Im Schutz der Verborgenheit

Predigt zu 2. Mose 33, 17b-23


Der Berg Sinai bzw. Berg Mose © Pixabay

Michael Weinrich predigte in der Marienkirche am Berliner Alexanderplatz über die Herrlichkeit Gottes.

Predigt im Universitätsgottesdienst am 2. Sonntag n. Epiphanias, den 18. Jan. 2004, 18.30 Uhr in der Marienkirche am Alexanderplatz

»Denn du hast Gnade gefunden in meinen Augen, und ich kenne dich mit Namen. Mose aber sprach: Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen! Und der Herr antwortete: Ich will all meine Pracht vor deinem Angesicht vorübergehen lassen und will den Namen des Herrn vor dir ausrufen: wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Dann sprach er: Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut. Und der Herr sprach: Siehe da ist Raum neben mir; tritt auf den Felsen. Wenn nun meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in eine Kluft des Felsens stellen und meine Hand schützend über dich breiten, bis ich vorüber bin. Und wenn ich dann meine Hand weghebe, darfst du mir nachschauen, aber mein Angesicht kann niemand sehen.«

Liebe Gemeinde,

um diesen heiligen Berg, den Sinai, mitten in der kargen Wüste zwischen Ägypten und dem verheißenen Land ranken sich die merkwürdigsten Geschichten. Es klingt alles ein wenig nach Tausend und eine Nacht. Ein Berg wie dieser, dessen Spitze mal von einer Wolke umhüllt ist und mal im Rauch verborgen liegt, lädt geradezu dazu ein, Stimmen zu hören und Gesichter zu sehen. Man muss sich nur an das Spektakel erinnern, das dieser Berg veranstaltet hat, bevor Mose sich veranlasst sah, den Geheimnissen auf die Spur zu gehen, und einsam auf die Spitze kletterte. Von dort kehrte er dann mit den zehn Geboten zurück, was nach dem himmlischen Getöse mit Posaunenschall und Widderhorn im Grunde durchaus als ein überaus bescheidenes und ernüchterndes Resultat angesehen werden kann – jedenfalls auf den ersten Blick.

Wenig später geht es wieder mit einer ganzen Delegation hinauf auf halbe Höhe zum feierlichen Bundesschluss, und es ist wiederum Mose, der weiter bis zur Spitze vordringt, wo er zweimal eine Ewigkeit bleibt. Erst sieben Tage (24,16) und dann noch vierzig Tage und vierzig Nächte (24,18); das sind die sieben Tage der Schöpfung, die sich unserem Zeitmaß entziehen, und das ist die Zeit der Wüstenwanderung Israels: diese die ganze Spanne eines menschlichen Lebens umfassende Zeit von vierzig Jahren, die mit vierzig Tagen und Nächten symbolisiert wird. Auch Jesus verbrachte nach der Erzählung der Evangelisten vierzig Tage und Nächte in der Wüste – es war eine Zeit der Versuchung und somit auch der Vergewisserung. Mose wird, nachdem Gott feierlich seinen Bund mit Israel geschlossen hat, gleichsam stellvertretend für das Volk in die Nähe Gottes gerufen und sitzt da zwei Ewigkeiten herum: eine, damit die Welt neu erschaffen wird – eben das ist es, was es mit dem Bund Gottes auf sich hat – und die andere, um in aller Nüchternheit und lebenslang gegen alle Versuchungen gestärkt zu werden, die auf dem Weg zum gelobten Land ein Leben lang nicht aufhören werden. Es wird sich zeigen, dass Israel auch im verheißenen Land weiterhin unterwegs bleiben wird zum gelobten Land.

Es ist übrigens überaus verständlich, dass es dem wartenden Volk unten am Berg ein wenig lang wurde, diese beiden Ewigkeiten abzuwarten. Wie wir wissen, machten sie sich in der Zwischenzeit ihr eigenes Bild von Gott: ein in Gold erstrahlendes kraftprotzendes Stierbild. Sie geben ihr Bestes, stellen sich die Herrlichkeit Gottes so vor Augen, wie sie sich vorstellen. Sie ist auf den ersten Blick durchaus eindrucksvoller als diese beiden Steintafeln, die Mose da nach den zwei Ewigkeiten auf dem Gottesberg in den Händen hält. Nichts anderes war darauf geschrieben, als das, was Mose bereits nach seiner ersten Bergbesteigung mündlich zu berichten wusste: Zehn Gebote, die einen zum rechten Gottesdienst und die anderen zum gedeihlichen Zusammenleben.

Wenn man nach all dem Aufwand, mit dem die Ältesten und Priester den Bundesschluss und das Bundesmahl auf halber Höhe begangen haben, am Ende aus höchster Höhe so wenig in den Händen hat, wird schließlich auch der so unvermittelt geäußerte Wunsch des Mose verständlich, die Herrlichkeit Gottes einmal sehen zu dürfen. Es ist durchaus kein Misstrauen, das diesen Wunsch hervorbringt. Mose ist so mit Gott vertraut, wie ein Mensch im besten Fall mit Gott vertraut sein kann. Und auch von Gott heißt es, dass er mit Mose geredet habe, „wie jemand mit seinem Freunde redet“ (33,11). Hier ist also nichts von unserer Heimtücke im Spiel, in der wir Gott dazu verführen wollen, zunächst einmal seine Existenz unter Beweis zu stellen, damit wir uns dann überlegen können, ob wir uns auch auf ihn einlassen wollen oder nicht. Soll er sich doch erstmal zeigen, dann sehen wir weiter. Nichts von dieser Gott erniedrigenden Vorführmentalität, in der sich Gott für uns attraktiv machen soll, ist bei Mose zu spüren.

Mose verlangt nicht danach Gott zu sehen. Er will Gottes Herrlichkeit sehen – das ist etwas ganz anderes. Er will die Herrlichkeit sehen, die hinter dem Bund und den zehn Geboten steht. Kein selbstgewisser Zweifel will hier Gott in Bedrängnis versetzen, sondern es scheint die Neugier zu sein, wie denn Herrlichkeit Gottes aussehen mag, wenn sie eben nicht die Herrlichkeit eines goldenen Stieres ist. In welch einem Glanz erstrahlt Gott, der solche Gebote gibt, wie er sie Israel gegeben hat? Was ist das für ein Gott, der sich eine solche Unanschaulichkeit leisten kann, wie sie uns in diesen beiden und aus diesen beiden Steintafeln entgegen tritt? Wenn Mose Gott auf seine Herrlichkeit anspricht, dann hat er bereits im Bund und diesen beiden steinernen Tafeln diese Herrlichkeit erkannt. Er will nur das sehen, von dessen Wirklichkeit er bereits überzeugt ist. Kurz: Er will sehen, woran er glaubt – eine Sehnsucht, die nicht zur Vergewisserung des Glaubens gestillt werden muss, sondern die gerade seine Gewissheit ausmacht, dass wir einst sehen werden, was wir jetzt nur glauben können.

Wir wissen ja, dass es der Zweifler nicht beim Sehen bewenden lassen wird, vielmehr wird er, wenn auch das Sehen wieder vom Zweifel eingeholt ist, auch fühlen wollen – anfassen, wie der skeptische Thomas angesichts der Erscheinung des auferstanden Christus. Hier bekommt das Sprichwort »Wer nicht hören will, muss fühlen« noch einmal ein ganz überraschend neue Bedeutung. Mose aber hört und will nun auch sehen, auf den er hört. Er will Gott nicht die Hand schütteln, um festzustellen, dass es ihn wirklich gibt. Er drängt nicht auf eine empirische Bestätigung. Vielmehr trägt er Gott lediglich die Ungeduld vor, die in jedem überzeugten Glauben liegt, wenigstens für einen Moment endlich einmal die vom Glauben immer nur vorläufig überbrückte Trennung hinter sich lassen zu können, um vollkommen ungetrübt mit Gott zusammen sein zu können. Wie mit einem Freund hat Gott mit ihm geredet – sie sind sich vertraut, aber sie sind getrennt. Wen wunderts, wenn dies als ein Mangel empfunden wird.

Und siehe da: Gott geht auf Mose ein – doch es bleibt die Frage, ob die Herrlichkeit am Ende mehr zu sehen oder zu hören ist. Gott will seine Herrlichkeit an Mose vorüberziehen lassen und will seinen Namen vor Mose ausrufen. Es gibt hier also nichts zu sehen, ohne dass es auch etwas zu hören gibt. Genau das, was es zu sehen gibt, gibt es auch zu hören. Und das, was es zu hören gibt, tritt auch in Erscheinung, auch wenn ihm nur nachgesehen werden kann. Lasst uns neben Mose treten und hören und sehen. Erst indem man die Herrlichkeit Gottes hört, kann man ihr schließlich auch nachsehen.

Gott ruft seinen Namen aus: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Das kann man nun so oder so verstehen. Skeptische Ohren werden hier hören: „Wer Glück hat, der hat Glück gehabt, wer aber Pech hat, hat Pech gehabt.“ So ist das im Leben – das wird täglich neu durch unsere Erfahrung bestätigt. Wir erinnern uns noch an Gottes Selbstvorstellung am brennenden Dornbusch. Das konnte man ja auch schon in diese Richtung verstehen: „Ich bin ein freier Gott, wenn es mir gefällt werde ich dasein, und wenn nicht, eben nicht, also lasst euch überraschen.“ Ein Schicksalsgott, um dessen gute Laune man besorgt sein muss, denn auf die kommt es an. Launige Gnade wartet auf gnädige Laune.

Wäre es so zu verstehen, dann wäre es wohl auch mit dem Sehen Gottes nicht so gefährlich geworden, wie es dort erzählt wird. Der Herrlichkeit eines solchen Gottes hätte das Auge des Menschen wohl standhalten können. Einen solchen Gott sind wir ja geneigt überall zu sehen, auch wenn es von ihm direkt nichts zu sehen gibt. „Sieh dich nur um, Mose, du siehst das Auf und Ab der Geschichte, so siehst du auch mich in meiner großen Macht, die den einen erhebt und den anderen erniedrigt. Tritt hervor aus dem Fels und sieh dir die Welt an, dann siehst du meine Herrlichkeit – wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig.“ Gewiss hätte Gott die Wolke, welche die Spitze des Berges umhüllte, ein wenig zu Seite genommen, und Mose hätte die sich eröffnende Aussicht gewiss genossen. Er hätte sich bedankt und wohl bei sich gesagt, dass er es ja immer schon geahnt habe. Vielleicht hätte er lieber nicht fragen sollen. Nicht, dass es Nichts sei, was es da zu sehen gibt – es ist vielmehr alles. Aber was nur, wenn uns dann einmal die Ahnung erschleichen sollte, dass Alles auch nichts sein kann?

Aber die Ereignisse gestalten sich ganz anders. Mose muss sich in einer Felsspalte verbergen, damit er im Schutz der Verborgenheit nicht von der Herrlichkeit Gottes zu Tode, d.h. bis zur völligen Nichtung geblendet wird. Gott selbst hält seine Hand über ihn, damit er nicht von dem geblendet wird, der die Hand über ihn hält. Die Dramatik dieser Szenerie kann sich nur erschließen, wenn wir uns nicht allein dem Auge überlassen und noch einmal hin hören – eben wie Mose hinhören – auf den Namen, der in der Herrlichkeit Gottes erklingt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Das kann man auch so wie Mose hören, und dann ertönt es etwa so: „Wem ich meine Gnade zuwende, der kann sich darauf verlassen, und wer meine Barmherzigkeit erfährt, dem kann sie niemand wieder entziehen.“ Oder: „Seht auf meine Gnade, sie ist verlässlich, und seht auf meine Barmherzigkeit, auf diese könnt ihr bauen.“ Oder: „Mein Name ist Gnade und Barmherzigkeit.“ Und so hat es eben auch schon am Dornbusch geheißen: „Was auch immer geschehen wird, ich werde mit euch sein und mich als der erweisen, der ich bin.“ Das ist die Herrlichkeit Gottes, die Gott an Mose vorüberziehen lässt und ihn dabei mit seiner Hand schützt, damit er von der Größe des Namens Gottes nicht vollkommen genichtet wird. Das ist der Glanz, in dem der Gott erstrahlt, der aus der Sklaverei herausführt, einen Bund schließt und solche Gebote gibt, wie er sie Israel am Sinai gegeben hat.

Es bleibt in dieser Epiphanie Gottes bei der Indirektheit für Ohr und Auge – was sich ereignet ist Schall und Rauch. Auf überraschende Weise gibt diese biblische Geschichte Goethes Faust Recht, indem sie ihm vor allem nicht Recht gibt[1]. Die Epiphanie als Schall und Rauch ist selbst Ausdruck des Namens Gottes also seiner Gnade und Barmherzigkeit, denn sie nichtet uns nicht, sondern lässt uns sein, indem sie uns das gibt, was mitten in der Wüste von existentieller Bedeutung bleibt: Die Verheißung der Gegenwart Gottes und Wegweisung.

Gott nachschauen, das darf Mose. Er ist ihm immer voraus. Aber er orientiert uns in den Spuren, in denen er sich gezeigt hat – anders als wir denken, eben in Schall und Rauch, unfasslich, aber von einer unüberbietbaren Deutlichkeit, von einer Deutlichkeit, deren Überbietung uns blenden und zum Verschwinden bringen würde, denn da wo Gott selbst ist, da ist er alles in allem. Wo Gott selbst ist, ist alles andere Nichts – es kann sich kein eigenes Sein Gott gegenüber behaupten. Es lohnt sich schon sehr, über die Abgründe von Alles und Nichts genauer nachzudenken. Doch das Evangelium dieser Erzählung vom erhabenen Gottesberg ertönt in einer uns schützenden Helligkeit: Gott hält sich verborgen, damit wir sein können. Er begrenzt sich selbst, um uns Platz zu lassen. Er lässt uns seinen Namen hören, damit wir uns nicht vor uns selbst erschrecken müssen. Lasst uns ihm nachschauen, es gibt bestimmt etwas zu sehen. Gesegnet sei sein Name.

– Amen –


[1]     Vgl. dazu Jürgen Ebach, „Name ist Schall und Rauch“. Beobachtungen und Erwägungen zum Namen Gottes, in: Gretchenfrage. Von Gott reden – aber wie? Band II, hg. v. J. Ebach u.a. (Jabboq 3), Gütersloh 2002,17-82.


Michael Weinrich