Welche Wahrheit?

Gastkolumne von Gudrun Kuhn

© Pixabay

Wir können nicht über wissenschaftliche Wahrheit streiten. Wir müssen uns Forscherinnen und Forschern anschließen, denen wir vertrauen.

Von Nietzsche habe ich gelernt, dass Wahrheit „ein bewegliches Heer von Metaphern“1 sei. Für die Kulturwissenschaften gilt das inzwischen als selbstverständlich. Doch wie ist es mit den Naturwissenschaften?  Fast alle Laien vertrauen darauf, dass die uns empirisch nach­weis­bare harte Fakten liefern. Umso verstörender wirkt in Coronazeiten der Streit um die „Wahr­heit“ über das Virus. Es scheint keine Verständigung möglich zwischen den Lagern der Mehr­heits- und Minderheitsmeinungen.

Ein Freund – als geimpfter Mathematiker und Philosoph unverdächtig – hat mir dazu einen Text übermittelt, dessen Schlussfolgerungen (Ablehnung von Maskenpflicht, Lockdowns und Impfung) er zwar nicht teile, dessen wissenschaftliche Thesen man jedoch durchaus zur Kenntnis nehmen könne. Man dürfe schließlich nicht alle, die da ‚spazieren‘ gehen für dumm oder böswillig halten. Man müsse zum Dialog bereit sein. Recht hat er, dachte ich. Und begann zu lesen. Über das Virom. Und dass das „Feindbild vom bösen Virus“ falsch sei, weil sich systembiologisch das Zusammenwirken von Viren im Körper weitaus komplizierter darstelle. Von Viren verstehe ich nichts. Ich bin schon froh, wenn ich den Darstellungen annähernd folgen kann. Der Artikel erfüllt wissenschaftliche Anforderungen: Statistiken, Quellenangaben, Zitate. Die Wahrheitsfrage kann ich nicht stellen.

Warum überkommt mich Unbehagen beim Lesen? Zwischen den sachlichen Dar­stellungen stö­ren mich immer wieder sehr emotionale blumige Wendungen, die ich irgendwoher zu ken­nen glaube. Also – den Autor im Internet suchen. Und siehe da, es handelt sich um einen der Chefideologen anthroposophischer Medizin (Thomas Hardtmuth)2. Und schon kann ich nicht mehr unbefangen weiterlesen. Da entdecke ich doch prompt noch in den Fußnoten Wolfgang Wor­dag3, einen Hauptvertreter der Querdenker-Bewegung und Mitglied der ‚basis­demo­kra­ti­schen Par­tei‘.

Ja und – könnte man einwenden. Was hat das mit dem Virom zu tun? Die me­di­zin­wis­sen­schaftlichen Thesen stimmen doch vielleicht. Da muss ich es halt hinnehmen, wenn der Ver­fas­ser daraus folgert, dass die Einführung einer Impfpflicht eine „strafrechtlich re­levante“ Maß­nahme sei. Ich bin unsicher. Hat das eine – die Theorie – denn wirklich nichts zu tun mit den da­raus abge­lei­te­ten po­li­ti­schen Hal­tungen?

Da fällt mir (endlich) ein, was ich von Habermas gelernt habe. Es gibt keine Erkenntnis, die nicht „interessegeleitet“4 ist. Das gilt für jede Wissenschaft. Und das gilt auch für unsere daraus abgeleiteten Haltungen als Laien. Wir können nicht über wissenschaftliche Wahrheit streiten. Wir müssen uns Forscherinnen und Forschern anschließen, denen wir vertrauen: ihren von der internationalen Wissenschaftscommunity über­prüf­ba­ren Me­tho­den und ihrem ‚Erkennt­nis­in­teresse‘.

Ob es für Kinder psychisch be­las­ten­der ist, wenn der Opa stirbt oder wenn sie Masken tragen müssen, ob die Gefahr von Long Covid schwerwiegender ist als die Gefahr von Schädigungen des Immunsystems durch eine Impfung, lässt sich nicht wis­sen­schaft­lich klären. Wir müssen hier (noch) Unentscheidbares politisch abwägen. Nicht nach Wahrheit entscheiden wir, sondern nach Wahrscheinlichkeit. Und nach dem Bemühen um einen gesellschaftlichen Konsens auf der Basis unserer parlamentarischen Demokratie.

---

1 Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873

2 Thomas Hardtmut: Mikrobiom und Mensch. Die Bedeutung der Mikroorganismen in Medizin, Evolution und Ökologie. Wege zu einer systemischen Perspektive. Salumed-Verlag 2021
Thomas Hardtmuth und andere: Corona und das Rätsel der Immunität. Ermutigende Gedanken, wissenschaftliche Einsichten und soziale Ideen zur Überwindung der Corona-Krise. Akanthos Akademie Edition Zeitfragen 4

3 Vgl. www.wordag.com

4 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1968


Gudrun Kuhn