1. Advent: Was kommt auf uns zu?

Predigt zu Jer 23,5-8


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Liebe Gemeinde,

Advent 2016 – wer und was kommt auf zu? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber viele Menschen, gerade in unserem Land, sind nach dem Wahlausgang in den USA zutiefst aufgewühlt, erschrocken, verstört und blicken mit Angst und Sorge auf die geopolitischen Entwicklungen, die uns bevorstehen. Mir geht es auch so. Wir fragen uns: (Alp-)träumen wir oder sind wir am 9. November tatsächlich in einer Welt aufgewacht, die nicht wiederzuerkennen ist? Wie verworren werden die schwierigen Zeiten wohl sein, auf die wir uns jenseits und diesseits des Atlantiks einstellen sollen? Wie weicht reicht die Macht des neugewählten Präsidenten? Wie radikal werden die Veränderungen sein, die er versprochen hat? Sind die jüngsten versöhnlichen Worte tatsächlich der neue Kurs, oder hat „Trump nur gesagt […], was von ihm erwartet wurde“[1]? Wird er sich irgendwie mäßigen und einhegen lassen (durch das Amt? die republikanische Partei? den Kongress? die westliche Wertegemeinschaft?), so dass das Schlimmste vermeidbar ist und die Lernkurve auch bei ihm doch schlussendlich nach oben zeigt? Kommt es zu einem neuen Wettrüsten, einer völlig neuen Sicherheitsarchitektur? Was bedeutet dieser Wahlausgang für den Weltfrieden? Was genau heißt und meint: „Europa muss mehr Verantwortung übernehmen“? Bedeutet dies „nur“ ein Ende der „alten Gemütlichkeit“?

Noch nie wurde das mächtigste Land der Welt durch einen so unerfahrenen und emotional ungebremsten Politiker regiert, der – nach eigener Aussage – erst zu handeln und dann zu denken scheint. Das lässt nichts Gutes ahnen. Viele sind unter den Schockwellen, die von dem Trump-Beben an diesem schwarzen Wahltag ausgehen, orientierungslos geworden, denn die gängigen politischen Muster (Bündnisorientierung zur NATO, das deutsch-amerikanische Seit-an-Seit, ein Ja zu Freihandel, Klimaschutz, Gesundheitsvorsorge und Besteuerung) scheinen infrage gestellt zu sein und drohen vielleicht zu zerfallen. Etliche haben von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Das ist ein geradezu adventlicher Begriff, ein Begriff, der auch in unserem Predigttext auftaucht…

Jer 23,5-8:
5 Sieh, es kommen Tage, Spruch des HERRN, da lasse ich für David einen gerechten Spross auftreten, und dieser wird als König herrschen und einsichtig handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land.
6 In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, und Israel wird sicher wohnen. Und dies ist sein Name, den man ihm geben wird: Der HERR ist unsere Gerechtigkeit!
7 Darum, sieh, es kommen Tage, Spruch des HERRN, da wird man nicht mehr sagen: So wahr der HERR lebt, der die Israeliten heraufgeführt hat aus dem Land Ägypten!,
8 sondern: So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Land des Nordens und aus allen Ländern, wohin er sie versprengt hat! Dann werden sie auf ihrem eigenen Boden wohnen.  (Zürcher Bibel)

Hier wird von Tagen gesprochen, die kommen werden. Doch diese Tage werden ganz anders beschrieben als die Bilder aussehen, die uns als Horrorszenarien durch den Kopf gehen, wenn wir an die vor uns liegende Präsidentschaft in den USA denken. Der Prophet Jeremia spricht von einer Zeitenwende, in der – wie man sagt – eine messianische Hoffnung Gestalt gewinnt. Ein gerechter Spross, ein legitimer Nachkomme aus der Dynastie des Königs David wird kommen und die Zeitenwende heraufführen.[2]

Es ist interessant zu beobachten, wie bis in die Sprache hinein diese Zeitenwende nicht als Schicksal, nicht als Laune der Geschichte bestimmt wird. Die Zeitenwende wird vom Zeitenwender her verstanden. So handelt es sich bei dem hebräischen Verb, das gebraucht wird, um das Kommen dieser messianischen Gestalt zu umschreiben, hakimoti, um eine Hiphilform vom Verb kum, was so viel wie „aufstehen“ bedeutet. Hiphilformen sind kausativ zu verstehen, d.h. es geht um eine Veranlassung: Gott lässt aufstehen. Er bewirkt, dass der Messias erweckt wird. Im Aufstehen dieses Messias kommt Gott selbst zu seinem Volk. Gott ist kein Gott, der apathisch in seinem Schaukelstuhl sitzen bleibt und zusieht, wie sein Volk vor die Hunde geht. Nein, Gott kommt und der Mensch wird frei – nicht kraft eigener Heldentaten, sondern kraft der Befreiung Gottes. Gott befreit den Menschen, wie er damals in Ägypten sein Volk aus der Knechtschaft führte. Deshalb ruft der Prophet Jeremia ausdrücklich den Auszug aus Ägypten in Erinnerung und spricht von einem neuen Auszug, einem neuen Exodus, wie damals, als Gott das Elend seines Volkes sah und ihr Schreien hörte: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, daß ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus dem Lande in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt“ (Ex 3,7f.).

Schauen wir uns unseren Text an, so wird hier in einer besonderen Weise von der Zukunft gesprochen. Wir haben in den europäischen Sprachen durchweg zwei Möglichkeiten, von der Zukunft zu sprechen: futurisch und adventlich. Das futurum, das Futurische bezeichnet das, was wird; der adventus das, was kommt: „Das futurum entwickelt sich aus Vergangenheit und Gegenwart, sofern diese das Potential des Werdens in sich haben und ‚mit der Zukunft schwanger gehen“ (Leibniz). Werden kann nur, was im Sein schon angelegt ist“[3]. Anders verhält es sich mit dem adventus, der Ankunft, dem Eintreffen - griechisch: der parousia.

Christliche Theologie hat nicht in erster Linie die Frage der Weiterentwicklung und des Bestandes oder die Veränderung dieser Welt zu thematisieren. Sie denkt nicht „von hinten“, sondern „von vorn“, vom Kommen Christi aus. Weil Gott in Christus der Welt „von vorne“ entgegen kommt, darum gibt es Hoffnung. Es wird also nicht etwa gesagt:  In der Zukunft der Welt gibt es die Wiederkunft Jesu Christi, sondern die Aussage: Weil Jesus Christus kommt, hat die Welt Zukunft, bekommt die Welt von Gott her Zukunft geschenkt.

Das ist ein sehr tröstlicher Gedanke – gerade auch in diesen Tagen, wo sich große Verunsicherung, ja Erschütterung breit macht und auch viele Politiker wie gelähmt wirken, seitdem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Viele Menschen machen sich große Sorgen vor dem, was auf uns zukommen wird. Im Lichte der biblischen Botschaft vom Advent Gottes, wie ihn Jeremia betont, dürfen wir wissen: Gott ist derjenige, der kommt. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, aber wir kennen den, der aus der Zukunft auf uns zukommt.

Nun mag es indes einige unter uns geben, die das hören und einwenden: „Schon Recht. Ich glaube auch an den Advent Gottes und ich rechne auch damit, dass Gott kommt, aber in zwei Monaten haben wir es mit Donald Trump zu tun. Das ist der Advent, dem wir entgegen gehen.“

All denen, die heute Morgen so denken, sei der ungeheure Satz eines anderen Präsidenten in Erinnerung gerufen. Der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann schloss 1950 den ersten offiziellen evangelischen Kirchentag in Essen vor etwa 180.000 Teilnehmern mit den adventlich-tröstlichen Worten an die Völker der Welt: „Lasst uns der Welt antworten, wenn sie uns furchtsam machen will: Eure Herren gehen – unser Herr aber kommt!“ Auch Donald Trump wird kommen und gehen – doch der Herr in Washington ist nicht der König der Welt. Der König der Welt ist der Gott der Gerechtigkeit, von dem Jeremia spricht und dessen Kommen wir im Advent besingen.

Was bedeutet dieses Kommen Gottes? Was bringt es mit sich? Unser Text lässt uns bei der Beantwortung dieser Frage nicht allein, sondern ist hier sehr klar und eindeutig: „Er wird als König herrschen und weise handeln, Recht und Gerechtigkeit im Lande üben.“ „Gerechtigkeit“ und „Recht“ sind die Eigenschaften des Messias. Von gewaltsamer Herrschaft und Kriegen, also jenen Befürchtungen, die wir momentan hegen, verlautet hier nichts. Im Gegenteil: Israel wird in Sicherheit wohnen. Damit wird nichts anderes als der friedliche Charakter der Zukunftsherrschaft unterstrichen.[4] Mit dem Namen des Messias „Gott ist unsere Gerechtigkeit“ unterstreicht Jeremia den entscheidenden Charakter der Herrschaftsform des Messias.

Was aber meint „Gerechtigkeit“? Es gibt kaum einen Begriff, der so oft von unterschiedlichsten Menschen im Laufe der Weltgeschichte in Anspruch angenommen wurde wie derjenige der Gerechtigkeit. Kein Wunder, dass der amerikanische Theologe Stanley Hauerwas Gerechtigkeit als „bad idea“[5] bezeichnet. Allzu oft ist sie zur Untugend der Mächtigen verkommen. Man denke nur an den „unbestechlichen“ Maximilien Robespierre, der Gerechtigkeit mit der Jakobinermütze auf dem Kopf durchsetzen wollte und dafür die Guillotine arbeiten und Köpfe rollen ließ.

Unserer Tage verspricht sich die Hälfte der US-Amerikaner von einem US-Milliardär Gerechtigkeit, der gerade ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach schaden wird. Er soll der Befreier von einer verhassten Elite sein. Seit den Tagen der biblischen Propheten dürfen wir wissen, dass der Befreier nicht mit der Airforce One eingeflogen kommt, sondern auf einem Esel Einzug hält. Auch dürfen wir wissen, dass der wahrhaft „starke Mann“, der mächtigste Mann, ohne Macht mächtig ist.

Was also meint Gerechtigkeit? Diese Gretchenfrage der Sozialphilosophie und -ethik aller Zeiten will im Lichte der prophetischen Kritik im Zusammenhang der sozialen Krisen in Israel bedacht sein. Die Propheten machen deutlich, dass „Gerechtigkeit“ gemeinschaftsgerechtes Verhalten, Gemeinschaftstreue meint. Besonders wichtig ist den Propheten der Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit: „Ganz überwiegend bedeutet șědāqā die Rechtshilfe, so z.B. des Königs für die Armen: ‚Er wird Recht schaffen in ședeq, d.h. Solidarität dem Geringen, und als Schiedsrichter auftreten in Redlichkeit für die Elenden des Landes [Jes 11,4].“[6] Oder in Jes 56,1 heißt es: „So spricht JHWH: Bewahrt das Recht und übt Gerechtigkeit [mitmenschliche Solidarität], denn meine Hilfe ist nahe, um zu kommen, und mein Heil, um geoffenbart zu werden.“

„Mitmenschliche und göttliche Solidarität sollen sich entsprechen.“[7] Das Recht soll gerade die Schwachen schützen. Das ist ein Gedanke, der im Alten Testament immer wieder betont wird. Vom ehemaligen Bundesverfassungsrichter Helmut Simon stammt der schöne Satz: „Wer wenig im Leben hat, der soll viel im Recht haben.“[8] Und ausgerechnet in der Präambel der Bundesverfassung der kapitalistischen Schweiz heißt es: „Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen“. Hier findet das prophetische Gerechtigkeitspathos ein profanes Echo.

Darum geht es: Dass wir mit unseren vorläufigen Entsprechungsversuche der menschlichen Gerechtigkeit in aller Gebrochenheit jene göttliche Gerechtigkeit bezeugen, die mit dem Kommen des Messias, seinem Advent verbunden ist: „Die biblische Orientierung an der kommenden Zukunft ist mit dem gespannten Warten im Advent vergleichbar. In den mutigen Anfängen, die Menschen hier schon tun, aber auch in abgebrochenen Aufbrüchen, die in den Augen der Realisten und Pessimisten vergeblich sind, ein Nichts darstellen gegenüber den übergroßen Problemen und erdrückenden Aufgaben der Gegenwart, ja sogar in ihrem dranbleibenden Wartenkönnen voller Intuition und Ahnung, kommt verborgen das Reich Gottes, erscheint der Advent Gottes.“[9] „Eilendes Warten“ dem Kommen Gottes entgegen – so hat der Württemberger Christoph Blumhardt dies genannt. Adventliches Tun meint ein Zugleich von Warten und Eilen – „gelassene Aktivität und zugleich angespannte Passivität.“[10]

Ich darf schließen mit Worten Karl Barths, der Blumhardts Rede vom „eilenden Warten“ aufgegriffen hat: Christenmenschen „‚warten und eilen dem Anbruch des Tages Gottes’, der Erscheinung seiner Gerechtigkeit, der abschließenden Parusie Jesu Christi entgegen (2. Petr. 3,12). Also: sie warten nicht nur, sie eilen auch – vielmehr: sie warten, indem sie eilen, ihr Warten selbst geschieht in diesem ihrem Eilen. Ausgerichtet auf Gottes Reich, jetzt schon nicht auf den status quo [gegenwärtigen Stand], sondern auf sein Kommen eingerichtet, blicken sie nicht nur nach ihm aus, sondern eben: laufen sie ihm – und das, so schnell ihre Füße tragen wollen – entgegen.“[11]

Wir halten fest: Wie auch immer der Kurs des künftigen, so unheimlichen amerikanischen Präsidenten sein mag, vor dem sich die Welt fürchtet: Der Kurs der Geschichte ist durch das Kommen des Reiches Gottes bestimmt. Ihm zu entsprechen, heißt adventlich zu leben. Und adventlich zu leben, in eilendem Warten, heißt dem wahren Verlauf der Geschichte zu entsprechen: Denn – wie gesagt – „die Herren dieser Welt gehen, unser Gott aber kommt!“ Trump mag amerikanischer Präsident werden, Jesus Christus aber ist und bleibt der Herr der Geschichte!

Amen

Prof. Dr. Marco Hofheinz
Predigt am 1. Advent (27.11.2016) in der Ev.-reformierten Gemeinde Hannover


[1] Hubert Wetzel u.a., Trumps Triumph wühlt Europa auf, SZ Nr. 260 vom 10. Nov. 2016, 1.

[2] Vgl. Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 81996, 278.

[3] Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 42.

[4] Vgl. W.H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, 279.

[5] Vgl. Stanley Hauerwas, The Politics of Justice: Why Justice Is a Bad Idea for Christians, in: ders., After Christendom, Abington 1999, 45-68.

[6] Rainer Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu den Themen des konziliaren Prozesses, Stuttgart 1990, 14f. Zur Gerechtigkeit als Solidarität vgl. auch Traugott Jähnichen, Gerechtigkeit als Solidarität – Eine biblische Erinnerung, in: Marco Hofheinz u.a. (Hg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, 41-58, bes. 42-47.

[7] R. Albertz, Der Mensch, 15.

[8] Helmut Simon, „Wer wenig im Leben hat, soll viel im Recht haben”. Beiträge zu einer ökumenischen Rechtstheologie, ÖR 16 (1967), 338-357.

[9] Bertold Klappert, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?, RKZ 140 (10/1999), 417-427, 418.

[10] Ebd.

[11] Karl Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959-1961, hg. v. H.-A. Drewes / E. Jüngel, Karl Barth GA II. Akademische Werke, Zürich 1976, 456.

 


Marco Hofheinz, Hannover