung, dass die Juden ohne Christus verworfen seien: ”Wer nicht zum HErn Christo bekeret wird, ist gewisslich verworffen“. Zwar habe Gott bis zum Kommen Christi immer einen kleinen Rest auserwählt, um die Kontinuität der ”wahren Kirche“ zu gewährleisten. Doch sei ”in dem Israelitischen Volck zu allen zeiten schier das größte teil des Volckes Abgötisch gewesen“.
Die Verheißungen seien fleischlich missverstanden worden, durch die Einhaltung des Gesetzes glaubte man, vor Gott gerecht werden zu können und durch Opfer und Zeremonien Sündenvergebung zu erlangen. Die ”wahre Kirche“ hingegen, die die se Zustände missbilligte, wie z.B. der Kreis um die Propheten, sei von den Priestern und Leviten verfolgt worden. Dies alles habe schließlich dazu geführt, dass ”GOTTES kirch schrecklich zum sawstal und zur mördergruben gemacht“ worden sei.
Aufgrund ihres Unglaubens und wegen der Verfolgung des Evangeliums habe Gott schließlich Jerusalem durch die Römer zerstört und somit der politia Moisi ein für allemal ein Ende gesetzt:
”Er wollte, dass jene politia ausgelöscht würde, damit man einsehe, dass für die Gerechtigkeit vor Gott das Gesetz nicht notwendig ist und die Zeremonien nicht die maßgebliche [Form der] Gottesverehrung dar stellen. Wenn jene politia bestehen geblieben wäre, dann allezeit [auch] folgende Vorstellung: ‚Wir Juden haben den Vorzug; die Menschen müssen zu uns kommen und von uns das Gesetz und die Zeremonien lernen. Wir müssen das Gesetz auf alle Völker ausdehnen.’ Wünschenswert ist eine Übereinkunft im Menschengeschlecht, aber schon die Ruinen und Trüm mer Jerusalems zeigen, dass das Gesetz aufgehoben ist.“
Die politia Moisi hatte für Melanchthon vor allem den Zweck, das jüdische Volk von den anderen Völkern zu unterscheiden und für die Verheißungen und das Christusgeschehen den äußeren Rahmen abzugeben (s.o.). Nach dem Kommen Christi und der Errichtung des universalen Christusreiches habe darum die heilsgeschichtliche Sonderrolle des jüdischen Volkes ihr Ende gefunden: ”Post quam Christus apparuit, non vult amplius Deus eum populum a gentibus discerni.“
Ohne den Glauben an das wahre Evangelium blieben die Juden auf einer Stufe mit den Heiden, Muslimen und Ketzern. Wie die Muslime und Heiden würden sie Christus als Gottessohn ablehnen, ei nen Abgott anbeten und somit gegen das erste Gebot verstoßen. Ihre Kinder könnten ohne eine christliche Taufe nicht gerettet werden, sondern würden in Sünde und Verdammnis bleiben. Auch die von Juden weiterhin praktizierte Beschneidung entbehre post Christum der göttlichen Legitimation: ”Also ist der jetzigen Jüden und Türcken be schneidung kein Sacrament
mehr, Sondern sie spotten Gottes damit.“
Außerdem hielt Melanchthon die Juden für verblendete, gottlose Gesellen, die dem Machtbereich des Teufels zugehörten und dem Wahn verfallen seien, das Gesetz halten zu können. Ihre strenge Einhaltung der Sabbatruhe z.B. sei ein Ausdruck von ”Werk gerechtigkeit“ und entspringe einer abergläubischen Vorstellungswelt. Zudem würden sie immer noch der irrigen Auffassung anhängen, der Messias werde sie nach Palästina zurückbringen und dort ein weltliches Reich der Juden errichten.
Einen Grund für die Irrtümer der Juden sah Melanchthon in ihrem mangelnden Schriftverständnis. Sie hätten zwar die für das Verstehen des Alten Testaments unverzichtbare hebräische Sprache bewahrt, wegen unzureichender Kenntnisse in Dialektik und Rhetorik ermangele es ihnen jedoch an dem notwendigen Verständnis der Zusammenhänge. Durch ihre Spitzfindigkeiten, Wortverdrehungen und Halluzinationen würden sie den Sinn der Schrift nachhaltig entstellen. Dies gelte vor allem für die messianischen Verheißungen.
Auch Melanchthons Römerbrief kommentar von 1540 blieb von dieser grundsätzlich negativen Sichtweise des jüdischen Glaubens bestimmt. In seinem Kommentar ging Melanchthon davon aus, dass der Großteil des jüdischen Volkes durch eigenes Verschulden von Gott verworfen sei und jeglichen Anspruch auf die Verheißungen Israels verloren habe. In dieser Auffassung ließ sich Melanchthon auch dadurch nicht beirren, dass die entscheidenden Passagen des Römerbriefes (z.B. Röm 3,3; 9,6a; 11,1.11) gegenteilige Aussagen machen.
Vielmehr versuchte er dem drohenden Widerspruch zu begegnen, indem er herausstellte, dass für einen geringen Rest unter den Juden die Verheißungen Israels durchaus in Kraft blieben – dies aber natürlich nur, sofern sie sich zum christlichen Glauben bekehrten:
”Haben die Juden etwa deshalb die Verheißungen verloren, und ist das ganze Volk [deshalb] verworfen, weil sie nicht an Christus geglaubt, sondern ihn getötet haben? Paulus antwortet, dass die Gnadenverheißung nicht ungültig gemacht worden ist, sondern für alle, die glauben, in Geltung bleibt, auch wenn die meisten sie [d.h. die Verheißung] verschmähen.“
In der Perspektive Melanchthons hatte Gottes Treue zu Israel also nur innerhalb der christlichen Kirche Bestand; d.h. Juden müssten sich zum christlichen Glauben bekehren, um der Verwerfung des jüdischen Volkes zu entgehen. Die Warnung des Paulus vor einem (heiden-)christlichen Hochmut gegenüber den Juden (Röm 11,18-24) nahm Melanchthon zwar zur Kenntnis, sie diente ihm jedoch lediglich dazu, den Alleinvertretungsanspruch der römischen Kirche zurückzuweisen. Dennoch kam Melanchthon nicht umhin, sich mit der paulinischen
Auffassung von der endzeitlichen Errettung ganz Israels (Röm 11,25f.) auseinander zu setzen. Bereits zu Röm 9,28 vermerkte er, dass der Großteil des jüdischen Volkes am Ende der Zeit untergehen werde und nur einige wenige, die sich zum Evangelium bekehrten, errettet würden. In dieser Auffassung sah er sich auch durch Röm 11,25f. nicht ernst haft in Frage gestellt:
”Paulus fügt noch eine Weissagung von der Bekehrung der Juden hinzu, die wohl so zu verstehen ist: Es wird geschehen, dass bis zum Ende der Welt allmählich einige von den Juden bekehrt werden. Denn ich weiß nicht, ob er damit meint, dass am Ende der Welt noch irgendeine Bekehrung einer großen Menge bevorsteht. Da dies ein Geheimnis ist, sollen wir es Gott überlassen.“
Aus der endzeitlichen Errettung ganz Israels bei Paulus ist hier also die allmähliche, vorendzeitliche Bekehrung einzelner Juden geworden. Melanchthons negative Sichtweise des jüdischen Glaubens und die Auffassung von der grundsätzlichen Verwerfung des jüdischen Volkes machten es ihm offensichtlich unmöglich, den wörtlichen Sinn der paulinischen Ausführungen zu akzeptieren.
4. Die theologische Beurteilung des Judentums durch Bucer
Anders verhielt es sich bei Bucer. Er teilte zwar die negative theologische Einschätzung des Judentums, doch er hatte große Schwierigkeiten, diese Auffassung mit seiner These von der Einheit des Bundes und der Auslegung des Römerbriefes zusammenzubringen. Nichtsdestotrotz stand für Bucer fest, dass das Judentum post Christi adventum von Gott verworfen und wegen seiner zahlreichen Vergehen aus dem Land der Verheißung ver trieben wurde: ”Darumb sye dises land auch, da sye so gar von Got abgefallen waren, auß speyet und nit duldet.“ Das den Juden einst zum Leben gegebene Gesetz bringe ihnen ohne den Glauben an Christus nichts als Tod und Verdammnis. Und selbst die ihnen vormals zuteilgewordene Gnade des Bundes habe seine Wirkung verloren und sei auf die Kirche übergegangen:
”So sind auch wir längst von Natur Kinder Got tes und voll von dem Leben des rechten Ölbaums. Die Juden aber, die nun unter dem Reich des Satans leben, sind wilde Ölbäume, ohne irgendeine gute Frucht.“
Trotz dieser Eindeutigen Aussagen schwankte Bucer in seinem Urteil über die Ursache der jüdischen Verwerfung. Ei nerseits sah er die jüdische Verstockung bereits im göttlichen Ratschluss vorgezeichnet:
”Indem [...] die Juden aber durch den geheimen Ratschluss Gottes verstockt sind und zudem Christus mit dem größten Hass verfolgt haben [...], sind sie nun ganz und gar aus dem Heil herausgefallen; dass dies so geschehen musste, beweist er [d.h. Paulus] wiederum aus den Sprüchen der Propheten.“
Andererseits versuchte Bucer, den Eindruck eines willkürlich handelnden Gottes zu vermeiden; er verwies deshalb auf die Zurückweisung und Kreuzigung Christi und machte die jüdische Missachtung des göttlichen Willens für ihre Verwerfung verantwortlich:
”Gott hat in seinem geheimen, aber gerechten Urteil beschlossen, in der Zeit des offenbarten Evangeliums die meisten aus dem Volk der Juden zu verwerfen. Und die Juden haben es durch ihren Unglauben und das Vertrauen auf die Werke so verdient.“
Bucer selbst war sich jedoch darüber im Klaren, dass eine exklusive Betonung der jüdischen Verwerfung, aber auch schon die jüdische Ablehnung des Evangeliums selbst, seine These von der substantiellen Einheit des Bundes in Frage stellen musste:
”Denn weil man den Juden als einzigen zutraute, die wahre Religion stets zu befolgen, und Christus ihnen eigens verheißen worden war, verunsicherte es die meisten aus den gottesfürchtigen Völkern [...], dass keine anderen Menschen den Herrn Jesus so sehr verfluchen und so rasend verfolgen [...] wie die Juden [...]. Es schien nämlich nicht mit der göttlichen Güte zusammenzupassen, dass Gott dieses Volk, dem er sich beginnend mit dem Stammvater Abraham im Unterschied zu allen Völkern der Welt durch so vorzügliche und fortwährende Wohltaten hingegeben hatte, nun derart fallen lässt und aufgibt, so dass er ihnen – anders als allen ande ren Menschen – seinen Christus vorenthält.“
In seiner Auslegung von Röm 9-11 versuchte Bucer, dieses theologische Problem auf folgende Weise zu lösen: Er verwies zunächst darauf, dass die Verheißungen Israels nur den Erwählten gegolten hätten, nicht aber automatisch allen leiblichen Nachkommen des jüdischen Volkes. Von den Juden seien vielmehr nur einige wenige auserwählt. Dieser erwählte Rest bilde die heilige Wurzel des Ölbaumes (”radix electionis“), dem die heidenchristliche Kirche eingepfropft sei.
Sodann hob Bucer hervor, dass die übrigen Juden verblendet seien, um den Heiden einen Weg in die Gemeinschaft des Bundes zu eröffnen. Doch diese Verblendung sei nicht endgültig. Sobald sich die Vollzahl der erwählten Heiden zum christlichen Glauben bekehrt habe, werde schließlich auch ganz Israel errettet:
”Diese Verwerfung der Juden verhält sich nicht etwa so, als ob alle ohne Ausnahme verworfen sind oder die Hoffnung vergeblich ist, dass einst erneut ein besonderer Teil dieses Volkes den bis dahin nur von einem sehr geringen Überrest aufgenommenen Christus anerkennt. [...] Dieser Überrest ist freilich sehr schmal, denn es musste erfüllt werden, was über die Verblendung der Juden vorhergesagt ist – dieser Überrest also ist von der Art, dass durch ihn die Gemeinschaft des Heils zu den Völkern gelangt ist. [...] Sobald die Zahl der Heiden, die Gott ja festgelegt hat, angefüllt sein wird, werden auch die Juden wieder eingesetzt.“
Mit Paulus stellte Bucer hier also die Verstockung Israels in den Dienst der Heidenmission und ging von einem Rest erwählter Juden aus mit der Perspektive einer endzeitlichen Wiederannahme ganz Israels. Dadurch konnte er den Eindruck eines Bruchs zwischen Altem und Neuem Bundesvolk vermeiden und an seiner These der substantiellen Einheit des Bundes festhalten.
In diesem Zusammenhang wehrte sich Bucer gegen die Vorstellung, die Wiederannahme ganz Israels (Röm 11,26) beziehe sich bereits auf das neue Gottesvolk aus Juden und Heiden. Bucer hielt demgegenüber fest, dass mit ”ganz Israel“ das gesamte jüdische Volk gemeint sei:
”Sobald nämlich die Fülle der Hei den zu Christus gelangt sein wird [...], wird auch ganz Jisrael, d.h. das ganze Volk, errettet wer den und das Reich Gottes bei ihnen abermals öffentlich zur Blüte gelangen, obwohl es ihnen auch dann nicht an Verworfenen fehlen wird.“
Durch den Hinweis auf die Verworfenen inner halb des geretteten(!) Israel wird allerdings deutlich, dass Bucer keineswegs schon die endgültige Errettung des gesamten jüdischen Volkes vor Augen hatte. Er dachte offenbar nur an eine Phase kurzzeitigen Wiederauflebens der Königsherrschaft in Israel vor dem endgültigen Gericht. Er betonte zwar, ”wenn ganz Jisrael errettet werden soll, dann ist es dazu vorher [auch] erwählt worden.“ Doch in seinen An gaben zu der Frage, wie viele Juden letztlich errettet würden, schwankte Bucer zwischen plerique (die meisten)
und pauciores (recht wenige).
Unbestritten dagegen war für Bucer, dass Gottes einstige Liebe zu seinem Volk nicht in einen ”göttlichen Antijudaismus“ umgeschlagen sei:
”Gott hat sein Volk nicht verstoßen, d.h. dass er das jüdische Volk, das ihm zuvor auf einzigartige Weise zu ei gen war, nun nicht hasst, so dass jemand Gott deshalb verhasst wäre, weil er Jude ist.“
Neben dieser ungebrochenen Treue Gottes zu seinem Volk war es vor allem der Blick auf die künftige Bekehrung der Juden, durch die Bucer das Verhältnis zum Judentum bestimmt sah. Infolgedessen hielt er es für unangebracht, die Juden verächtlich zu behandeln; vielmehr müsse man alles tun, um sie für den christlichen Glauben zu gewinnen:
”dass die Wurzel der Erwählung den Juden gehört und wir Völker ih nen sogar eingepfropft werden mussten, dass Gott entschieden hat, diese Wurzel schließlich in ihnen zu bewahren, bis er sich die Juden wiederherstellt durch eine äußerst vollständige Bekehrung. Deshalb also ermahnt er die Völker, nicht gegenüber den Juden überheblich zu wer den, sondern ihnen vielmehr zum Heil zu verhelfen.“
Doch diese missionarisch motivierte Haltung gegenüber dem Judentum war nur die eine Seite. Unter Berufung auf Röm 11,28 betonte Bucer, dass man die Juden nicht nur hochschätzen solle, sondern sie wegen ihrer fortgesetzten Feindschaft gegenüber dem christlichen Glauben auch in ihre Schranken weisen müsse:
”Deshalb sollen wir sie von uns fernhalten und sie zugleich hochschätzen, sie als Feinde behandeln und als Freunde, sie bekämpfen und begünstigen. Ersteres wegen ihres gegenwärtigen Un glaubens und wegen der Heiligen aus den Völkern, die sie mit so großer Hartnäckigkeit vom Gottesreich fernzuhalten suchen. Letzteres wegen der Erwählung, die ihnen bis heute bewahrt ist, und um der heiligen Väter willen, deren leibli cher Samen bis heute in diesem Volk überdauert.“
Im Unterschied zu Melanchthon, der den Juden keine heilsgeschichtliche Rolle mehr zubilligte, ging Bucer also von der endzeitlichen Errettung ganz Israels aus und hielt es deshalb für nicht angebracht, die Juden verächtlich zu behandeln; vielmehr müsse man alles tun, um sie für den christlichen Glauben zu gewinnen. Angesichts der eingangs genannten Urteile Josels von Rosheim überrascht auch dieses Ergebnis. Denn hier ist es eindeutig Bucer, der aufgrund seiner Schriftauslegung die Möglichkeit zu einer gewissen Toleranz gegenüber dem Judentum eröffnete. Der von Josel hochverehrte Melanchthon dagegen blieb der Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium verhaftet. Er war von der grundsätzlichen Verwerfung der Juden überzeugt und sah es als seine Aufgabe an, die ”jüdischen“ Auffassungen theologisch zu bekämpfen.
Die Frage ist nun, ob sich bei Bucer und Melanchthon aus diesem Unterschied in der theologischen Beurteilung des Judentum auch Unterschiede in der konkreten Haltung gegenüber Juden ergeben haben.
5. Bucers konkrete Haltung gegenüber dem Judentum
Zum Abschluss seiner Auslegung von Röm 9-11 deutete Bucer 1536 an, wie er sich das aus Röm 11,28 hergeleitete Nebeneinander von ”bekämpfen und begünstigen“ (s.o.) konkret vorstellte. In einer observatio zu Röm 11,26 kritisierte er die ”barbarische und gottlose“ Behandlung der Juden – insbesondere die widersprüchliche und willkürliche Rechtspraxis in den Territorien und die ”arbeitsrechtliche“ Benachteiligung der Juden. Vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten hätten schwer darunter zu leiden, dass die Territorialherren den Juden hohe Steuerforderungen auferlegten, die diese dann durch überhöhte Zinsforderungen an die Bevölkerung weiter leiteten.
Neben der unangemessenen Bedrückung der Juden kritisierte Bucer aber auch, dass reichere Juden in einigen Landregionen ihre wirtschaftliche Vormachtstellung ungehindert ausüben könnten. Diese widersprüchlichen Bedingungen, denen die Juden ausgesetzt seien, wären keineswegs dazu angetan, ihre Bekehrung zu fördern. Vielmehr würden sie dadurch religiös und moralisch entfremdet.
Bevor man dafür von Gott zur Rechenschaft gezogen werde, sei es deshalb Aufgabe der christlichen Obrigkeiten, die Juden im Blick auf ihre Bekehrung zuvorkommend zu behandeln. Wenn sie aber hartnäckig bei ihrem Unglau ben blieben, solle man ihnen Gottes Fluch in Erinnerung rufen und sie zu Tätigkeiten an halten, bei denen sie niemanden mehr in wirtschaftlicher oder religiöser Hinsicht schaden könnten. Auf diese Weise sollten sie zur Annahme des christlichen Glauben gedrängt werden.
Diese Äußerungen Bucers in seiner observatio argumentierten vor dem Hintergrund einer möglichen Bekehrung der Juden. Für den Fall aber, dass die Juden sich diesem christlichen Anliegen verweigerten, ließ Bucer deutlich erkennen, dass er härtere Maßnahmen für nötig hielt. Schon in einigen seiner früheren Schriften ließ er daran keinen Zweifel. In seinem Bericht auß der heyligen geschrift von 1534 und in seinen Dialogi von 1535 gab Bucer z.B. zu verstehen, dass er das Judentum in religiöser und ökonomischer Hinsicht als eine Gefahr für die christliche Bevölkerung betrachtete. Entsprechend seinem Verständnis der Respublica Christiana drängte er darauf, die Juden als Ungläubige aus dem christlichen Gemeinwesen auszugrenzen. Sie sollten von den öffentlichen Ämtern und der Gemeinschaft des bürgerlichen Lebens ausgeschlossen
bleiben.
Wenn Bucer sich dennoch bereit zeigte, die Juden aufgrund ihrer biblischen Wurzeln zu dulden, dann nur zum Zwecke ihrer Missionierung und nur unter harten Bedingungen. Vor allem forderte er, ihre Erwerbstätigkeit auf die Sicherung des Existenzminimums zu beschränken und ihrer religiösen Betätigung enge Grenzen zu setzen. Für den Fall, dass Juden Christen in ihrem Glauben verunsicherten oder bloßstellten, drohte er mit Enteignung und Vertreibung.
Vor diesem Hintergrund sind die harten Maßnahmen, die Bucer 1538 in seinem Judenratschlag empfahl, keineswegs überraschend. Dieser Ratschlag wurde im wesentlichen von Bucer ausgearbeitet und stellte einen Kompromiss dar zwischen der Duldungsabsicht des Landgrafen und den hessischen Geistlichen und Zünften, die von einer Duldung abrieten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen basierten auf der Grundannahme Bucers, dass die Obrigkeit im Dienste der wahren Religion alle Ungläubigen aus der Respublica Christiana auszugrenzen habe.
Der Judenratschlag kam zu dem Ergebnis, dass von der jüdischen Gemeinschaft zahlreiche Gefahren ausgehen würden – vor allem für är mere und ungebildete Kreise. Genannt wurden z.B. Wucher, Betrug, Bestechung, Proselytenmacherei, Lästerung und Verunsicherung des christlichen Glaubens. Angesichts dieser Gefahren betrachtete der Ratschlag die Vertreibung der Juden als angemessene Lösung; nur unter härtesten Bedingungen sei überhaupt eine Duldung zu verantworten. U.a. forderte der Ratschlag die Heranziehung der Juden ”zu den aller nachgultigsten, müheseligsten vnd vnge wenlichsten Arbeithen, alß da sein der Berkknappen arbeit, [...] kolbrennen, schorn stein vnd kloagkh fegenn, wasenmeister sein [=Tier kadaver beseitigen] vnd der gleichenn“.
Der Gedanke einer möglichen Bekehrung ganz Israels (Röm 11,26) wurde im Judenratschlag aufgegeben, und die auf Röm 11,28 beruhende ambi valente Haltung (s.o.) wurde aufgelöst zugunsten einer religiösen und ökonomischen Repression der Juden. Galt es bisher, die Juden durch Strafandrohung von ihrem gotteslästerlichen Tun abzuhalten und sie durch besondere Wohltaten für den christlichen Glauben zu gewinnen, so bestand nun die besondere ”Wohltat“ darin, sie durch Strafmaßnahmen zum christlichen Glauben zu drängen:
”Ist jemand von denen, die straff verdienen, zu bekeren, so fördert ihn die straffe dazu. Ist jemand nicht zu bekeren, so thut man ihm doch mit der straffe so fil liebs und guts, das man im weh ret, sich selb und andere weiter zu verderben.“
Zwar betonte Bucer noch, dass die Juden aufgrund ihrer Herkunft und im Blick auf ihre künftige Bekehrung besser behandelt werden sollten als die anderen Ungläubigen. Und er verwies darauf, dass alles im Rahmen der ”Liebe“ und des geltenden Rechts zu geschehen habe. Doch oberstes Prinzip war für ihn nun, dass es keinem Ungläubigen besser ergehen dürfe als dem allerärmsten Christen:
”Ist uns dann ein ursach, die Juden zu lieben, das Christus von ihnen geporen ist nach dem fleisch [...], war umb ist uns nicht fil ein grösser ursach, die Christen zu lieben, die [...] der Herre [...] mit seinem theuren blut erkauffet und gnädiglich uffgenommen hat?“ ”warlich, bei recht gotseligem regiment müssen allemal die haußgenossen des glaubens ein vorteyl und die verechter des glaubens ein nachteyl haben [...]. Wie fil onschuldiger, frommer bauern vnd ander leut sind fro, wenn sie allein das be kommen möchten, das wir noch den Juden wolten zugeben.“
Vor dem Hintergrund einer Auslegung von Röm 11, wie sie Bucer selbst noch 1536 auf der Basis der Bundeseinheit vorgelegt hatte (s.o.), ließen sich derart repressive Maßnahmen natürlich nur schwer rechtfertigen. Selbst der Landgraf Philipp von Hessen hielt die Maßnahmen des Ratschlags für überzogen und verwies dazu auf Röm 11 und die Verheißung des erneuerten Bundes in Jer 31.
Bucer war deshalb genötigt, die Forderungen des Ratschlags biblisch-theologisch ab zusichern. Zu diesem Zweck relativierte er seine bisherige Auslegung von Röm 11 und verwies auf die traditionell antijüdisch gedeuteten Passagen des Neuen Testaments (Mt 3,7; 12,34; 16,4; 23,33; Joh 8,41-44; Act 13,45-51; 28,23-28; Röm 2,28f; 9,6-13.31-33; 10,3.19-21; 11,7-10.19f; 2 Kor 3,6-18; Gal 4,21-31; Hebr 8,13).
Das zentrale Argument seiner Überlegungen aber ergab sich nun aus der Fluchandrohung von Dtn 28. In diesem alttestamentlichen Text sah Bucer eine Handlungsanweisung für den Umgang mit Juden: Da sie Christus ermordet und die Kirche verfolgt hätten, seien die Juden als Feinde des Evangeliums von Gott verworfen. Deshalb sei es Aufgabe der christlichen Obrigkeit, den alttestamentlichen Fluch an ihnen zu vollstrecken, und d.h.
”das sie bey den vol kern, bey denen sie wonen, die vnderstenn vnd der schwanz sein vnd am aller herttestenn gehalten werden sollenn [vgl. Dtn 28,43f]“.
Diese schroffen Aussagen lassen wenig übrig von dem Exegeten Bucer, der auf der Basis der Bundeseinheit die bleibende Erwählung der Juden behauptet hatte. Auch von der Forderung, die Juden im Hinblick auf eine mögliche Bekehrung nachsichtig zu behandeln, ist Bucer in seinen Äußerungen zum Judenratschlag deutlich abgewichen.
Die Gründe für diesen ”Wandel“ Bucers sind vielfältig. Zu nennen sind hier zum einen die Rezeption antijüdischer Schriften und die Berücksichtigung hessischer Interessengruppen. Zum anderen ist das Auftauchen ”judaisierender“ Irrlehren (Antitrinitarier, Sabbatarier, Chiliasmus) von Bedeutung sowie die zunehmende soziale Polarisierung in der Bevölkerung zu Beginn der dreißiger Jahre. Vor allem der letzte Punkt scheint für Bucer entscheidend gewesen zu sein. Denn in den dreißiger Jahren beschäftigte er sich zunehmend mit den sozialen Folgen des Wuchers und ver wies immer wieder auf die Gefahren, die die gängige Praxis für ärmeren Bevölkerungsschichten mit sich brächte.
Das Beispiel Bucers zeigt also, dass das Verhältnis zum Judentum in der Reformationszeit keineswegs allein auf der Basis theologisch-exegetischer Erkenntnisse bestimmt wurde. Vielmehr konnten exe getische Einsichten von antijüdischen Traditionen überlagert und den praktischen Erfordernissen und Interessen untergeordnet werden. Das oben genannte Urteil Josels von Rosheim, dass ein begnadetes Schriftverständnis für das positive Verhalten gegenüber dem Judentum mitverantwortlich sei, findet also zumindest bei Bucer keine Bestätigung. Auch im Blick auf Melanchthon wird sich das Urteil Josels als nicht zutreffend erweisen.
6. Melanchthons konkrete Haltung gegenüber dem Judentum
In seiner Trostschrift hatte Josel von Rosheim den hessischen Juden ”den hochgelerten Dr. Philippum Melancton“ als hoffnungsvolles Beispiel auf christlicher Seite vor Augen geführt. Auf der Frankfurter Fürstenversammlung hatte Melanchthon nämlich 1539 den Justizskandal beim Brandenburger Hostienschändungsprozess von 1510 aufgedeckt. Josel konnte daraufhin eine Wiederaufnahme der Juden in Brandenburg erwirken (s.o.). Betrachtet man jedoch die theologische Beurteilung des Judentums durch Melanchthon, so lassen sich keinerlei Anhaltspunkte finden, die Melanchthons Handlungsweise auf der Frankfurter Fürstenversammlung erklären könnten.
Für Melanchthon waren die Juden ein verworfenes Volk, deren Anschauungen es theologisch zu bekämpfen galt. Deswegen ist es zunächst wenig einsichtig, warum er sich in Frankfurt (indirekt) für die Duldung von Juden eingesetzt hat. Schaut man zudem auf eine Äußerung Melanchthons, die er im Zusammenhang mit der hessischen Judenordnung gemacht hat, so dürfte dies das Urteil Josels weiter in Zweifel ziehen.
Aus dem Gespräch mit dem hessischen Hofprediger Dionysius Melander ist nämlich eine Notiz erhalten, in der sich Melanchthon kritisch über den hessischen Beschluss zur Duldung von Juden äußerte:
”Als in Hessen die Juden wieder aufgenommen wurden und ich zu Dionysius [Melander] sagte: Warum ratet ihr nicht von einer Annahme der Juden ab?, antwortete er: Ich vermag durch meinen Rat nichts zu bewirken, weil [...] die Hände des Fürsten mit dem Gold der Juden gesalbt sind.“
Diese Notiz stammt zwar nicht direkt aus der Feder Melanchthons, sondern aus einer Sammlung von Anekdoten aus seinen Vorlesungen, dennoch dürfte die Äußerung Melanchthons hier zutreffend wiedergegeben sein. Denn Melander war neben Bucer maßgeblich an der Diskussion um die Judenordnung beteiligt, und Melanchthon hatte mit ihm im Vorfeld der Verhandlungen zum Frankfurter Anstand (19.4.1539) intensiv zusammengearbeitet. Zum Zeitpunkt von Melanchthons Aufenthalt in Frankfurt a. M. (12.2.-20.4.1539) wurde außerdem zwischen den Hofpredigern, den hessischen Juden und Bucer heftig über die neue Judenordnung gestritten.
Deshalb ist es nur wahrscheinlich, dass auch Melanchthon und Melander über die Duldung von Juden gesprochen haben. Und offensichtlich stand Melanchthon der Duldung von Juden skeptisch gegenüber. Dieser Eindruck wird bestätigt beim Blick auf Melanchthons Äußerungen zu den späten Judenschriften Luthers. Überraschenderweise hat Melanchthon die beiden schärfsten Judenschriften Luthers sogar persönlich an Landgraf Philipp von Hessen übersandt. In seinem Begleitschreiben vermerkte er, dass Luthers Von den Jüden und iren Lügen ”wahrlich viel nützlicher Lahr [= Leh re]“ enthalte; und Luthers Vom SchemHamphoras übersandte er dem Landgrafen, damit dieser sehe, ”was jetzund seine [d.h. Luthers] Arbeit ist“.
Diese Büchersendungen an Philipp von Hessen können keineswegs als nebensächliche oder gar absichtslose Aktionen gewertet werden. Denn Melanchthon wusste, dass Juden in Hessen seit der Judenordnung von 1539 – wenn auch unter härtesten Bedingungen – geduldet wurden; und er konnte weder erwartet noch gehofft haben, dass die harten antijüdischen Maßnahmen, die Luther von den Obrigkeiten einforderte, den Landgrafen unbeeindruckt lassen würden. Insofern ist es nicht überraschend, dass sich der Landgraf im Januar 1543 bei Luther für die Zusendung der ersten Judenschrift bedankte und sich im April 1543 dazu ent schloss, die Judenordnung weiter zu verschärfen.
Aufgrund der Äußerung gegenüber Melander und der Übersendung der Judenschriften an Philipp von Hessen kann deshalb davon ausgegangen werden, dass Melanchthon das grundsätzliche Anliegen Luthers geteilt hat, nämlich von einer Duldung der Juden abzuraten. Auch hinter der Aufdeckung des Brandenburger Justizskandels dürfte sich keine Sympathie für jüdische Belange verbergen, sondern zwei grundsätzliche Anliegen Melanchthons: Zum einen seine an Recht und Gesetz orientierte Grundhaltung, die ihn ungerechtfertigte Vorwürfe kritisch prüfen ließ. Zum anderen dürfte die antirömische Frontstellung auf der Frankfurter Fürstenversammlung von Bedeutung gewesen sein. Am Beispiel des Justizskandals konnte Melanchthon die Skrupellosigkeit des katholischen Klerus unter Beweis stellen, der selbst vor dem Tod unschuldiger Juden nicht zurückschreckte.
Auch wenn Melanchthon – anders als es das Urteil Josels vermuten ließ – von einer Duldung der Juden eher abgeraten hat und seine Schriftauslegung kaum Wege einer Verständigung zwischen Juden und Christen eröffnete, so muss doch unterstrichen werden, dass Melanchthon im Unterschied zu Luther und Bucer sehr viel zurückhaltender war, wenn es darum ging, aus seiner theologischen Überzeugung konkrete antijüdische Maßnahmen abzuleiten. Ja, es ist vielmehr zu beobachten, dass sich Melanchthon abgesehen von den genannten Punkten an einigen Stellen dem Antijudaismus seiner Zeit verwehrte.
So stand er z.B. im Kampf gegen die Verbrennung jüdischer Bücher eindeutig auf Reuchlins Seite. Und als ihm 1556 berichtet wurde, dass einige Brandstifter in Polen, Russland und Schlesien gestanden hätten, von Türken und Juden dazu angestiftet worden zu sein, bezweifelte er den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht. Seiner Einschätzung nach war es durchaus üblich, dass Angeklagte die Verantwortung für ihre Straftaten auf andere abzuwälzen suchten. Bemerkenswert ist außerdem, dass Melanchthon an den zahlreichen Stellen, wo er sich über die Missstände im Geldgeschäft äußerte, weder auf den ”jüdischen Wucher“ zu sprechen kam noch dagegen polemisierte.
7. Ausblick
Die vorliegende Untersuchung stellte implizit die Frage, ob aus dem oberdeutsch-schweizerischen Ansatz der Bundeseinheit und der Wittenberger Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium eine je spezifische Haltung gegenüber dem Judentum abzuleiten ist. Die Frage muss aufgrund der gewählten Beispiele Melanchthons und Bucers verneint werden. Weder die ”Lutheraner“ noch die ”Reformierten“ hatten durch ihre konfessionsspezifischen Eigenarten eine feste Vorgabe für ihr Verhältnis zum Judentum.
Bucer wich von dem vorgezeichneten Weg seiner Exegese des Römerbriefes ab und schlug aufgrund der genannten Faktoren einen dezidiert antijüdischen Weg ein. Bei Melanchthon hat die antijüdische Struktur seiner Israel-Lehre keineswegs zu einer dezidiert antijüdischen Haltung geführt. Die maßgebenden Gründe für das positive Verhalten gegenüber dem Judentum lagen im 16. Jahrhundert also keineswegs im begnadeten Verständnis der Heiligen Schrift, wie Josel von Rosheim vermutete, sondern offensichtlich in Faktoren, die außerhalb der Theologie zu suchen sind.
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Zuerst veröffentlicht in: Achim Detmers / J. Marius J. Lange van Ravenswaay
(Hgg), Bundeseinheit und Gottesvolk. Reformierter Protestantismus und Juden-
tum im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, Wuppertal 2005, 9-37.
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Beachten Sie für Quellenangaben die beigefügte PDF!Achim Detmers
Achim Detmers, Martin Bucer und Philipp Melanchthon und ihr Verhältnis zum Judentum. pdf >>>