Passionsgottesdienst mit J.S. Bachs Matthäuspassion: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen

von Gudrun Kuhn, Nürnberg

Bach: Matthäus-Passion © Wikicommons

Liturgie mit Predigt eines Gottesdienstes in der Passionszeit, gestaltet mit Bachs Matthäuspassion und Gedichten.

 

Unser Anfang und unsere Hilfe stehen im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat, der Bund und Treue hält ewiglich und nicht preisgibt ein Werk seiner Hände. AMEN

[…]

Jesus wer soll das sein?
Ein Galiläer
Ein armer Mann
Aufsässig
Eine Großmacht
Und eine Ohnmacht
Immer
Heute noch.

Marie Luise Kaschnitz

aus Bachs Matthäuspassion: Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen

Philipperhymnus
Jesus Christus
Welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, nahm er’s nicht als einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters.

aus Bachs Matthäuspassion: Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen

an dieser Stelle:
Teil 4 des Zyklus „Als er kam“. Aus: Dorothee Sölle, Meditationen & Gebrauchstexte. Gedichte. © Wolfgang Fietkau Verlag, Kleinmachnow

aus Bachs Matthäuspassion: Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen

GEBET

Du
unbegreiflicher ferner Gott
ohne die Tradition könnten wir nichts von dir wissen
sie legt Zeugnis ab von deinem Geisteswirken
wir sind dankbar für die Worte der Schrift
wir sind dankbar für die Gedanken der Theologen
wir sind dankbar für die Musik von Johann Sebastian Bach
wir sind dankbar für die Menschen, mit denen wir zusammen hören, singen und beten können

Du
unbegreiflicher naher Gott
die Tradition macht uns oft skeptisch, verschlossen und zornig
sie lässt deine Lebendigkeit erstarren
wir sind dankbar, dass du uns zu freien Kindern und Erben berufen hast
wir sind dankbar, dass dein Wort Dialog und nicht Gesetz ist
wir sind dankbar, dass wir vor dir auch mit unseren Zweifeln recht sind
Wir glauben, lieber Herr, hilf unserem Unglauben.
AMEN

aus Bachs Matthäuspassion: Mir hat die Welt trüglich gericht‘t

LESUNG

Unsere judenchristlichen Zeugen aus der Frühzeit haben die rätselhafte Prophezeiung vom leidenden Gottesknecht aus dem Jesajabuch auf Jesu Tod bezogen. Ich stelle mich in diese Tradition und lese Jesaja 52,13 – 53,3

13Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.
5214 Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder,
15 so wird er viele Heiden in Staunen setzen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.
53 1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart?
2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.

aus Bachs Matthäuspassion: Wer hat dich so geschlagen

PREDIGT

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. AMEN

Heute will ich mich unter die Kanzel stellen, von der herab gesungen wird. Heute will ich meinem 5. Evangelisten zuhören. Über die Jahrhunderte hinweg. Darum habe ich einen Predigttext gewählt, der ganz woanders herkommt. Bei dem ich nicht einmal weiß, ob ich überhaupt das Recht habe, ihn aufzugreifen. Nicht ohne Grund klagen uns Jüdinnen und Juden an, wir hätten ihnen ihr Eigentum geraubt. Ihre Psalmen. Ihre prophetischen Verheißungen. Ihre Messias-Idee. Die eben verlesenen Verse aus Jesaja zum Beispiel. Nach Auschwitz müssen wir vor der Frage verstummen, ob wir diese Vision des leidenden Gottesknechts, die das Volk Israel auf sich bezieht, immer noch beanspruchen dürfen.
In dem Text, den ich mit Ihnen bedenken will, wird ein neues Gottesknechtlied gesungen und es kommt aus den Tiefen einer Erfahrung nach Auschwitz. Es wird gesungen von einem Juden, der kein gläubiger Jude ist, der durch alle Schulen der Säkularisation und des Atheismus gegangen ist. Und der eine Sprache sucht, die wie mit blutenden Händen aus den Ruinen zerschlagener jüdischer und christlicher Hoffnungen herausgegraben werden muss. Ich rede von Paul Celan.

Einmal,
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.

Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.

Licht war. Rettung.
Paul Celan

„Einmal“ – es war einmal – es war: „wirklich“. Aber was da war, lässt sich nur als Präteritum beschwören: abgeschlossen, zuende, vorbei. „Einmal – wirklich.“ Gehört  diese Vergangenheit auch zum Leben und Erleben des Ich? Einmal, / da hörte ich ihn, […] ungesehn
Ein Beziehungsraum wird hier eröffnet zwischen dem Ich und einem ER, das man mit Großbuchstaben zu schreiben geneigt ist. Einer, den man hören, aber nicht sehen kann, nicht sehen darf. Er. Der Eine. Der Einzige. Der Ferne. Der Wirkliche? Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Was ist wirklich?
„da wusch er die Welt“    Wirklich?      „wirklich.“ 
„da hörte ich ihn […]      wirklich.“        Wirklich?

Hier scheint die Fragilität eines jeden Glaubensaktes angedeutet: Wirklichkeit als bewegliche Grenzlinie, die vom Diesseits ins Jenseits weist und umgekehrt. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner [und von Gottes] Welt.“ (Ludwig Wittgenstein)

Einmal,
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.

„nachtlang“  Eine Nacht lang? Nächte lang?
Gibt es nur diese eine Nacht des Hörens – „einmal“. Ein-für-allemal? Einmal und seither nie wieder?
Oder sind die Zeiten vorüber, da er die Welt wusch? Einmal und seither nie wieder? Ein-für-allemal?

Einmal,
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich

nachtlang, nicht taglang. Ist es die Nacht von Gethsemane? Sind es die Nächte des Grauens in den Lagern? nachtlang – In allen Nächten?
In der Finsternis der Nacht. Aber in einer Finsternis, die nicht blieb, denn „Licht war. Rettung.“ Wie eine barocke Sentenz mutet diese Engführung in der letzten Strophe an. Eine Wendung ins Dur, wie wir sie bei Bach so oft hören können.

„Licht war. Rettung.“

Auch hier jedoch ist wieder dieses Präteritum: Licht war – abgeschlossen, zuende, vorbei. Eine tiefe Resignation scheint in diese Vergangenheitsformen eingezeichnet. Dagegen möchte ich so gerne aufbegehren: Der Ungesehne muss doch sichtbar gewesen sein in diesem Licht, geradezu traditionell mit Namen versehen: Der Retter ist da. Nein: War da. Einmal…

Je öfter ich dieses einmal wiederhole, das so uneinholbar in der Schwebe gehalten bleibt, je öfter ich dieses einmal wiederhole, desto mehr klingt mir auch ein anderes ‚einmal‘ im Ohr, aus dem 1. Petrusbrief (1.Petr 3,18):

Denn auch Christus hat einmal für die Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er euch zu Gott führte, und ist getötet nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist.

Einmal
[…]
da wusch er die Welt

Ich beteure nochmals: Ich will mich keiner leichtfertigen christlichen Vereinnahmung Paul Celans schuldig machen. Es geht mir nicht um Interpretation. Ich versuche nur zu sagen, was ich in seinen Zeilen höre.

Eins und Unendlich,
vernichtet,
[…].

Diese mittlere Strophe hebt an mit einem großen philosophischen Urbekenntnis: Eins und Unendlich – hen kai pan. So als ob noch einmal – einmal! – unsere ganze Weisheitsgeschichte seit den Zeiten der Griechen beschworen würde.
Dann aber  wieder die Vergangenheit: vernichtet. Zuende das Wissen. Zuende das Hören. Zuende die Wirklichkeit. Aus. Nichts.

Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.

Wie tröstlich – so empfinde ich es – ist nun aber dieser Umschlag: die Negation der Negation. Jenseits der Grenzen der Sprache wagt sich Celan vor in eine unsagbare Gegenwart: anwesend – wirklich. Ichten – ein Kunstwort, in dem man Ich und dichten und Licht hört und das dem Nichts seine Realpräsenz entgegenwirft. Ist dieses Wortspiel, nein dieser Worternst, nicht die Summe all der paradoxen Wendungen, die uns Bach und sein Textdichter zumuten.

Zum Beispiel in der Tenor-Arie mit Chor der Gethsemane-Szene:

Sein Trauern machet mich voll Freuden
Drum muss uns sein verdienstlich Leiden
Recht bitter und doch süße sein.

vernichtet - ichten

getötet nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist.

Einmal,
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.

Angesichts dieses ichten werden alle Fragen nach dem einmal hinfällig. ichten steht in der Grundform, im Infinitiv. Eine Tätigkeit als Möglichkeit im Vorraum der Zeit. Zukünftig, keimend, im Kommen – Gewesen, vollendet, vollbracht. Und in diesem Amplitudenschlag immer da – in-finitiv: un-endlich

Zugegeben: Darauf kann man keinen Katechismus gründen, den Firmlinge und Konfirmanden auswendig lernen könnten. Aber sollen wir das wollen? Ich jedenfalls möchte beides ernst nehmen. Den Gipfel an Gewissheit, mit der Bach und Henrici von Sünde und Erlösung sprechen, und den Abgrund an Zweifel, an den uns Autoren wie Paul Celan führen. Ich will weder das eine noch das andere in eine Alles-wird-gut-Vertröstung überführen.

Und bei allem Bemühen um Verstehen und Erklären gilt: Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichen Seufzern. (Röm. 8,26)
AMEN

aus Bachs Matthäuspassion:  Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe oder Ich will bei meinem Jesu wachen

GEBET

Gott
Unser Licht und unsre Rettung
Vor dich bringen wir, was der Rettung bedarf
die vielen, die den Luxus, über Gott und die Welt nachzudenken, gar nicht kennen, weil ihnen ein menschenwürdiges Leben fehlt
die vielen, die deine Liebe nicht erfahren können, weil sie in ihrer Religion nur Ängstigung und Demütigungen erleben
die vielen, die einen ihnen lieben Menschen verloren haben
die vielen, die in psychischer Not nicht aus noch ein wissen

Gott
Unser Licht und unsre Rettung
Vor dich bringen wir, was rettungslos verloren scheint
die Flüchtlinge und Verhungernden
die Gefolterten und Eingekerkerten
die Verzweifelnden und Suizidwilligen
das Schicksal so vieler Kinder ohne Aussicht zu überleben
unsere gefährdete Erde

Gott
Unser Licht und unsre Rettung
Vor dich bringen wir unser eigenes Leben
Lass uns auf Jesus sehen
lass uns seine ausgestreckte Hand ergreifen
lass uns bleiben in seiner Liebe und endlich einmal in seinen Armen sterben.
AMEN

aus Bachs Matthäuspassion: Wann ich einmal soll scheiden

SEGEN


Dr. Gudrun Kuhn, Ältestenpredigerin in Nürnberg