18. Sonntag nach Trinitatis: Markus 12, 28-34 – Höre, Israel … oder: das höchste Gebot

von Johannes Calvin

''Die Erklärung Christi, er sei dem Reich Gottes nahe, soll weniger ein Lob als eine Ermunterung sein; und in seiner Person legt er (der Schriftgelehrte) es uns allen ans Herz, unbeirrt auf dem einmal beschrittenen richtigen Weg weiterzugehen.''

Markus 12, 28-34
28 Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und da er merkte, daß er ihnen fein geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das vornehmste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das vornehmste Gebot ist das: „Höre Israel, der Herr unser Gott, ist allein der Herr, 30 und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften“ (Deut. 6, 5) 31 Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev. 19, 18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrlich recht geredet. Er ist nur einer und ist kein anderer außer ihm: 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte und von allen Kräften und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Da Jesus aber sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht ferne von dem Reich Gottes. Und hinfort wagte niemand mehr, ihn zu fragen.

Lukas 10, 25-37
25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du? 27 Er antwortete und sprach: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Deut. 6, 5; Lev. 19, 18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tue das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es begab sich aber von ungefähr, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und da er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: da er kam zu der Stätte und sah ihn, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte ihn sein, 34 ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in eine Herberge und pflegte sein. 35 Des andern Tages zog er heraus zwei Silbergroschen und gab sie dem Wirte und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst dartun, will ich dir`s bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Welcher dünkt, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin und tue desgleichen.

Zwar scheint der Bericht bei Lukas einige Ähnlichkeit mit dem zu haben, was in Matth. 22 und Mark. 12 erzählt wird; doch handelt es sich nicht um die gleiche Begebenheit. Trotzdem wollte ich diese Berichte gern an einer Stelle miteinander vergleichen, obwohl trotz der Versicherung des Matthäus und Markus, daß dies die letzte Frage gewesen sei, mit der der Herr versucht wurde, Lukas davon nichts erwähnt. Er scheint das jedoch absichtlich zu übergehen, da er es schon anderwärts berichtete. Trotzdem will ich nicht behaupten, daß es sich hier um die gleiche Geschichte handelt, da Lukas von den beiden anderen in einigen Punkten abweicht. Gemeinsam haben alle drei, daß der Schriftgelehrte die Frage stellte, um Christus zu erproben; aber der, der von Matthäus und Markus beschrieben wird, geht schließlich recht angetan von Christus weg. Christi Antwort hat ihn befriedigt, und er zeigt damit, daß er friedlich gesinnt war und willig zu lernen. Außerdem bestätigt Christus ihm ja, daß er nicht weit vom Reich Gottes sei. Lukas dagegen schildert einen rücksichtslosen, aufgeblähten Mann, an dem keine Spur von Einkehr zu beobachten ist. Es wäre nichts Besonderes, daß Christus über die wahrhafte Gerechtigkeit, die Beobachtung des Gesetzes und die Regel zu einem guten Leben öfter befragt wurde. Mag Lukas diese Geschichte schon an einer anderen Stelle berichtet haben oder mochte er diese zweite Frage jetzt übergehen, weil ihm die vorangehende Schilderung, was die Lehre betraf, genügte, die Gleichheit innerhalb der drei Aussagen scheint doch zu fordern, daß ich die drei Evangelisten miteinander vergleiche. Nun müssen wir sehen, was für eine Gelegenheit diesen Schriftgelehrten dazu brachte, Christus zu fragen. Da er ein Ausleger des Gesetzes war, stößt er sich an der Verkündigung des Evangeliums, von der er fürchtet, daß sie dem Ansehen des Mose abträglich ist. Fast noch mehr als der Eifer um das Gesetz jedoch erfüllt ihn die Besorgnis, seine Würde als amtlicher Lehrer könnte darunter leiden. Er sucht darum von Christus zu erfahren, ob er nicht noch etwas mehr aus dem Gesetz herausschlagen kann. Denn wenn er das auch nicht wörtlich sagt, so birgt seine Frage doch eine Falle, um Christus, wenn möglich, dem Haß des Volkes auszusetzen. Nach Matthäus und Markus handelt es sich nicht um die List eines einzelnen Mannes, sondern um eine gemeinsam verabredete Sache. Sie schickten einen Vertreter für die ganze Sekte vor, der sich vor den anderen an Geist und Gelehrsamkeit auszuzeichnen schien. Auch in der Form der Frage weicht Lukas etwas von Matthäus und Markus ab. Bei Lukas fragt der Schriftgelehrte, was die Menschen tun müssen, um das ewige Leben zu erlangen; bei den beiden anderen hingegen, welches das vornehmste Gebot im Gesetz sei. Beides kommt auf das gleiche hinaus: Christus wird in listiger Weise angegriffen, damit man ihn, wenn man aus seinem Mund eine vom Gesetz abweichende Antwort gelockt hätte, gewissermaßen als Abtrünnigen und Anstifter gottlosen Abfalls behandeln könnte.

Luk. 10, 28. „Was steht im Gesetz geschrieben?“ Der Schriftgelehrte bekommt von Christus eine andere Antwort, als er sich erhofft hatte. Denn Christus gibt keine andere Richtschnur für ein frommes gerechtes Leben, als sie im mosaischen Gesetz überliefert worden war. Denn in der vollkommenen Liebe gegen Gott und die Nächsten liegt die höchste Vollendung der Gerechtigkeit. Doch dürfen wir nicht übersehen, daß Christus hier genau nach der Weise, in der er gefragt worden war, über das zu erlangende Heil spricht. Denn er lehrt hier offensichtlich nicht wie an anderen Stellen, wie die Menschen zum ewigen Leben gelangen, sondern wie man leben muß, um vor Gott als gerecht zu gelten. Im Gesetz jedoch wird den Menschen vorgeschrieben, wie sie ihr Leben einrichten sollen, um sich vor Gott das Heil zu verschaffen. Wenn aber das Gesetz nichts anderes kann als verdammen, wenn es bei Paulus sogar eine Lehre zum Tode und eine Vermehrung der Übertretungen genannt wird (vgl. Röm. 7, 13), dann ist das nicht ein Fehler seiner Lehre, sondern es liegt daran, daß es uns unmöglich ist zu erfüllen, was es befiehlt. Obgleich also niemand aus dem Gesetz gerecht wird, enthält das Gesetz selbst doch die vollendete Gerechtigkeit, da es völlig richtig das Heil denen verspricht, die uneingeschränkt dem nachkommen, was es verlangt. Es braucht uns nicht unsinnig vorzukommen, daß Gott zuerst Gerechtigkeit aus den Werken fordert und sie uns dann umsonst ohne Werke anbietet; denn es ist nötig, daß die Menschen zuerst von der Richtigkeit der Verdammung überzeugt werden, damit sie sich dann zur Barmherzigkeit Gottes flüchten. Darum vergleicht Paulus (Röm. 10, 5) beide Arten von Gerechtigkeit miteinander, damit wir erkennen, daß wir darum umsonst von Gott gerechtfertigt werden, weil wir keine eigene Gerechtigkeit haben. Christus stellt sich also in seiner Antwort auf den gesetzeskundigen Schriftgelchrten ein, der nicht gefragt hatte, wo das Heil zu suchen sei, sondern mit was für Werken man es sich verdienen könne.

Matth. 22, 37. „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn.“ Markus fügt noch den Vorspruch ein (12, 29): „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein der Herr.“ Mit diesen Worten verleiht Gott dem Gesetz eine besondere Autorität; denn es muß uns ganz besonders zum Eifer antreiben, Gott zu dienen, wenn wir völlig davon überzeugt sind, daß wir den wahren Schöpfer Himmels und der Erden verehren, da ja der Zweifel daran sofort träge macht. Gleichzeitig ist es eine freundliche Einladung, Gott zu lieben, wenn er uns umsonst als sein Volk annimmt. Damit die Juden also nicht, wie es bei zweifelhaften Dingen zu sein pflegt, schwankend seien, hören sie, daß ihnen die Richtschnur zum Leben vom wahren und einigen Gott selbst vorgeschrieben ist. Und damit sie außerdem nicht von Misstrauen aufgehalten werden, nähert Gott sich ihnen wie Vertrauten und erinnert sie an seinen gnädigen Bund mit ihnen. Zugleich trennt er sich jedoch deutlich von allen Göttern, um die Juden allein bei der reinen Verehrung seines Namens festzuhalten. Wenn aber die armen Götzendiener auch die Ungewißheit, in der sie leben müssen, nicht davon abhält, sich ihren Abgöttern in brennender Liebe hinzugeben, welche Entschuldigung bleibt dann den Hörern des Gesetzes, wenn sie vor Gott, der sich ihnen offenbart hat, ihre Ohren verschließen? Was dann folgt, ist eine Zusammenfassung des Gesetzes, wie sie auch bei Mose steht (Deut. 6, 5; Lev. 19, 18). Denn da das Gesetz in zwei Tafeln geteilt ist, von denen sich die erste auf die Verehrung Gottes, die zweite auf die Nächstenliebe bezieht, hat Mose die Grundaussage kurz und klar zusammengefaßt, damit die Juden wissen, was Gott in den einzelnen Geboten will. Natürlich besteht noch ein entscheidender Unterschied zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen. Trotzdem verlangt Gott absichtlich statt Anbetung oder Verehrung Liebe von uns, um uns auf diese Weise zu sagen, daß ihm nur ein freiwilliger Dienst gefällt. Denn nur der gibt sich Gott ganz zum Gehorsam hin, der ihn liebt. Da uns jedoch die bösen, verderbten Triebe des Fleisches vom rechten Weg abziehen, zeigt uns Mose, daß unser Leben erst dann auf dem richtigen Weg ist, wenn die Liebe zu Gott all unser Denken und Tun umfaßt. Die Frömmigkeit beginnt also mit der Liebe zu Gott, weil Gott einen von den Menschen erzwungenen Gehorsam verschmäht und freiwillig und fröhlich verehrt werden will. Wir müssen dabei jedoch beachten, daß mit der Liebe zu Gott die Ehrfurcht gemeint ist, die wir ihm schulden. Bei Mose ist nur die Rede von der Liebe: „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen Kräften“. Hier findet sich noch der Zusatz: „von ganzem Gemüte“. Obgleich die Sache in den vier Ausdrücken deutlicher wird, bleibt der Sinn doch derselbe. Denn Mose wollte zusammenfassend lehren, daß wir Gott wahrhaftig lieben sollen und daß darauf alle menschlichen Fähigkeiten ausgerichtet werden müssen. Darauf sollten Herz und Sinn ihre ganze Kraft lenken, damit nichts in uns von der Liebe zu Gott unerfüllt bliebe. Bekanntlich wird bei den Hebräern mit dem Wort Herzen zuweilen auch das Gemüt gemeint, besonders wenn es mit dem Wort Seele verbunden ist. Was nun der genaue Unterschied bei dieser Stelle zwischen „Herz" und „Gemüt" ist, scheint mir weiter nicht wichtig, es sei denn, daß „Gemüt" den Sitz unserer Absichten bezeichnet, aus dem alles Denken und Oberlegen kommt. Weiter ergibt sich aus dieser Zusammenfassung, daß Gott bei den Vorschriften des Gesetzes nicht im Auge hat, was die Menschen können, sondern was sie „sollen“. Denn bei der Schwachheit unseres Fleisches ist es unmöglich, daß wir von der vollkommenen Liebe zu Gott beherrscht werden. Denn wir wissen ja, wie sehr wir mit allen Fasern unseres Herzens auf Nichtigkeiten aus sind. Zuletzt folgern wir aus dieser Stelle, daß Gott nicht bei dem äußeren Schein der Werke stehenbleibt, sondern daß es ihm vor allem auf die innere Einstellung ankommt, damit aus einer guten Wurzel gute Früchte wachsen können.

Matth. 22, 39. „Das andre aber ist dem gleich.“ Den zweiten Platz weist Christus der gegenseitigen Liebe unter den Menschen zu; denn an erster Stelle steht der Dienst vor Gott. Er nennt das Gebot der Nächstenliebe ein dem ersten gleiches, weil es aus ihm hervorgeht. Denn da jeder sich selbst der Nächste ist, wird es nur da eine wirklich starke Liebe zum Nächsten geben, wo die Liebe zu Gott beherrschend ist. Denn die Liebe, mit der die Kinder der Welt einander begegnen, ist käuflich; jeder ist dabei um seinen eigenen Vorteil bemüht. Andererseits kann unmöglich die Liebe zu Gott regieren, ohne daß sie aus sich heraus die brüderliche Liebe unter Menschen erzeugt. Wenn nun Mose befiehlt, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, so wollte er nicht etwa die Liebe zu sich selbst an die erste Stelle rücken, so daß jeder vor allem sich selbst lieben solle und dann erst die Nächsten, wie das törichte Geschwätz der Sophisten auf der Sorbonne lautet: Mose will uns im Gegenteil von unserer übergroßen Selbstsucht heilen; dazu stellt er den Nächsten mit uns auf die gleiche Stufe. Er hätte auch verbieten können, daß man, rücksichtslos gegen die andern, nur für sich selbst sorgt; denn die Liebe schließt alle zu einem Leib zusammen. Er geht gegen die Eigenliebe an, die die Menschen voneinander trennt, und ruft jeden einzelnen zur Gemeinschaft und zu einem gewissermaßen gegenseitigen liebevollen Umfangen. Daraus sehen wir, daß Paulus mit Recht die Liebe das Band der Vollkommenheit nennt (vgl. Kol. 3, 14) oder die Erfüllung des Gesetzes (vgl. Röm. 13, 10), da alle Gebote der zweiten Tafel auf sie bezogen werden müssen.

Luk. 10, 28. „Tue das, so wirst du leben.“ Kurz zuvor habe ich erklärt, wie diese Verheißung mit der gnädigen Rechtfertigung aus Glauben zusammenstimmt. Denn Gott rechtfertigt uns nicht darum ohne Werke, weil etwa das Gesetz keine vollkommene Gerechtigkeit aufwiese, sondern weil wir alle bei seiner Erfüllung versagen. Und deshalb heißt es, daß wir durch das Gesetz das Leben nicht erlangen können, da es durch unser Fleisch geschwächt ist (vgl. Röm. 8, 3). Also stimmt beides gut zusammen, einmal, daß das Gesetz lehrt, daß sich die Menschen diese Gerechtigkeit durch die Werke verschaffen sollen, und auf der andern Seite, daß niemand durch die Werke gerecht wird, nicht weil der Fehler in der Lehre des Gesetzes läge, sondern bei den Menschen. Zugleich wollte Christus damit die Verleumdung entkräften, die ihm von den Einfältigen und Ungebildeten angehängt wurde, daß er nämlich das Gesetz als beständige Richtschnur für die Gerechtigkeit nicht mehr gelten lasse.

Luk. 10, 29. „Er aber wollte sich selbst rechtfertigen.“ Es könnte so aussehen, als habe diese Frage mit der Rechtfertigung des Menschen nichts zu tun Wenn wir uns jedoch daran erinnern, was ich schon anderwärts sagte, daß sich die Heuchelei besonders gut anhand der zweiten Tafel aufdecken läßt (manche geben nämlich vor, sie seien ausgezeichnete Verehrer Gottes und treten dabei die Liebe zum Nächsten öffentlich mit Füßen), wird uns sofort klar, daß der Pharisäer diese Ausflucht benutze, um nicht ins helle Licht zu geraten und seinen falschen Heiligenschein zu verlieren. Denn da er merkt, daß die Prüfung seiner Liebe sich gegen ihn auswirken würde, versteckte er sich hinter dem Wort „Nächster", um nicht als Übertreter des Gesetzes dazustehen. Bekanntlich war das Gesetz von den Schriftgelehrten dahin umgedeutet worden, daß man nur die für seine Nächsten hielt, die dessen würdig waren. Daraus war dann unter ihnen der Grundsatz herrschend geworden, seine Feinde dürfe man hassen. Denn da die Heuchler fürchten, ihr Leben werde nach dem Maßstab des Gesetzes beurteilt, suchen sie ihre Schuld hinter allen möglichen Ausflüchten zu verbergen.

Luk. 10, 30. „Da antwortete Jesus und sprach.“ Christus hätte einfach sagen können, daß mit dem Wort „Nächster" jeder beliebige Mensch gemeint sei, weil die gesamte Menschheit durch ein heiliges Band der Gemeinschaft verbunden ist. Und gerade darum gebraucht der Herr im Gesetz ja dieses Wort, um uns recht lockend zur gegenseitigen Liebe zu ermuntern. Deutlicher wäre die Anweisung gewesen: Liebe jeden Menschen wie dich selbst. Da aber die Menschen ihr Hochmut blind macht, so daß jeder mit sich selbst zufrieden ist und die andern kaum für gleichwertig hält und ihnen verweigert, wozu er verpflichtet wäre, verkündet der Herr absichtlich, daß jeder Mensch der Nächste sei, damit eine solche Verbundenheit die Menschen einander näherbringe. Die Tatsache also, daß jemand ein Mensch ist, macht ihn für uns bereits zum Nächsten; denn es steht uns nicht zu, die gemeinsame natürliche Verbundenheit aufzuheben. Doch Christus wollte dem Pharisäer eine Antwort entlocken, mit der er sich selbst verurteilte. Denn da bei den Pharisäern die Lehrbestimmung geltend war, daß nur ein Freund auch ein Nächster für uns sei, hätte der Pharisäer niemals zugegeben, daß mit dem Wort „Nächster" alle Menschen gemeint sind, wenn Christus ihn ohne Umschweife gefragt hätte: Wer ist dein Nächster? Zu diesem Bekenntnis zwingt ihn nun das angeführte Gleichnis, das sagen will, jeder Mensch, und sei es der allerunbekannteste, ist für uns Nächster; denn Gott hat alle Menschen miteinander verbunden, damit sie sich gegenseitig helfen. Damit macht Christus den Juden und besonders ihren Priestern einen scharfen Vorwurf, daß sie sich zwar rühmen, Kinder desselben Vaters zu sein und sich durch das Vorrecht der Kindschaft von den andern Völkern zu unterscheiden, um vor ihnen als Gottes heiliges Erbe dazustehen, trotzdem aber grausam und in maßloser Verachtung aufeinander herabsehen, als ob keinerlei Verwandtschaft zwischen ihnen bestünde. Zweifellos gibt Christus hier ein Bild von der Kälte und Lieblosigkeit, deren jene sich selbst bewußt waren. Seine Hauptabsicht bei diesem Gleichnis ist jedoch zu zeigen, daß die Verbundenheit, die uns zu gegenseitigen Gefälligkeiten verpflichtet, nicht auf Freunde oder Blutsverwandte beschränkt werden darf, sondern für die gesamte Menschheit gilt. Um das klarzustellen, vergleicht Christus einen Samariter mit einem Priester und einem Leviten. Es ist genügend bekannt, wie erbittert die Juden die Samariter haßten, so daß trotz ihrer nachbarschaftlichen Wohnlage eine abgrundtiefe Kluft zwischen ihnen herrschte. Nun sagt Christus, daß ein jüdischer Bürger von Jericho auf seiner Reise nach Jerusalem von Räubern verwundet und sowohl von einem Priester wie von einem Leviten liegengelassen worden sei, obwohl sie ihn halbtot angetroffen hatten, daß aber ein Samariter sich seiner freundlich angenommen habe. Und dann fragt Christus, wer von diesen dreien für den Juden der Nächste gewesen ist. Nun konnte der verschlagene Schriftgelehrte nicht mehr entkommen; er mußte dem Samariter den Vorzug vor den beiden andern geben. Hier wird den Schriftgelehrten wie in einem Spiegel die Verbundenheit der Menschen gezeigt, die sie mit ihren verfluchten Spitzfindigkeiten zu leugnen gesucht hatten. Und die Barmherzigkeit, die ein Feind dem Juden gewährt, beweist, daß, nach der Stimme der Natur, der Mensch um des Menschen willen geschaffen ist. Daraus ergibt sich eine gegenseitige Verpflichtung für alle Menschen. Das Sinnbild, das die Verfechter des freien Willens hier zu entdecken glauben, ist zu unsinnig, als daß es einer Widerlegung nur würdig wäre. Der verwundete Mann ist für sie ein Bild für die Lage nach Adams Fall. Da es von ihm heiße, er sei nur halbtot gewesen, könne also auch nicht die Fähigkeit zum guten Handeln in ihm völlig ausgelöscht worden sein. Als ob Christus hier über die Verderbtheit der menschlichen Natur hätte sprechen wollen und darlegen, ob Satan Adam eine tödliche oder heilbare Wunde beigebracht hat. Als ob er nicht klar und ohne Gleichnis an anderer Stelle ausgesprochen hätte, daß alle tot seien, außer denen, die er mit seiner Stimme lebendig macht (vgl. Joh. 5, 25). Die andere sinnbildliche Ausdeutung klingt nicht besser, und doch ist sie so eingeschlagen, daß sie bei allen nahezu als Orakel aufgenommen wurde. Der Samariter soll danach Christus darstellen, weil er unser Beschützer sei. Wein und Öl seien in die Wunde gegossen worden, weil Christus uns mit der Buße und der Verheißung seiner Gnade heile. Als dritte Spitzfindigkeit hatte man sich ausgedacht, daß Christus die Genesung nicht sofort geschenkt habe, sondern die Pflege zu allmählicher Besserung der Kirche als dem Wirt aus dem Gleichnis anvertraut habe. Nichts von alledem ist meiner Meinung nach glaubwürdig. Die Ehrerbietung gegenüber der Schrift ist wahrhaftig höher zu achten, als daß man ihren echten Sinn mit solcher Willkürlichkeit umdeuten dürfte. Es muß doch jedermann deutlich sein, daß diese Spekulationen von müßigen Menschen ganz gegen die Meinung Christi erfunden sind. (...)

Mark. 12, 32.Meister, du hast wahrlich recht geredet.“ Nur Markus erwähnt, daß der Schriftgelehrte befriedigt gewesen sei. Das ist darum wichtig, weil er Christus böswillig und hinterhältig angegriffen hatte und nun nicht nur stillschweigend der Wahrheit weicht, sondern Christus öffentlich und aufrichtig zustimmt. Er war also keiner von der Art Feinde, deren Hartnäckigkeit unheilbar ist und die, wenn sie auch hundertmal überführt sind, doch nicht aufhören, der Wahrheit auf irgendeine Weise zu widerstehen. Außerdem zeigt uns diese Antwort, daß Christus gar nicht nun genau aus diesen beiden Worten eine Regel für das Leben aufstellen wollte, sondern er ergriff die Gelegenheit und wandte sich gegen die erlogene, geheuchelte Heiligkeit der Schriftgelehrten, die vor lauter Beobachtung der äußerlichen Zeremonien die Anbetung Gottes im Geist beinahe für gar nichts ansahen und die Liebe vollends gar nicht weiter in Betracht zogen. Obwohl nun dieser Schriftgelehrte auch von solchen Fehlern behaftet war, hatte er doch, wie das zuweilen zu gehen pflegt, einen Samen richtiger Erkenntnis aus dem Gesetz in sich aufgenommen, den er in seinem Herzen verschlossen und erstickt hatte. Darum ließ er sich willig von seinem Irrtum zurückbringen. Auffällig ist jedoch, daß der Schriftgelehrte die Opfer hinter die Nächstenliebe stellt, obwohl sie zum Gottesdienst und zur ersten Tafel gehören. Das erklärt sich leicht: Obwohl der Gottesdienst weit über allem steht und höher zu schätzen ist als alle Pflichten eines gerechten Lebens, bedeuten doch die äußerlichen Erfüllungen des Gottesdienstes nicht so viel, daß sie die Liebe verdrängen dürfen. Denn wir wissen, daß die Liebe schon an sich Gott gefällt, während er sich um die Opfer nicht weiter kümmert und sie nicht billigt, es sei denn, sie verfolgen ein höheres Ziel. Außerdem handelt es sich hier nur um nichtige, eitle Opfer, da Christus eine scheinbare Frömmigkeit einem wahren, aufrichtigen Wesen gegenüberstellt. Dieselbe Lehre begegnet uns auch immer wieder bei den Propheten, um den Heuchlern einzuprägen, daß ihre Opfer wertlos sind, wenn sie nicht mit einer geistlichen Wahrhaftigkeit einhergehen, und daß sich Gott nicht mit Tieropfern versöhnen läßt, wo man es an der Liebe fehlen läßt.

Mark. 12, 34.Da Jesus aber sah, daß er verständig antwortete.“ Ob dieser Schriftgelehrte daraufhin weitere Fortschritte gemacht hat, muß dahingestellt bleiben. Da er sich jedoch empfänglich gezeigt hatte, reicht Christus ihm die Hand und lehrt uns mit seinem Beispiel, denen zu helfen, bei denen sich ein gewisser Anfang von Offenheit oder richtiger Erkenntnis anbahnt. Aus zwei Gründen erklärt Christus, dieser Schriftgelehrte sei nicht fern vom Reich Gottes: einmal hatte er ein offenes Ohr für seine Pflicht, und dann unterscheidet er klug zwischen wirklich notwendigem Dienst und nur äußerlichem Gebaren des Kultes. Die Erklärung Christi, er sei dem Reich Gottes nahe, soll weniger ein Lob als eine Ermunterung sein; und in seiner Person legt er es uns allen ans Herz, unbeirrt auf dem einmal beschrittenen richtigen Weg weiterzugehen. Wir erkennen aber auch aus diesen Worten, daß sich viele, seien sie auch jetzt noch in Irrtümer verstrickt, doch schon dem richtigen Weg nähern, wenn sie ihn auch noch nicht sehen, und daß sie auf diese Weise vorbereitet werden, in der Kampfbahn des Herrn zu laufen, wenn die Zeit dazu da ist. Wenn die Evangelisten sagen, den Gegnern sei der Mund gestopft worden, so daß sie nicht wagen, Christus weiter nachzustellen, so darf man das nicht so auffassen, als hätten sie von ihrer verstockten Hartnäckigkeit abgelassen. Denn innerlich knirschten sie mit den Zähnen, wie es wilde Tiere tun, wenn sie in einen Käfig eingesperrt werden, oder gleich wilden Pferden bissen sie auf ihren Zaum. Aber je eiserner ihre Härte, je unbeugsamer ihre Rebellion war, desto herrlicher erscheint der Triumph Christi über beides. Sein Sieg muß uns ungemein ermutigen, daß wir uns niemals aus der Verteidigung der Wahrheit verdrängen lassen, da wir doch des Erfolges sicher sind. Es mag zwar oft geschehen, daß sich die Feinde bis ans Ende frech gegen uns gebärden; aber endlich wird Gott doch dafür sorgen, daß solcher Zorn auf ihr eigenes Haupt zurückfällt und die Wahrheit trotz alledem siegreich bleibt. 


Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Dreizehnter Band: Die Evangelien-Harmonie 2. Teil, Neukirchener Verlag, 1974, S. 211ff.