Und die Moral von der Geschicht'? Narrative Ethik - ein aktuelles Konzept christlicher Ethik

Von Marco Hofheinz, Bern

Gelebte Moral ist ohne stories, ohne Geschichten aus dem Leben einzelner nicht denkbar. So die grundlegende Erkenntnis narrativer Ethik. Beim Erzählen bleibt die Ethik jedoch nicht stehen. Sie begibt sich vielmehr in kritische Distanz zu dem Erzählten und setzt die einzelnen stories mit der story Jesu Christi in Beziehung.

„Narrative Ethik“[1] – was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Narrative Ethik muss etwas mit Narrationen, also Erzählungen, zu tun haben. So legt es zumindest die lateinische Abkünftigkeit des Attributs „narrativ“ nahe. Narrationen haben in der kultur- und geisteswissenschaftlichen Landschaft Konjunktur. So sind sie etwa im Bereich von Germanistik, Anglistik, Pädagogik, Psychologie, Philosophie und eben auch Theologie von größtem Interesse. Speziell im Blick auf die Ethik mag die Wendung „narrative Ethik“ mancher/m Anlass zu erwartungsvoller Vorfreude geben: Endlich eine Ethik, die sich nicht in grauer Theorie erschöpft; endlich eine Ethik, die erzählt und nicht nur räsoniert.

Dieser Vorfreude liegt eine spezifische Lesart zugrunde, wonach das Adjektiv „narrativ“ „die Weise des Redens, Denkens bzw. Schreibens über Gegenstände auf ethischem Feld benenn[t]“[2]. Allerdings führt diese Lesart im Bereich der Theologie in die Irre. Denn in keinem der ausgearbeiteten Ansätze narrativer Ethik, die bestimmten stories ihre besondere Aufmerksamkeit widmen, wird die Ethik auf das Erzählen dieser stories reduziert.[3] Dies gilt sowohl für den seit den 1970er Jahren entwickelten Ansatz des katholischen Theologen Dietmar Mieth (* 1940), der narrative Ethik als Literatur- und Modellethik bzw. als ethische Reflexion literarischer, „ethische Modelle“ entwerfender Lebensgeschichten versteht,[4] als auch den primär aus dem angelsächsischen Sprachraum stammenden Ansatz, der ungefähr zeitgleich danach fragte, wie sich Identität konstituiert und welche besondere Rolle hierbei stories spielen.

Erzählen und urteilen 

Für Theologen wie den Baptisten James William McClendon, Jr. (1924-2000), den Methodisten (jetzt Anglikaner) Stanley Hauerwas (* 1940) und in gewisser Weise auch den Reformierten Dietrich Ritschl (* 1929) war die Erkenntnis leitend, dass sich jeder Mensch in stories vorfindet und erfährt, die sein Handeln und Urteilen in einer Gemeinschaft bestimmen. Beeinflusst wurde diese Forschungsrichtung weniger durch den phänomenologischen Ansatz des deutschen Philosophen Wilhelm Schapp (1884-1965), wonach der Mensch narrativ strukturiert bzw. in Geschichten verstrickt ist,[5] als vielmehr durch den handlungstheoretischen Ansatz des schottisch-stämmigen amerikanischen Moralphilosophen Alasdair MacIntyre (* 1929), der betont, dass Handlungen nur als „dargestellte Erzählungen“[6] verständlich sind.

In beiden theologischen Ansätzen, dem deutschsprachigen wie dem angelsächsischen, genießt das Erzählen keinen primären Status in der ethischen Urteilsbildung. Als besondere Kommunikationsform fungiert es keineswegs als Ersatz des differenzierten Argumentierens. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass das Erzählen keine methodisch-reflektierte Kommunikationsform darstellen kann. Eine solche Behauptung wäre sicherlich allein schon im Blick auf erzähldidaktische Bemühungen im Bereich der Religionspädagogik falsch.

Um dies exemplarisch an einem prominenten Ansatz narrativer Ethik zu verdeutlichen: Der bereits erwähnte amerikanische Theologe James William McClendon, Jr., der als einer der Ahnherren narrativer Ethik im angelsächsischen Raum gelten kann, scheut zwar nicht davor zurück, seine „Ethics“ anhand der Liebesgeschichte Sarah und Jonathan Edwards, des Lebensweges Dietrich Bonhoeffers und der „Aufbruchsstory“ von Dorothy Day und der Katholischen Arbeiterbewegung zu illustrieren. Gleichwohl ist er keineswegs dazu bereit, dem Erzählen den Status einer primären Ausdrucksform der Ethik zuzugestehen: Die Aufgabe einer christlichen Ethik, wie McClendon sie entfalten möchte, besteht nicht im Erzählen, sondern der Reflexion auf eine bestimmte Geschichte (story) hin. Diese story ist die story Gottes in Jesus Christus. Narrativer Ethik geht es als christlicher Ethik, genauer gesagt, um die kritische Analyse des moralischen Lebens derjenigen, die an der fortdauernden story Jesu Christi und des von ihm verkündigten Reiches Gottes partizipieren. Mit Stanley Hauerwas gesprochen, gilt für die theologische Ethik wie für die gesamte Theologie: „Theologie selbst erzählt keine Geschichten, sondern sie ist die kritische Reflexion einer Geschichte“[7].

Eingebettet in die story Jesu Christi

In ihrem Bemühen, diese story Jesu Christi kennen und verstehen zu lernen und zu ihrer Aneignung anzuleiten, konstituiert sich christliche Ethik selbst als genuin „narrative“ Ethik.[8] Demzufolge gehört es nicht zur Aufgabe einer genuin christlichen Ethik, beliebige stories zu erzählen, sondern in kritischer Absicht die Lebensweise derjenigen zu untersuchen und analysieren, die durch die story Christi geformt und geprägt sind. Die Aufgabe einer narrativen Ethik besteht mit anderen Worten in der Exploration des narrativ geprägten Seins in Christo bzw. des besonderen Modus des Eingebettetseins in dessen story (vgl. Gal 2,20).

Ohne stories keine Moral

„Narrative Ethik“ reflektiert als Teil der theologischen Disziplin der Ethik auf die handlungsleitende Funktion der in der christlichen Kirche erzählten und zu erzählenden story Christi als der Geschichte Gottes mit den Menschen.

Mit dieser Aufgabenbestimmung rekurriert McClendon durchaus auf die theoriegeschichtlich etablierte Unterscheidung zwischen Ethos und Ethik, d.h. der gelebten Moral einerseits und der Darstellung und kritischen Prüfung derselben andererseits.[9] Narrative Ethik erkennt demzufolge auch die Notwendigkeit an, sich in kritische Distanz zu den verschiedenen Erzählungen zu begeben und sie zu jener story Christi in Beziehung zu setzen, die die Lebensweise von Christenmenschen prägt und formt.

Narrative Ethik schließt Erzählungen bzw. stories als Gegenstandsbereich der Ethik ein und nicht aus. Narrative Ethik erachtet sie vielmehr als integralen Bestandteil des Ethos. Denn gelebte Moral ist ohne stories nicht denkbar. Wenn wir sagen sollen, warum wir so und nicht anders handeln, erzählen wir in der Regel die story unserer Verstrickung in bestimmte Umstände, an denen bestimmte Personen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort beteiligt waren. Ohne unser Verstricktsein in Geschichten zu thematisieren, können wir unser Handeln nicht erklären. Es formt unsere Identität und infolgedessen auch unser Handeln. Zu fragen ist freilich, in welcher Weise dies geschieht.

Wider die Tyrannei der stories

Die uns prägenden stories sind also zu befragen. Wir müssen ihnen nicht einfach schicksalsergeben gegenüberstehen. Sie bedürfen vielmehr der kritischen Infragestellung und Prüfung. Wenn wir nun solches Infragestellen und Prüfen vollziehen, bewegen wir uns bereits im Bereich der Ethik und nicht nur dem des Ethos bzw. der gelebten Moral. Ethik reflektiert auf das Ethos hin. Sie stellt es nicht nur dar, sondern prüft es auch. Dies gilt auch für die uns prägenden stories. [10] Denn nur allzu oft konkurrieren verschiedene Darstellungen von stories miteinander und erheben nicht selten einander ausschließende Geltungsansprüche. Würde Ethik ihrerseits bloß beschreiben oder stories erzählen, so stünde sie den verschiedenen Erzählungen letztlich hilflos gegenüber. Gerade so wäre sie der Tyrannei solcher stories schutzlos ausgeliefert, die in perfider Weise Gewaltmissbrauch zu legitimieren bemüht sind.

Man denke hier nur an die vielen Dolchstoßlegenden in Vergangenheit und Gegenwart oder noch krasser: die Mär vom angeblichen polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz – tatsächlich hatte die SS drei tote KZ-Häftlinge in polnische Uniformen gesteckt – die Hitlers letzten Vorwand zum Überfall auf Polen bildete: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“. Gerade solche fingierten stories verweisen auf den kritischen Vernunftgebrauch, dessen es zur ethischen Urteilsbildung bedarf. Diese impliziert notwendigerweise die Unterscheidung und Beurteilung von Geschichten nach Kriterien.

Narrative Ethik ist aus gutem Grunde der seit Aristoteles als „Theorie“ interpretierten Ethik zugeordnet.[11] Dabei wird „Theorie“ in des Wortes ursprünglicher Bedeutung verstanden, nämlich als „Anschauung“, distanziertes „Sehen“ von Vorhandenem. Ethik, wie sie hier als „Theorie“ verstanden wird, bedenkt als solche das vorhandene Ethos bzw. die gegebene Moral auf ihre Bedingungen, Kriterien und möglichen Folgen hin. Als gemeinsames Kennzeichen der verschiedenen Entwürfe narrativer Ethik, wie sie im Bereich der Theologie vorgelegt wurden, wird also nur folgendes Wesensmerkmal gelten können: die kritische, theoretisierende, als schauendes und bedenkendes Unternehmen Distanz einnehmende und sie doch nicht einfach als „unreinen“ Gegenstand aus der ethischen Reflexion hinausdrängende und ausscheidende Bezugnahme auf Erzählungen. In ihren einzelnen Gestalten mag narrative Ethik je nach individueller Ausprägung unterschiedlich ausfallen, jedoch verbindet sie bei aller Unterschiedlichkeit jenes inklusorische Interesse an der Einbeziehung von Erzählungen in die ethische Urteilsbildung.

Was leistet das Erzählen – was nicht?

Konzeptionelle Differenzen betreffen vor allem die hermeneutisch zentrale Frage, ob und – wenn ja – wie „stories“ und „Erzählungen“ zu unterscheiden sind. Haben wir es mit vernachlässigbaren Nuancen in ihrer Bedeutungsverschiedenheit zu tun oder ist es für die (narrative) Ethik grundlegend wichtig, zwischen „story“ als bestimmter Geschichte und „Erzählung“ als Form des Erfassens und Übermittelns der stories zu unterscheiden? Und wie verhält sich zu diesen beiden Größen der Begriff der „Narration“? Gibt es etwa stories nur als erzählte Geschichten (= Narrationen?) oder unabhängig davon? Gibt es fernerhin Kriterien für Erzählungen und/oder stories oder können etwa alle prosaischen Texte darunter subsumiert werden? An solche die Literaturwissenschaft und die Philosophie unmittelbar betreffenden Fragen schließen sich theologisch virulente Frage an; etwa die nach der besonderen Valenz biblischer stories vor allem hinsichtlich ihrer Autorität für die ethische Urteilsbildung.  Sind etwa die stories der Bibel von „höherer“ Wertigkeit als andere stories? Wie sieht es außerdem mit einer angemessenen Verhältnisbestimmung der einzelnen stories und einer wie auch immer eruierbaren Gesamt- oder Leitstory aus? Dies betrifft etwa israeltheologisch die Relation der stories Israels, Jesu Christi und seiner Kirche in fundamentaler Weise,[12] wobei diese Frage nicht nur die narrative Ethik, sondern eine narrative Theologie als ganze betrifft.

Während die narrative Theologie jedoch nach der Bedeutung des Erzählens und bestimmter Erzählungen für die gesamte Theologie fragt, fokussiert die narrative Ethik auf die Bedeutung des Erzählens und bestimmter Erzählungen für das moralische Leben derjenigen, die an der Geschichte (story) Gottes mit den Menschen teilhaben. Narrative Ethik ist gerade darin ein eminent kritisches Unterfangen, dass sie zwischen dem unterscheidet, was das Erzählen leistet und was nicht. Dieses Differenzierungsvermögen wird sie als solche auf den verschiedenen Themenfeldern der Sozial- und Individualethik anzuwenden wissen.

Dr. Marco Hofheinz, 2008 wissenschaftlicher Assistent
am Institut für Systematische Theologie
(Abteilung Ethik, Lehrstuhl Prof. Dr. Wolfgang Lienemann)
der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

 

 

 

 

Zitierempfehlung:
Marco Hofheinz, "Und die Moral von der Geschicht'?" Narrative Ethik - ein aktuelles Konzept christlicher Ethik (Juli 2008), www.reformiert-info.de, URL: http://www.reformiert-info.de/2315-0-56-3.html (Abrufdatum)


[1] Vgl. zu diesem kurzen Beitrag meinen Aufsatz: Narrative Ethik als „Typfrage“. Entwicklungen und Probleme eines konturierungsbedürftigen Programmbegriffs, in: Marco Hofheinz / Frank Mathwig / Matthias Zeindler (Hg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2008, 3-58.

[2] Karen Joisten, Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen, in: dies. (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, DZPh Sonderband 17, Berlin 2007, (9-21) 10.

[3] Dies lässt sich höchstens von einem Entwurf „narrativer Theologie“ sagen, wie er in den 1970er Jahren Harald Weinrich, Narrative Theologie, in: Concilium 9 (1973), 329-334, vorschwebte.

[4] Vgl. Dietmar Mieth, Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik. Mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Mainz 1976, 59.

[5] Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt/M. 42004.

[6] Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. v. Wolfgang Rhiel, Frankfurt/M. 1997, 282.

[7] Stanley Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. v. Reinhard Hütter, übers. v. Guy M. Clicqué, Evangelium und Ethik Bd. 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 39.

[8] Vgl. James Wm. McClendon, Jr., Ethics. Systematic Theology Vol. 1, Nashville 22002, 330.

[9] Vgl. a.a.O., 45f.

[10] Die stories sind also in spezifischer Weise Gegenstand der Ethik. In Anlehnung an Dietrich Ritschl („Story“ als Rohmaterial der Theologie, TEH 192, München 1976) kann „story“ als Rohmaterial der Ethik bezeichnet werden.

[11] Vgl. Aristoteles, Analytica Posteriora, 89 b9.

[12] Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, KT 38, München 21988, 45ff. u.ö.