Das Darmstädter Wort

und die

Gottesdienst zum Gedenken an das Wort des Bruderrates "Zum politischen Weg unseres Volkes" am 8.12.1947

Ihr Lieben,

vergangenen Mittwoch vor 60 Jahren verabschiedete der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland das so genannte „Darmstädter Wort“. Ein Wort des Bruderrates „zum politischen Weg unseres Volkes.“

Es war ein streitbares und auch gleich umstrittenes Wort, weil es in einer ganz neuen Weise Schuld bekannte. Schon seine Geburt war schwierig und kam wohl nur zustande, weil 2/3 der Geladenen der ordentlichen Sitzung fernblieben.

Zum einen ist es ein Zeitdokument, ein Wort, das seinen Ort und seine Zeit hatte, damals, 1947. Aber ich bin der Überzeugung, dass es noch mehr ist oder sein kann und muss: Ein Wort, das uns erinnert und lehrt, unser persönliches wie unser gesellschaftliches Leben unter Gottes gnädiges und richtendes Wort zu stellen, damit wir als Kirche und damit die Gesellschaft in der wir Leben, Zukunft hat.

1947. Der Krieg ist gerade 2 Jahre vorbei. Die Alliierten streiten um die Zukunft Deutschlands und es wird immer deutlicher, dass die 4 Mächte zwar im Kampf gegen das Hitlerregime vereint waren, aber nun völlig unterschiedliche Ziele verfolgen. Die Ost-West-Teilung scheint unausweichlich.

Langsam werden in Deutschland die zerbrochenen Strukturen wieder aufgebaut. Kirche und Gesellschaft müssen sich wieder organisieren. Aber wie? Kann man mit denen, die von 1933-1945 Verantwortung trugen einfach neu anfangen? Soll man einfach so tun, als habe es diese 12 Jahre nicht gegeben. Neuanfang oder Restauration? Von Schuld will man nicht sprechen. Plötzlich ist bis auf ganz wenige öffentlich gebrantmarkte Personen niemand wirklich Nazi gewesen. Unermessliches Leiden ist über die Kontinente gegangen, aber keiner ist da, der dafür die Verantwortung übernimmt. Alle sind aus der eigenen Perspektive Opfer. „Es waren plötzlich keine Nazis mehr da“, sagt ein Zeitzeuge. Aber was ist mit der Schuld? Wer ist verantwortlich für die Millionen Toten, für die Vertreibungen, die KZs?

Martin Niemöller hat es in einem Vortrag so gesagt: „Diese Schuld liegt da mitten in unserem Volk und jeder guckt sie an und jeder sagt: ‚Das geht mich nichts an’. Und ich sehe dann ein Volk von 40 Millionen im Kreise stehen und in diesem Kreis wird ein Spiel gespielt. ‚Taler, Taler du musst wandern“. Aber kein blanker Silbertaler wandert da, sondern ein Paket – ein Paket – mit Rechnung. En Paket mit Rechnung über alles, was in der Zeit, da wir uns unserer Verantwortung begeben hatten, in unserem Volk und durch unser Volk geschehen ist. Wir haben nun heute keine Verantwortung mehr bewusst – wir werden heute verantwortlich gemacht und wollen doch nicht verantwortlich gemacht werden.“

Es waren einzelne in der Evangelische Kirche, die das Thema der Schuld nicht ruhen lassen wollten, nein, nicht ruhen lassen konnten, weil sie in ihrer Bibel lasen, dass Schuld und die Folgen von Schuld nicht einfach ignoriert werden können, wenn nach schlimmen Ereignissen neues Leben möglich sein soll.

Man schaute in die Bibel, in beide Testamente. Man hörte dort von der „Versöhnung der Welt mit Gott“. Man hörte offene, ehrliche und mutige Schuldbekenntnisse Israels. Und nun waren Männer wie Karl Barth, Martin Niemöller, Hans-Joachim Iwand um nur wenige zu nennen der festen Überzeugung, dass auch für die Kirche und das deutsche Volk nach 1945 genau hier neu anzusetzen sei, damit Zukunft möglich wird.

Sie waren der Überzeugung, dass die Kirche in der Welt beispielhaft sein müsse in dem Erkennen, Bekennen und Übernehmen von Schuld und ihren Folgen.

Ich lese den 1. Absatz des Darmstädter Wortes:

„Uns ist das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus gesagt. Dies Wort sollen wir hören, annehmen, tun und ausrichten. Dies Wort wird nicht gehört, nicht angenommen, nicht getan und nicht ausgerichtet, wenn wir uns nicht freisprechen lassen von unserer gesamten Schuld, von der Schuld der Väter wie von unserer eignen, und wenn wir uns nicht durch Jesus Christus, den guten Hirten, heimrufen lassen auch von allen falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind.“

Ihr Lieben, von der Versöhnung der Welt mit Gott kommen wir her. Dass ist gewissermaßen der Grund auf dem wir stehen: die Befreiungstat Gottes, von der wir herkommen. Und das Wort von der Versöhnung macht die Christinnen und Christen frei, die eigene Geschichte und die ihres Volkes und ihrer Kirche ehrlich zu lesen. Ehrlich heißt dann eben auch: Mit ihren Fehlern, mit begangener Schuld – sei es durch das eigene Tun oder durch Unterlassen und Zulassen.

Seht, Schuld zu erkennen, einzugestehen, zu bekennen und sich ihren Folgen zu stellen, Verantwortung zu übernehmen ist die freie Tat freier Menschen.

Diejenigen, die 1948 Schuld bekannten, hätten persönlich sehr wohl sagen können: „Wir waren doch im Vergleich noch immer recht ansehnliche Gestalten. Die anderen waren doch wirklich schlimm.“

So gehen wir oft mit Schuld um. Wie beginnen zu vergleichen. Und der Vergleich hat immer dasselbe Ziel – er soll uns ent-schulden – wenigstens ein Stück entlasten. Wir machen das im persönlichen Bereich ebenso wie im gesellschaftlichen: „Der hat aber doch auch und sogar zuerst....“. „ Ich entschuldige mich nur, wenn der andere es auch macht. Wieso sollte ich damit anfangen?“

Einige erinnern sich sicher noch an den so genannten „Historikerstreit“ Mitte der 80er Jahre, als der Versuch unternommen wurde, die Schuld der Deutschen aufzurechnen gegen die Schuld der Sowjetunion, die Vertreibungen der Deutschen aus Ostpreußen oder die Vertreibungen aus der Tschechoslowakei. „Was sollen wir uns ständig an Auschwitz erinnern, wenn von Gulags nicht geredet wird. Und war denn nicht alles, was da von 33-45 geschah historisch eher eine Re-Aktion, vielleicht gar Notwehr?“ Der Streit zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis Ende der 90er Jahre hatte ähnliche Grundlagen. Ist Schuld-Erinnern „moralische Keule“ oder ist es zutiefst die freie Tat des freien Menschen und Schuldbekenntnis und Schuldübernahme ein Zeichen von Humanität und Betätigung christlicher Freiheit?

Das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott – es ist ein Trostwort für jeden Einzelnen. „Gott nimmt dich an – aus Gnade. Er räumt aus dem Weg, was zwischen dir und ihm steht, er vergibt Schuld und übernimmt selber ihre Folgen, damit du daran nicht zugrunde gehst“. Von diesem Wort kommen wir her. Es ermöglicht uns im Kern das Leben, das zeitliche und das ewige!

Aber dann ist diese Wort eben der „Welt“ gesagt und hat dann zwangsläufig auch politische Konsequenzen, will nicht nur unser Verhältnis zu Gott, sondern auch das Zusammenleben der Menschen untereinander prägen und bestimmen.

Schuld verfliegt nicht einfach, sie bindet Täter und Opfer aneinander, kettet sie aneinander und nur, wenn Schuld bekannt, um Vergebung gebeten, Sühne akzeptiert wird, kann – so die Opfer wollen – von Schuld auch entbunden werden, damit ein neuer, ein gemeinsamer Weg in die Zukunft möglich ist.

Seht, so ist es doch unter uns auch. Wie können wir denn neu miteinander anfangen, wenn wir aneinander schuldig wurden? Doch nur so, dass wir uns die Schuld eingestehen, sie dem, an dem wir schuldig wurden bekennen, ihn um Vergebung bitten und wenn er es möglich macht, gemeinsam sagen: „Wir fangen neu an. Das Alte soll vergeben sein, uns nicht mehr trennen. Lass uns neue Wege suchen, lass uns umkehren“.

Als 1947 das Darmstädter Wort verabschiedet wurde, da schauten die Autoren zurück auf den Weg des deutschen Volkes und der deutschen Kirchen in den vergangenen Jahren. Nicht nur 15 Jahre zurück, sondern weiter, weil auch der Nationalsozialismus und die erschreckende Lähmung der Kirche ihm gegenüber nicht einfach vom Himmel fielen oder aus der Hölle hervor krochen, sondern Wurzeln in der Geschichte hatte.

„Wir sind in die Irre gegangen“. Unter ständiger Wiederholung von Jesaja 53,6 benennt der Bruderrat einige wenige markante Punkte, in denen er den Irrweg Deutschlands und mit ihm der Kirche sieht:

1.     Den Irrweg des Nationalismus

2.     Den Irrweg, die christliche Freiheit in der Umgestaltung des Lebens zu verraten, aber der Diktatur den Weg zu ebnen.

3.     Den Irrweg des Dualismus von „Gut“ und „Böse“

4.     Den Irrweg des Antikommunismus

Aus heutiger Sicht fehlt schmerzlich ein Wort zum Massenmord an Juden, zu den KZs und ihren Schrecken. Aber ich finde diese Sätze dennoch unglaublich aktuell und staune über die Weitsicht und den Mut, wie so etwas schon 1947 gesagt werden konnte und erschrecke vor der Ignoranz, mit der man diesen Worten in der Kirche und der Gesellschaft damals und zum Teil heute begegnet ist.

Möge Gott schenken, dass die deutsche Kirche nie mehr Sammelort der Nationalisten wird, sondern erkannt hat, dass sie als Kirche Jesu Christi nur ökumenische Kirche, weltumspannende Kirche sein kann.

Aber selbst heute sehen wir manche Kirchentümer in der Welt, die noch voller Nationalismen stecken. Weite Teile der ost- und südosteuropäischer Kirchen sind noch immer Ort nationalistischer Interessen. Es kann uns in der großen Familie der Kirche nicht gleich sein, was die anderen machen. Als Mitte der 80er Jahre in ref. Kirchen diskutiert wurde, ob die Abendmahlsgemeinschaft mit den Apartheidskirchen im südlichen Afrika auf Zeit aufzukündigen wäre, war das ein deutliches Signal. Kirche und Nationalismus, Kirche und Rassismus gehen nicht zusammen. Das Darmstädter Wort hat das, was uns vielleicht heute wie selbstverständlich erscheint 1947 klar ausgesprochen, als das noch Mut brauchte.

Aber sind die Irrwege, die damals benannt wurden wirklich verlassen?

Leben wir heute in der „christlichen Freiheit“, die uns in der Gestaltung unseres Lebens und unserer Gesellschaft nicht schlichtweg allein der Erhaltung des Alten dienen lässt, sondern Wege wagen, die das Zusammenleben der Menschen heute verbessert?

Wie steht es, wenn es für uns ans „Eingemachte“ geht? Erinnert euch an die Debatten vor gut 10 Jahren um die Frage nach Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Da regte sich lautester Protest von evangelikaler Seite und von den so genannten Konservativen. Die Ehe ist eine göttliche „Schöpfungsordnung“ hörte man da wieder. Und wenn das gesagt wird, sollte man immer zusammenzucken, weil damit gesagt wird: „Wenn du dagegen noch was sagst, dann bist du gegen Gott!“ Es ging gar nicht mehr um die Frage, wie Menschen, die andere Lebensformen wählen, mit Gottes Wort erreicht werden, wie man auch ihnen Orientierung geben kann, sondern es ging um das Festhalten an einer bestimmten Lebensform, die Ergebnis von 150 Jahren deutscher Kulturgeschichte ist. Von christlicher Freiheit war da wenig zu spüren.

Als es nach dem Mauerfall darum ging, ob dies eine Chance für Deutschland sei, nach der langen Teilung in Folge des Krieges neu zu überlegen, welche Verfassung man sich gibt, welche Lehren man aus der Geschichte zieht, wie man gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch in die Zukunft gehen will, da wurde die Debatte ehe sie recht begann, schon für beendet erklärt. Die DDR schließt sich an. Die Bundesrepublik wird einfach größer. Der Westen übernimmt das Ruder – inklusive seiner Wirtschafts- und Werteordnung und allen seligen dun unseligen Verbindungen in denen er steckt.

„Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten eine Front der guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis ... bilden zu müssen.“

Hatte die Kirche Hitler nicht auch darum willfährig zur Seite gestanden, weil sie mit ihm einen gemeinsamen Feind hatte – den gottlosen Kommunismus? Hat sich der Antikommunismus nicht ungebrochen herübergerettet in die Bundesrepublik – bis tief in die 80er Jahre hinein? Und nun, wo dieser „Feind“ vermeintlich darniederliegt, macht man andere „Böse“ aus. Die Guten bleiben, die Bösen sind austauschbar. Aber man braucht sie doch so dringend, denn wie wäre man selber „gut“, wenn man den Bösen nicht hätte? Ist uns dieser Irrweg fremd? Oder ist er nicht wie ein Kommentar zur Zeitgeschichte?

Dass allen Gottes Gnade gilt, dass das Wort von der Versöhnung die ganze Welt erreichen soll – wie können wir daran glauben, wenn dieser Dualismus unser Denken noch bestimmt?

Wohin sollte der Weg des deutschen Volkes 1947 gehen? „Nicht Christentum und abendländische Kultur“ sagten die Verfasser damals, in einer Zeit, in der das der vorrangige Ruf war und wir hören es wieder in einer Zeit, in der nicht wenige das wiederholen. „Sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten ... ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem den Christen selbst nottut“.

„Europa muss christlich bleiben“ – hört man immer wieder. Aber wenn man etwas tiefer fragt, was soll das denn sein, das „Christliche“ in oder an Europa, dann wird man schnell gewahr, dass es dabei nicht um eine Hinwendung zum Gott der Bibel geht, nicht um Nachfolge Jesu Christi. Selbst die, die mit dem christlichen Glauben reichlich wenig verbinden, möchten in einem „christlichen Europa“ leben, weil damit eben eine bestimmte Lebensform umschrieben ist.

Es stimmt, das Christentum hat Europa geprägt – auch im Guten. Viele Errungenschaften sind dem christlichen Geist entsprungen. Aber sie haben den Weg in die Verfassungen, in die Rechtssprechung doch deshalb geschafft, weil sie das Zusammenleben der Menschen förderten – aller Menschen, auch derer, die selber keine Christen sind.

Die Zukunft der Kirche legen wir nicht in die Hand eines christlichen Europas, in der Hoffnung, staatliche Strukturen könnten das Leben der Kirche erhalten – sondern Umkehr zu Gott heißt das Gebot. Und Hinkehr zum Nächsten – denn gerade dann wird sich die Botschaft des Evangeliums auch als Segen für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen erweisen.

Hinwendung zu Gott und Hinkehr zum Nächsten, das wäre doch heute wie zu allen Zeiten zuerst ein Hören auf Gottes Wort, das uns, gerade weil es von der Versöhnung spricht, frei macht zum Bekennen von Schuld und zur Übernahme von Verantwortung auch wenn man nicht persönlich haftbar gemacht werden kann. Hinkehr zu Gott hieße doch, sich von ihm frei machen zu lassen, Schuld zu heben und zu tragen, damit sie das Leben der Menschen nicht mehr zerfrisst.

Und wer will mit gutem Gewissen sagen, in den letzten 50 Jahren wäre keine Schuld zu finden? Wo man Menschen unter die Räder kommen sieht, da ist das nicht Schicksal allein oder eigene Schuld, sondern Folge von Unrecht und Ungerechtigkeit von denen andere mehr als gut leben. Diese Folgen mit zu tragen, Verantwortung zu übernehmen, hieße Hinkehr zum Nächsten, „die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen“, wie es das Darmstädter Wort sagt.

Da ist eine Menge zu tun (auch hier in Wuppertal!) – auf dem Hintergrund des befreienden Wortes von der Versöhnung Gottes für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit unter den Menschen zu arbeiten.

An dieser Arbeit soll Gott uns sehen, denn sie entspringt unserer Umkehr zu ihm und wäre ein Zeugnis der Kirchen und Gemeinden, das nicht überhört wird.

Amen.

(Gottesdienst in Ronsdorf am 12.08.2007)