Den Himmel offen sehen - Johannes 1,43-51

Eine Predigtmeditation zum 2. Sonntag nach dem Christfest am 9. Januar 2011. Von Barbara Schenck

„Ihr werdet den Himmel offen sehen!“ – Was für eine Verheißung in einer Welt unter dem Titel „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ (Schlingensief) ...

Predigtmeditation, entnommen aus dem Band Predigtmeditationen im chrostlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe III. Plus: Psalmen predigen, Studium in Israel 2010. Weitere Infos, Bestellung >>>

Johannes 1, 43-51
43 Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa gehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! 44 Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und Petrus. 45 Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. 46 Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es!
47 Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. 48 Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. 49 Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! 50 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres als das sehen. 51 Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

2. Sonntag nach dem Christfest: Joh 1,43-51

Den Himmel offen sehen

a) „Ihr werdet den Himmel offen sehen!“ – Was für eine Verheißung in einer Welt unter dem Titel „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ (Schlingensief), einer Moderne, in der eine Liebeserklärung allenfalls dem Himmel auf Erden gilt, in der ein israelischer Autor eine Intensivstation im Himmel phantasiert. Yoram Kaniuk schreibt am Ende seiner autobiographischen Erzählung einer Reise in den Tod: „Meine Asche wird Fleisch ansetzen und mit eurem Messias in den Himmel zurückkehren, und ich werde einen Stein auf Gott werfen, egal, ob Gott nun existiert oder eine Schwarze ist oder nicht. Ich werde im Himmel auf die Intensivstation kommen und wieder meine Phantasien aufnehmen, die mir während meiner Krankheit beschieden waren. Denn dort hatte ich ein vielfältigeres Leben, als ich es hier und heute habe.“ (Kaniuk, 221)

Der Himmel als Ort und Reich Gottes scheint „im Grunde eine heruntergewirtschaftete Idee zu sein.“ (Hinkelammert, 26), ein „obdachloser Begriff, ein Wortvagabund“ (Bohle, 20). Den Himmel überlassen wir den „Spatzen, Kunsthallen und Installationskünstlern“, während „der vom Himmel auf die Erde gefallene, zersprungene Gott (…) in tausendfacher Stückelung als Zutat eingesetzt (wird) – nicht zuletzt in den Angeboten des Konsums“ (Gross, 1.7f.). Zynisch betrachtet scheint gar die Sehnsucht der Armen schöner als Gottes Himmel – so wie Brecht in seiner „Hymne an Gott“ ruft: „Ließest die Armen arm sein manches Jahr / Weil ihre Sehnsucht schöner als dein Himmel war“.

So weit eine Bestandsaufnahme aktueller Befindlichkeiten als Hinwendung zum – und damit wohl Entfernung vom – Predigttext für diejenigen – auch in der Kirche! –, denen „ein tragfähiges Verständnis“ von der Bedeutung des Himmels fehlt und die sich lieber „irdischen Kumpanen“ zuwenden: „Glück, Erleuchtung, Erkenntnis, Befreiung“ (Bohle, 20).

b) Die Hörenden, die in den Schriften wurzeln, sehen in den Worten der Perikope auch „das erste Traumbild in der Genesis“ (Jacob, 579): Jakobs Himmelsleiter unter Gottes Verheißung: „… ich bin mit dir und will dich behüten …“ (Gen 28,15).

Als Jakob vom Traum erwacht, erkennt er, dass „hier“, an der Stelle, an der er sich niedergelassen hat, der Verkehr zwischen Himmel und Erde stattfindet. Nicht dass es sie überhaupt gibt, diese Verbindung zwischen Gott und Mensch, sondern dass sie „hier“ zu sehen ist, betont auch Joh 1,51. Im Messias, in Jesus Christus, im Menschensohn ist „die Pforte des Himmels nun offen zu sehen“ (Barth, 188).

Jesus zeigt sich als die Tür zu seines Vaters Haus, in dem viele Wohnungen sind. Die Himmelspforte offen zu sehen, heißt für die Jüngerinnen und Jünger nicht, nun alle Geheimnisse der himmlischen Gemächer zu schauen, sondern vielmehr zu erkennen: Der Himmel neigt sich seinerseits zur Erde herab. In Jesus Christus sehen wir die Herrlichkeit Gottes.

Bleibt die Frage offen, ob auch die Jüngerinnen und Jünger Jesu wie Jakob eine Antwort finden auf das, was sie sehen. Jakob ließ „den Herrn“ (JHWH) seinen Gott sein – unter der Bedingung: „Wird Gott mit mir sein und mich behüten …“ (Gen 28,20f.).

2. Kontexte

a) Die Himmelsleiter

Eine Leiter wie der Berg Sinai

Eine Parallele zwischen der Leiter bzw. „Stiege“ in Jakobs Traum und dem Sinai zieht Bar Qappara im Midrasch Genesis Rabba:
„Bei der Stiege heißt es ‚auf die Erde hingestellt‘ (V 12), beim Sinai ‚und sie (die Israeliten) standen am Fuß des Berges‘ (Ex 19,17). Bei der Stiege: ‚und ihre Spitze reicht zum Himmel‘, beim Sinai (Dtn 4,11): ‚und der Berg brennt im Feuer bis zum Herzen des Himmels‘. Bei der Stiege: und die Boten Gottes steigen auf ihr hinauf und hinab‘, beim Sinai steigen Mose und Aaron hinauf (Ex 19,24). Gott wiederum ‚steigt auf den Sinai nieder‘ (ob. V 20).“
Midrasch Genesis Rabba 68,12, zit. nach Gradwohl, 48

Ein Bild für den Verkehr zwischen Himmel und Erde?

„Im Grunde wirkt das Bild von einer Luftbrücke zwischen drunten und droben eher komisch als kosmisch.“
Radday, 16

„… Jaakóv [sieht] im Traum eine Leiter von oben erdwärts herabschießen. Mysteriös scheint sie sich unten in Nichts aufzulösen. Könnte es sein, dass es vielleicht gar keine Kommunikation zwischen Himmel und Erde gibt? Denn sie reicht gar nicht nach oben und verflüchtigt sich auch dort in Nichts. Nein, es gibt eine Kommunikation, doch die ist noch schrecklicher: Auf der Leiter herrscht ein ständiges und gruseliges Kommen und Gehen. Gehen und Kommen – wohlbemerkt: die Verba stehen im Partizip! –, das können nur bestandene und bevorstehende Unbilden des Lebens sein! Doch endlich, endlich steht ein Beschützer nebenan.
Man darf vielleicht den Traum weiter deuten: Nur der Mensch verbindet ‚oben‘ und ‚unten‘, er selbst ist die und der Leiter, und gerade dieser Mensch, von nirgendher kommend und nirgendwohin gehend, hängt ja selbst wie die Leiter ‚in der Luft‘.“
Radday, 16f.

b) Die hinauf- und herabsteigenden Engel

Die Engel, die Jakob auf der Leiter sah (Gen 28,12), deuten die Pirqe de Rabbi Eliezer als Engelfürsten von Königreichen:
„Und der Heilige, gepriesen sei er, ließ ihn die vier Königreiche sehen, die herrschen und untergehen werden.
Er ließ ihn den [Engel]Fürsten des Königreiches von Babylonien sehen, der 70 Sprossen hinaufstieg und hinabstieg.
Er ließ ihn den [Engel]Fürsten des Königreiches von Medien [und Persien] sehen, der 52 Sprossen hinaufstieg und hinabstieg.
Er ließ ihn den [Engel]Fürsten des Königreiches von Griechenland sehen, der 180 Sprossen hinaufstieg und hinabstieg.
Er ließ ihn den [Engel]Fürsten des Königreiches von Edom sehen, der hinaufstieg und nicht hinabstieg und der sagte:
Ich will hinaufsteigen zu den Wolkenhöhen, mich gleichstellen dem Höchsten. (Jes 14,14)
Jakob sagte zu ihm:
Jedoch zur Scheol wirst du hinabgestoßen, in die tiefste Gruft. (Jes 14,15)
Der Heilige, gepriesen sei er, sagte:
Ob du hochsteigst wie ein Adler […, von da stürze ich dich herab]. (Ob 1,4)“
Pirqe de Rabbi Eliezer, Kap. 35

Nechama Leibowitz bezieht sich in ihren Studien zu den wöchentlichen Tora-Lesungen auf die Pirqe de-Rabbi Elieser und erläutert, der „Erklärer des Midrasch“ habe den Niedergang Roms (Edom) noch nicht erlebt, und fährt in ihrer eigenen Auslegung fort:
„die Herrschaft Roms setzt sich als Herrschaft des Christentums (das in der ganzen rabbinischen Literatur bis ins Mittelalter als Edom umschrieben wird) weiter durch alle Generationen fort. Den Niedergang auch dieser Macht sagt der Midrasch unter Zitierung des Verses aus Obadja voraus. Wie jede Leiter, so hat auch diese, welche hier als Symbol der Zeit gedeutet wird, ihr Ende, und an diesem Ende steht Gott, und er garantiert als Herr der Geschichte, dass eines Tages alle Grossen fallen werden. Das Ende der Zeit wird keine solche Leiter mehr kennen, sondern die in Liebe vereinten Völker, die zu Gottes Berg strömen. (Jes. 2).“
Leibowitz, 61

„Gott zeigte Jaakow die Toragabe und sagt: ‚Wenn deine Nachkommen die Tora beachten, werden sie wie diese Engel hinaufsteigen. Wenn sie die Tora nicht beachten, werden sie wie diese Engel hinabsteigen.“
Midrasch Genesis Rabba 68,12; Midrasch Levitikus Rabba 29,2, zit. nach Plaut, 269

„Die auf ihr [der Leiter] auf- und niedersteigenden Gottesengel sollen nämlich nicht den allgemeinen Gedanken, dass zwischen Himmel und Erde eine beständige Verbindung bestehe, ausdrücken, denn dies ist für die Religion selbstverständlich, sie steigen also nicht beständig auf und nieder, sondern haben es nur mit Jakob zu tun. Er ist im Begriff die Heimat mit der Fremde zu vertauschen. So soll ihm gesagt werden, dass Gott ihn dort wie hier beschützen und die Engel ihn begleiten werden. Die aufsteigenden Engel sind die Engel der Heimat, die niedersteigenden die der Fremde. An der Grenze werden sie sich ablösen, denn jedes Land mit anderen Lebensbedingungen und Gefahren braucht andere Engel.“
Jacob, 579f.

c) Der Himmel offen … wozu?

„Wie furchteinflößend ist dieser Ort“, erkennt Jakob beim Erwachen (Genesis 28,17). Die Pirqe de Rabbi Eliezer vergleichen das Gebet an diesem „Ort“ mit dem „vor dem Thron der Glorie“. Der Himmel ist geöffnet, „um ein Gebet zu hören“:
„Von hier [Gen 28,17] lernst du, dass jeder, der an diesem Ort in Jerusalem betet, wie jemand [zu betrachten ist,] der vor dem Thron der Glorie betet. Denn dort ist die Pforte zum Himmel. Und eine Tür ist geöffnet, um ein Gebet zu hören, denn es heißt:
Und dies ist die Pforte des Himmels. (Gen 28,17)“
Pirqe de Rabbi Eliezer, Kap. 35

„Und dies ist das Tor des Himmels, der Ort des Gebets, an dem die Gebete zum Himmel emporsteigen; der Midrasch (Ber. Rab.) sagt, das Heiligtum auf Erden befindet sich gegenüber dem Heiligtum im Himmel.“
Raschi zu Genesis 28,17

3. Beobachtungen am Text

In einer „zweiteiligen Ouvertüre“ fängt Johannes sein Evangelium an. Dem Prolog vom „Wort“ (1,1–14) folgt der zweite Teil vom „Namen“ (1,15–51) mit Zeugnis und Ruf des Johannes (1,29–37), der Berufung und dem Zeugnis der ersten Jünger (1,38–51) (nach Marquardt, Johannes, 6). Der „Anfang der Zeichen“ (2,11) beginnt erst mit der Hochzeit von Kana.
Johannes und die „auf Jesus aufmerksam gemachte Kette von Jüngern kreisen um das Geheimnis des Namens Jesu“ (ebd., 13): Lamm Gottes, Messias (Gesalbter), Rabbi (Meister), Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth, Gottes Sohn, König von Israel.
Am Ende der Ouvertüre redet Jesus von sich selbst als dem „Sohn des Menschen“. Dieser Name erscheint „geradezu als die Übersetzung oder Umsetzung der hymnischen Prologaussage“ („und das Wort ward Fleisch“) in das „narrative Genus des Evangeliums“ (Thyen, 148)

V 45: Der Name Nathanael kommt im NT nur an dieser Stelle und in 21,2 vor. Des Jüngers Herkunft aus „Kana“ verknüpft seine Berufung mit den folgenden Kana-Zeichen (2,1–11; 4,46–54). Der theophore Name „Gott hat gegeben“ erscheint „nahezu als Inkarnation der Worte Jesu“: „Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir“ (6,37; vgl. Thyen, 140).
V 47: Der „wahre Israelit, an dem kein Trug ist“ erinnert an den heiligen Rest Israels in Zeph 3,13. Nathanael antwortet entsprechend mit dem Bekenntnis zum „König Israels“. Dieser Titel benennt im Alten Testament nur an zwei Stellen Gott, in Zeph 3,15 und Jes 44,6. „Es ist, als werde die alte Prophetenrede hier mit verteilten Rollen neu aufgeführt“ (Thyen, 142).
Nathanael „steht im JohEv als Mahnmal für uns Christen und will uns dessen eingedenk werden lassen, dass das endzeitliche Handeln Gottes doch erst dann zur Erfüllung gekommen sein kann, wenn die Rettung Israels in die Rettung ganz Israels nach Zeph 3,20 gemündet sein wird“ (A. Steiger nach Thyen, 143).
VV 47.48: Nathanaels Sitzen „unter dem Feigenbaum“ ist keine bloß geografische Ortsangabe, vielmehr galt der Baum Rabbinen als Ort des Studiums und der Lehre und ist – neben dem Sitzen unter dem Weinstock – eine Metapher eschatologischen Friedens (vgl. Mi 4,3f.; Sach 3,10).
V 49: Mit dem „schönen Bekenntnis“ zum „Sohn Gottes“ und „König Israels“ könnte die Szene „eindrucksvoll beendet sein“, doch Jesus kündet Größeres an, so Wengst, 94. Zum Verständnis, worin dieses liegen könnte, verweist Wengst auf eine Parallele in 16,29–32. Nach dem Glaubensbekenntnis der Schüler fragt Jesus zurück: „Jetzt schon glaubt ihr?“, denn der Glaube hat angesichts des Kreuzes seine Bewährung noch vor sich.
V 50: Bereits Bultmann hat erkannt, dass Jesu fragendes „Du glaubst …“ keine „tadelnde Frage“ ist. Sie könnte auch eine Feststellung ohne Fragezeichen sein. Einerlei ob mit oder ohne Fragezeichen formuliert ist Nathanaels Bekenntnis „keinesfalls der Ausdruck irgendeines defektiven Wunderglaubens, sondern es offenbart vielmehr einen Glauben, der die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, die verheißenen größeren (…) Dinge überhaupt wahrnehmen zu können“ (Thyen, 144).
V 51: Amen, amen – das doppelte Amen ist ein besonderes Stilmerkmal des Johannes, er verwendet es insgesamt 25mal, in Joh 1,51 zum ersten Mal. Theologisch deuten lässt es sich als doppelte Bekräftigung: als Amen zu dem Wort Gottes vom Anfang, zu Gesetz und Propheten und als Amen, das bekräftigt, was Jesus über den Menschensohn sagt und die Jünger sehen (werden). Dabei bestätigt das zweite Amen auch das erste. Das Amen zum Menschensohn Jesus Christus ist ein Amen zu Gottes Wort vom Sinai. Eine Deutung des doppelten Amen als Schwur über die Zeitengrenzen hinweg findet sich bei den Rabbinen in der Auslegung zu Num 5,22: „Rabbi Me’ir sagt: Amen, dass ich mich nicht verunreinigt habe. Amen, dass ich mich nicht verunreinigen werde.“ (Mischna Traktat Sota, II5, zit. nach Correns, 392)

Im Evangelium nach Johannes ist die Offenbarung des Menschensohns analog zu Jakobs Traum von der Himmelsleiter (Gen 28,12) beschrieben. Während im hebräischen Genesis-Text – und entsprechend auch in der folgenden rabbinischen Auslegung –, die Engel sowohl auf der Leiter als auch auf Jakob hinauf- und herabsteigen können, ist in der griechischen Übersetzung der Septuaginta der Bezug auf die Leiter eindeutig. In diesem Sinne lässt sich der „Sohn des Menschen“ als die „Jakobs-Leiter in den fortan stets offenen Himmel begreifen“ (Thyen, 147), entsprechend dem Wort des scheidenden Jesus: „Ich bin der Weg …“ (Joh 14,6). Die Zürcher-Übersetzung spiegelt diese Auslegung: „auf dem Menschensohn“ statt „über dem Menschensohn“ bei Luther.
Eine andere jüdische Auslegung, die sich in verschiedenen Targumim, im Midrasch Bereschit Rabba 68,12 und auch in den Pirqe de Rabbi Eliezer findet, verbindet Jesja 49,3 „Israel, an dir will ich mich verherrlichen“ mit Genesis 28,12. So betrachten die Engel das Angesicht Jakobs und erkennen das Gesicht aus Hesekiel 1,10: „Sie [die Engel] sahen das Gesicht von Jakob und sagten: Dieses Gesicht ist wie das Gesicht des Wesens, das am Thron der Glorie ist.“ (Pirqe de Rabbi Eliezer 35; vgl. Wengst, 96). Fazit: „Even in this verse the function of the vision is not for the visionary to gaze into heaven but to see the way in which those who are already in heaven find the revelation of God located in a figure on earth” (Rowland, 506).

Während in den synoptischen Evangelien der Menschensohn zusammen mit Engeln Gottes „im Zusammenhang mit der verheißenen Parusie Jesu zum Weltgericht erscheint“ (z.B. Mt 16,27), stehen diese Engel bei Johannes am Anfang des irdischen Weges Jesu. Auf diesem Weg sehen die Jünger seine Herrlichkeit (vgl. Joh 2,11) und ereignet sich das Gericht über die Welt (12,3; 14,30; 16,11). Die Schilderung des Menschensohns von Jakobs Traum her ausgehend anstatt von Daniels Vision (Dan 7), lenkt die Deutung auf den gegenwärtig wirkenden Menschen, sein Kreuz und seine Auferstehung. Johannes kennt aber auch die zukünftige Rolle des Menschensohns (vgl. 5,28f.).

4. Homiletische Entscheidungen

Die Gegenwart Gottes unter den Menschen schlägt die Perikopenordnung am 2. Sonntag nach dem Christfest als Thema der Predigt vor. Die auf dem Menschensohn, dem Wort, das Fleisch ward, hinauf- und herabsteigenden Engel bieten ein schönes Bild, dies zu entfalten. Die Predigt betrachtet die zwiefache Bewegung der Engel:
a) Von unten nach oben: Die Himmelsleiter Menschensohn wird uns Nichtjuden zu Füßen gestellt. Die Sprossen sind unsere Stufen für einen Aufstieg im sehnsüchtigen Strecken hin zum Gott Israels, dessen Segen wir jeden Sonntag im Gottesdienst hören und das jüdische Volk schon lange vor uns gehört hat und immer wieder hört.
b) Von oben nach unten: Die Engel Gottes erkennen im Menschensohn „das Gesicht des Wesens, das am Thron der Glorie ist“, mit anderen Worten: Gottes Herrlichkeit auf Erden - am Kreuz und in der Auferstehung. Der, der gen Himmel aufgefahren ist, ist der, der vom Himmel herabgekommen ist (vgl. Joh 3,13).

Die christliche Predigt sieht die Engel und hört die Pirqe de Rabbi Eliezer. Da erklingt der Ruf, wachsam zu sein, sich nicht rechthaberisch und überheblich zu rühmen, des einzig wahren Aufstiegs zu Gott, der besten Leiter zum offenen Himmel, des einzigen Antlitzes, in dem Gott sich zu erkennen gibt, wahrhaftig zu sein. Denn wer hoch hinaufsteigt wie ein Adler, wird herabgestürzt (vgl. Obadja 1,4). Die Offenbarung des offenen Himmels ist nicht Pforte für den Siegestaumel unerschütterlicher Glaubenskämpfer. Sie kommt bescheidener daher: unseren Gebeten steht die Himmelstür offen.

In einer säkularen Umgebung bleibt das Sehen des Menschensohnes Jesus Christus eine Warnung davor, „den Menschen“ zum „teuflischen Nachahmer des Menschensohns“ zu erheben (vgl. Bolz, 60).
Zurück zur Frage vom Anfang: Was werden die Jüngerinnen und Jünger heute antworten? Sie hoffen, Gäste zu sein auf dem Hochzeitsfest, wenn der Erlöser zum Gastgeber wird und Wasser zu Wein.

P.S.: Wer eine Bildmeditation predigen möchte, findet bei Marc Chagall Jakobsleiter und Kreuz Christi im Bild zusammengestellt (http://www.adolf.frahling.de/Web-Site/Willkommen_.html – oben unter den Stichworten „Jakobs Traum“ und „Der Gekreuzigte“, abgerufen am 21.04.2010).

5. Liturgievorschläge

Psalmen: Ps 96; 138

Lesungen: Gen 28,10–22

Lieder:

Jauchzet ihr Himmel (EG 41)

Fröhlich soll mein Herze springen (EG 36)

Literatur

Barth, Karl, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1–8) (1925/26), hg. von W. Fürst, GA II/3, Zürich 1976.

Bohle, Evamaria, Unter Vagabunden, in: zeitzeichen Nr. 12, 10. Jg. (2009), 18–20.

Bolz, Norbert, Das Wissen der Religion, München 2008.

Brecht, Bertolt, Hymne an Gott, in: Gebete der Dichter, ausgewählt von Alois Weimer, Düsseldorf 2006, 241.

Gradwohl, Roland, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd. 2, Stuttgart 1986.

Gross, Peter, Jenseits der Erlösung. Die Wiederkehr der Religion und die Zukunft des Christentums, Bielefeld 2007.

Hinkelammert, Franz, Der Aufstand der Grenzen, in: zeitzeichen Nr. 12, 10. Jg. (2009), 24–26.

Jacob, Benno, Das Buch Genesis, hg. in Zusammenarbeit mit dem Leo-Baeck-Institut, Nachdruck der Originalausgabe von 1934, Stuttgart 2000.

Kaniuk, Yoram, Zwischen Leben und Tod. Ein autobiographischer Roman, Berlin 2009.

Leibowitz, Nechama, Studien zu den wöchentlichen Tora-Vorlesungen, hg. von Gabriel H. Cohn, Jerusalem 2006.

Marquardt, Friedrich-Wilhelm, Amen – ein einzig wahres Wort des Christentums, in: ders., Auf einem Weg ins Lehrhaus. Leben und Denken mit Israel. Aufsätze, hg. von Martin Stöhr, Frankfurt/M. 2009, 268–283.

Marquardt, Friedrich-Wilhelm, Deine Sprache verrät dich [Johannes – aus dem Hebräischen gedacht], Vortrag in Zürich am 24. März 1990, URL: http://www.ich-studiere-in-bonn.de/fakultaet/ST/lehrstuhl-pangritz/pangritz/Marquardt_Johannes.pdf (abgerufen am 21.04.2010).

Die Mischna, ins Deutsche übertragen von Dietrich Correns, Wiesbaden 2005.

Pirke de-Rabbi Elieser, nach der Edition Venedig 1544 unter Berücksichtigung der Edition Warschau 1852, aufbereitet und übersetzt von Dagmar Börner-Klein, Studia Judaica XXVI, Berlin, New York 2004.

Plaut, Die Tora in jüdischer Auslegung, Bd. I: Bereschit – Genesis, Gütersloh 2008.

Raschis Pentateuchkommentar, übertragen von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, Basel 42002.

Radday, Yehuda T., Auf den Spuren der Parascha. Ein Stück Tora zum Lernen des Wochenabschnitts, Bd. 4, Frankfurt/M. 1994.

Reynolds, Benjamin E., The Apocalyptic Son of Man in the Gospel of John, WUNT 2. Reihe 249, Tübingen 2008.

Rowland, Christopher, John 1.51, Jewish Apocalyptic and Targumic Tradition, in: New Testament Studies 30 (1984), 498–507.

Thyen, Hartwig, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005.

Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10, ThKNT 4,1, Stuttgart 2000.


Barbara Schenck, Januar 2011
Gesammelte Materialien für den Gottesdienst

Plus: Psalmen predigen - ''Herrliche Dinge werden in dir gepredigt, du Stadt Gottes'' (Ps 87,3)

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