Albrecht Thiel: In der Schule Gottes

Eine Rezension von Ulrich Weiß

''Werkstatttheologie'', eine ''Theologie der Situation'' spiegeln Calvins Predigten zum 5. Buch Mose. Keine ''Gehorsamsethik'', sondern eine ''Ethik der Verheißung'' verkündigten die ''erfahrungsgesättigten'' Reden. Calvin, ganz Schüler des biblischen Textes, ermahne die Reichen und predige gegen Fremdenfeindlichkeit und Wucherzins. Als ''Propheten des industriellen Zeitalters'' zeige Albrecht Thiel den Reformator Calvin, urteilt Ulrich Weiß und sieht eine These der jüngsten Calvinforschung begründet und bestätigt.

Albrecht Thiel,
In der Schule Gottes.
Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium
,
Neukirchen/Vluyn, 1999

Aktualität
Der Kapitalismus ist in der Krise. Gerade, während ich Albrecht Thiels Bochumer Dissertation wieder zur relecture in die Hand nehme, wird das Rettungspaket des Freistaates Bayern für seine am Abgrund trudelnde Landesbank geschnürt. Ich aber habe das wirkliche Vergnügen mich mit der Gemeinde- bzw. Gemeinschaftsethik Calvins zu beschäftigen, der ja seit Max Weber zum Vater des Kapitalismus hoch stilisiert worden ist. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: „Diese Arbeit ist ... kein Beitrag zur Debatte zum Verhältnis Calvinismus und Kapitalismus“ (11). So grenzt Thiel seine Arbeit ab oder ein. Doch, da Calvinismus nicht Calvin ist, darf man ja immer noch nach Kapitalismus im Denken des Predigers Calvin fragen.

Zugang zu Calvin
Thiel widmet sich in seiner Arbeit, von Hans Scholl in Wuppertal angeregt (227 A. 1440), Calvins Predigten zum Deuteronomium, die dieser in Genf vom 20. März 1555 bis zum 15. Juli 1556 gehalten hat. Er listet, jeweils datiert und mit Nennung des Predigttextes, genau 200 Predigten („sermons“) auf (55-64). Sie sind in den Bänden 25-29 der Calvini Opera veröffentlicht (1). Der Last der handschriftlichen Entzifferung ist der Autor somit entnommen, um so mehr sind seine Französischkenntnisse gefordert. Da diese wie Lateinkenntnisse bei den meisten deutschen Theologen nur unzureichend vorhanden sind, bleibt ihnen nur der Weg zu Calvin über die deutsche Institutio-Ausgabe von Otto Weber und im günstigsten Fall über die von Weber u.a. übersetzten Schriftauslegungen. Vergessen wir Mühlhaupts Psalmen- und Abrahamspredigten nicht. Natürlich, ich weiß natürlich auch noch um weitere Übersetzungen und stürze mich dankbar auf jeden Band der Studienausgabe. Mit ihr könnte die Calvin-Renaissance beginnen. Die mangelnde Sprachenkenntnis ist zweifelsohne ein übles Hemmnis für eine deutsche Calvin-Rezeption gewesen und wird es auch bleiben. Eine Auswahl der Deuteronomiumspredigten Calvins wird übrigens für die Studienausgabe von Eberhard Busch (Göttingen) vorbereitet.

Pionierarbeit Thiels: Werkstatttheologie
Es handelt sich bei Calvins lückenlosen lectio-continua-Predigten über das Deuteronomium  um Werktags-Predigten, die Calvin in einer kritischen Phase der Reformation in Genf hielt. Thiel sucht in den Predigten nach einem „ Gesamtverständnis der Ethik“ (2) Calvins. Bisher wurde die Ethik Calvins primär von der Institutio aus, wo die ursprüngliche Situation je länger je mehr dem heutigen Leser unerkennbarer wurde bis sie in immer ausführlicheren Darstellungen aufgeht, behandelt. Hier sind auf dem Weg von 1536 (6 Kapitel) bis 1559 (80 Kapitel) jeweils Sedimentenbohrungen und vor allem Analyse von Umschichtungen und Auffaltungen geboten, um den historischen Ort einer lehrhaften Aussage Calvins zu finden.

Thiel greift zur Charakteristik seines Verständnisses des Predigers Calvin zum Bild eines gleichschenkligen Dreiecks: Bibel, Lehre und Situation. „Die Bibel bzw. das Wort Gottes“ hat „das absolute Prae“. Um im geometrischen Bilde zu bleiben: Die Bibel ist damit die „Basis“ gegenüber Lehre und Situation.

Thiel leistet mit seiner Untersuchungen eine Pionierarbeit. Um gleich ein Ergebnis seiner Arbeit an den Anfang zustellen: In den Homilien der „Werktagspredigten“ begegnen wir einer „Werkstatttheologie“. Die Predigten liefern erkennbare „Theologie in der Situation“ (3). Damit können wir uns übrigens von bekannten theologischen Schlagworten, die die Theologie Calvins umfassend kennzeichnen wollen, verabschieden. Dazu gehört an erster Stelle das decretum horribile als „der dunkle Hintergrund aller Antworten, die Calvin auf alle theologischen Fragen gegeben hat“ (z.B. Barth 1959). Thiel: „In den Deuteronomiums-Predigten ... kommt jenes decretum als der ‚dunkle Hintergrund aller Antworten’ jedenfalls nicht vor“ (10). Mit dieser Fehlanzeige können wir über den Schriftausleger Calvin schon sehr viel lernen, vielleicht sogar das Entscheidende: Für Calvin hat die Schrift das erste und das letzte Wort vor allen eigenen Erkenntnissen und favorisierten Fragestellungen. Ein alles regierendes theologisches Prinzip gibt es bei Calvin nicht. Die Schrift hat Vorrang. Zu einer solchen Haltung gehört viel Demut (E. Busch mündlich).

„Accomodation“
Ohne Leitbegriffe, „doctrine generalle“, geht es allerdings auch in den Predigten nicht. Und hier drängt sich vor: die „accomodation“, dass Gott sich den Menschen „auf eine zärtliche und freundliche Art“ zuwendet wie der die Kinder freundlich bittende (!) „Vater“, der, „um seine Kinder zur gewinnen, mit ihnen lacht und ihnen gibt, was sie wünschen“ (17). So kann das Gottesverhältnis des Menschen oder das Menschenverhältnis Gottes, aber auch die Funktion der Bibel und der ihr folgenden Predigt beschrieben werden. Wer in dieses Geschehen hineingenommen ist, der ist in der „Schule Gottes“ (17.18.89-91.289-216 u. öfters). In dieser Schule unterscheidet Calvin als Prediger „in der Anrede an die Gemeinde“ weder zwischen „Erwählten“ und „Verworfenen“ noch zwischen „Gläubigen und Nichtgläubigen“ (94f.).

So mag man gespannt und erstaunt auf Calvins Predigten hören, die ja ihren Platz im göttlichen Reden haben und deren Inhalt darum nicht als theologische Fertigware aus dem Magazin für Prediger oder aus Predigtstudien abgerufen werden kann.

„Calvin in Genf“
Doch ehe es an die Predigten selbst geht, soll noch ein Blick auf das Genf Calvins, nein, auf „Calvin in Genf“ (21-76) geworfen werden. Dieser permanente Blick auf die städtischen Verhältnisse von der städtischen Verfassung, den Parteiungen in der Stadt, der Außenpolitik, dem Asylwesen, der Industrie und bis zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und zur Arbeitslosigkeit und anderes mehr ist eine der wirklichen Stärken dieser Arbeit. Da geschieht auch manche Entmythologisierung lieb gewordener, aber dem Calvinverständnis nicht gut tuender Vorurteile, mit denen man sich in der deutschen Nachkriegstheologie geradezu gegen den Genfer Reformator verschworen hat.

Und dazu kommen in den Kapiteln 3-7 Exkurse zu den Genfer politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, aber auch Schneisen in Rechtsphilosophie und Philosophie: das sechste Gebot in der Zeit (100-2), Zur Erfahrung von Herrschaftsverhältnis: Calvins Krisenbewußtsein (134-43), Herrschaft als doppelte Verpflichtung (146-53), Herrschaft als ‚mutua obligatio’ (153f.), Wurzeln der ‚mutua obligatio’ (154-60), Wahlen in Genf (167f.), diakonisches Handeln in Genf (192-7); zur Frage des Naturrechts: Billigkeit und Recht 197-203.203f..205-11). Ökonomische Rahmenbedingungen: Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage Genfs. Zur finanzpolitischen Situation Genfs (227-31.231-4), die Billigkeit (equité) des Zinses (247-51), Auseinandersetzung mit der Theorie des Zinses (251-4), über die Entwicklung des Zinses in Genf (260-2).
Mitten in die aufgewühlten städtischen Verhältnisse gehören der Gottesdienst und der Prediger Calvin in den  Jahren 1555/56.

Die obige Auflistung mag auch die Empiriehungrigen auf den Geschmack bringen. Die Predigten Calvins sind erfahrungsgesättigt. Und: Hier werden dem Hörenden keine Lehrsätze um die Ohre geschlagen. Ich möchte hier insbesondere die Kapitel vier, sieben und acht in Thiels Arbeit vorstellen, zuvor aber noch einmal auf den Abschnitt „Jean Calvin als Prediger in Genf 1555/6“ (37-76) hinweisen, wo uns Bekanntes und Unbekanntes aus der hermeneutisch-homiletischen Arbeit Calvins begegnet. Wer Calvin als kirchlichen Diktator der Stadt Genf im Kopf hat, muss wissen, dass Calvins Position in Genf trotz des Rückrufes aus Straßburg im Jahr 1541 umstritten war und lange Zeit blieb. 1553 war es um sein Image am schlechtesten bestellt. Nur in der Causa Serveti zogen Rat und Calvin – mit dem christlichen Europa – an einem Strick. 1555: Im Eröffnungsjahr der Predigten kam es zu einem gegen Calvin gerichteten „Putschversuch“ seitens der „Kinder von Genf“ (zB Ami Perrin). Dann fielen die Wahlen zugunsten Calvins aus. Die Macht der „Fremden“ wuchs mit ihrer Einbürgerung.

Lectio continua
Calvin hat etwa 4.000 Predigten gehalten, davon sind 38%, dh. 1542 erhalten. 39 Foliobände gab es  am Ende des 18. Jahrhunderts noch. Die Bibliotheksleitung der Genfer Universität überließ die meisten Bände dem Trödel. Calvin hat die fortlaufende Predigt biblischer Bücher (lectio continua) geübt. Werktags hat er alttestamentlich, sonntags neutestamentlich gepredigt. Nur die Psalmen wurden auch sonntags verwandt, soweit wir wissen. Als Textgrundlage nahm er wahrscheinlich die „zweite Revision der Olivetan-Bibel“ (40), sodann übersetzte er selbst aus dem Urtext ad hoc. Meist gab er vor einer Predigtreihe einen Kommentar zum entsprechenden Buch heraus. Bei den Deuteronomiumspredigten verfuhr er umgekehrt. Da entstanden die Predigten vor dem Kommentar. Offensichtlich forderten und förderten die Genfer Verhältnisse die Beschäftigung mit dem breiten Feld der sozialen Probleme im Deuteronomium. Der Prediger Calvin musste die „gemeinsame Grundsituation“ der Genfer Gemeinde mit dem Israel in der Wüste nicht her stellen, sondern er musste sie nur heraus stellen. Auch die Erwählung verbindet das Volk Gottes damals und jetzt (71). So wurde Genf als erwählte Gemeinde zur Verantwortung gerufen. Zu den Gaben der Erwählung Genfs gehörten auch die demokratischen Verhältnisse Genfs im Gegensatz zu einem törichten Monarchen, der „ohne Verstand“ redet (67).

Calvins Predigterfolg hielt sich in Grenzen. „Und es wäre besser, sie kämen gar nicht“, sagte er einmal mehr boshaft als resigniert (41). Er war gut vorbereitet, aber er sprach ohne Manuskript. Seine Predigten wurden durch den Flüchtling Denis Raguenier stenographiert. Dieser diktierte sie nachträglich und versperrte damit die Einsicht, dass Calvin ein Freund, wenn nicht der Erfinder des „kurzen“ französischen Satzes war (Higman). Das machte die Eleganz seiner Sprache aus (42f.). Der Prediger Calvin konnte manchmal kräftig bis maßlos, wenn er unter Stress stand, polemisieren. Dabei brachte er die Tagesprobleme durchaus subjektiv auf die Kanzel. Dennoch konnte er Luthers (zugegeben: geistvollem) Grobianismus nun doch nicht das Wasser reichen. Gegenüber dem Text war er demütig. Er war Schüler, natürlich als Prediger erster Schüler des Textes. Die Predigt selbst war ein Teil der accomodatio Gottes. Darum verzichtete Calvin auf allen rhetorischen Glanz und folgte eingehend den einzelnen Versen. Er holte die Hörer nicht ab, sondern er fiel mit der Tür ins Haus. Er fuhr nämlich da fort, wo er an den Vortagen aufgehört hatte. Damit war er aber auch da, wo die Hörer waren. Prediger wie Gemeinde waren gemeinsam in der „Schule Gottes“. Das ist eine Stärke der lectio continua – bis heute.

„Du sollst nicht töten“ (Dtn 5, 17)!
Aber was ist das Profil der Predigten? In der am 1. Juli 1557 gehaltenen Predigt zum sechsten Gebot (Dtn 5, 17): Du sollst nicht töten betont er die Einheit der Menschen: „... wir sind von gleicher Natur ... daß wir Menschen gleich sind ...“ (103). In einem Nebengedanken wendet er sich gegen die Sklaverei (104). Der Schöpfungstheologe Calvin reklamiert die imago Dei des Menschen. Die Menschen „sind nicht wie Rinder, Esel, Hunde: Wir tragen immer irgendein Kennzeichen dieses Bildes von Gott [„image de Dieu“]“ (110). In der Institutio dominiert die von Christus erneuerte imago Dei. Calvin ist in den Predigten auch der antiken Philosophie (Aristoteles/Cicero) verpflichtet. „Da der Mensch zum Bild Gottes erschaffen worden ist, ist unter keinen Umständen eine Aggression erlaubt. Sonst wäre es, als ob unser Herr sagte: Ihr führt Krieg gegen mich ... denn ich habe mein Bild in euch eingeprägt“ (112). Thiel zitiert auch noch den Satz einer Jesaja-Predigt „Gott hat uns alle zusammen erschaffen, den einen wie den anderen. Kurz, er ist Schöpfer der Türken und Heiden ebenso wie der von uns“ (115). Krieg missachtet also immer den Schöpferwillen (de Quervain). Calvin demaskiert aber auch illusionslos die ökonomischen Motive gegenwärtiger Kriege: „Straßenräuberei (brigandages)“ (119). Im übrigen generalisiert Calvin frei nach 1 Joh,15: „Wer seinen Bruder haßt in seinem Herzen, der ist ein Mörder“ (122).

Der imago-Lehre entspricht bei Calvin ein Verhalten der Brüderlichkeit („fraternité“), das durch die naturrechtlichen Kategorien: Billigkeit („equité“) und Recht („droicture“) beschrieben werden kann (127). Die universal verstandene imago Dei ist folglich Gabe und Verpflichtung für alle Menschen hin zur Verherrlichung Gottes . Das Privileg der Christen sind die „Anrufung“ Gottes als „Vater“ und die Gebote Jesu in der Bergpredigt, die ein solidarisches Leben nach sich ziehen und auch ermöglichen. Das befreiende Handeln Gottes stellt die Christen damit aber auch in eine besondere, einzufordernden Verantwortung. Kritisch: Calvin springt nicht über den Schatten: die Todesstrafe und Kriege werden nicht geächtet (130). Die aequitas ist auch andernorts Schlüssel des biblischen und naturrechtlichen Gesetzesverständnisses des Theologen und der praktischen Gesetzeshandhabung des Juristen Calvin und ist fast (!) konkordant mit der Goldenen Regel in Matthäus 7, 12. Imago-Dei-Auffassung und Billigkeitsregel sind Brückenschlag zwischen Kirche und Welt und erlauben die Kooperation zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, worauf schon Bohatec hinwies.

Arm und reich – Zinsen
Und nun der Sprung in das Kapitel 7 der Thiel’schen Darstellung „Der Mensch im Kontext wirtschaftlicher Entwicklungen“ (225-287). Schon der Umfang des Kapitels – das umfangreichste im Buch – zeigt, dass Thiel hier nun doch ein besonderes Schwergewicht seiner Untersuchung sieht.

Ironisch wurde das heutige Genf die Stadt mit mehr Millionären als Arbeitslosen genannt (228). So konnte nicht immer geistreich gewitzelt werden! Genf war in Folge seines vorcalvinischen, reformatorischen Aufbruchs, der eine Emanzipation vom Bischof wie von dem Herzog von Savoyen bedeutete, „am Ende der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine verarmte Stadt“ (228). Hans Scholl nennt das damalige Genf einmal eine „vertroddelte Stadt“. Und dann kam die Wende ab 1550 – nicht mit einer kapitalistischen Theorie – , sondern mit dem Geld der italienischen und dem technischen Know-How der französischen Flüchtlinge. Neue Industrien griffen z.B. das Druckereiwesen. Zwischen 1550 und 1563 eröffneten 50 Druckereien ihren oft kurzlebigen Betrieb. Dazu kamen Uhrmacher. Juweliere erst nach Calvins Tod. Calvin selbst erlebte dafür um so mehr die sozialen Konflikte und Folgen des Flüchtlingswesen und der Überbevölkerung (229-231). Mit den Flüchtlingen nahm Calvins Einfluss ab 1555 erheblich zu. Ca. 10.000 männliche (!) Flüchtlinge werden zZt Calvins in den Genfer Akten namentlich genannt. Im Genfer Budget schlugen in jenen Jahren die Zahlungen für den Erwerb der Bürgerrechte mit 20-25% jährlich zu Buche (232 u. A. 1487). Und ein wichtiger Posten der konsistorialen Kirchenzucht wurde die Fremdenfeindlichkeit der Eingesessenen, die von den Franzosen sagen konnten, dass sie „alle Teufel seien“ (232 A. 1490). Mit diesem Spannungsfeld haben wir den Ort der Predigten Calvins benannt. Hier war Calvin „Prediger gegen den Trend der Zeit“ (234). Er sah die „Schlünde und Abgründe“ (238), die sich auftaten. Aus ökonomischen Gründen plädierte er für „Bescheidenheit“ und „Maß“ (237f). Askese mag sein persönlicher Lebensstil gewesen sein, von anderen verlangte er sie nicht. In Tolstoi’schem Gestus macht er darauf aufmerksam, dass Gott am ehesten, „in den armen Haushalten, wo es viel Not gibt“, wohne (240). „Menschlichkeit“ ist den Kriegs- und Glaubensflüchtlingen zu gewähren (241). „Humanität („humanité“)“, aus Erbarmen und Mitleid bestehend, ist den Leitworten equité und droicturé zu Seite zu stellen. Und keineswegs lernen wir Calvin hier als einen Anwalt des vorhandenen und üblen Zinswesens kennen, sondern als seinen heftigen Kritiker. Jedoch ist er nicht so weltfremd, den Zins abzulehnen. Vielmehr, er plädiert für „eine bedürfnisorientierte Zinsregelung“. Zins vom Bedürftigen und Armen zu nehmen, ist Diebstahl. Das ist die konkrete Anwendung der hermeneutischen Norm der Billigkeit wie der Goldenen Regel Jesu. Das bedeutet dankbares Leben im „accord“ mit Gott. So „ähneln“ (260) wir ihm Unsere Menschlichkeit entspricht der göttlichen. Hier zeigt nun Thiel Einblick in viele Facetten Calvins Position. Doch sollte man selbst lesen, um argumentationsfähig auf dem Niveau Calvins zu werden. Und der Kapitalismus in Genf? Schon 1538 hatten die Genfer den Zinssatz auf 5% festgelegt. Mit „zurückhaltender Zustimmung“(Monter; 261) stimmte Calvin 1557 der Erhöhung auf 6,66% zu. 1572 ging man auf 8,33%. „Praktisch unterschieden sich die Zinsregelungen in katholischen und protestantischen Gegenden kaum“ (262). Der Schriftausleger und Menschenfreund Calvin behandelte die aus dem Geldverleih entstehenden Probleme des Zinsnehmens sub octavo! Der Gewinn war also Raub oder Diebstahl. Eine weltflüchtige, täuferische Lösung ohne Zins lehnte er ab (264). Für die Interpretation der biblischen Zinsverbote brachte er neben der Einsicht in die Verschiedenheit der Zeiten die equité in Anschlag. Die Ausnahmeregelungen für Israel [Dtn 23, 21: Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen (nach Neue Zürcher Bibel)] gelten nicht mehr. Was Schaden bringt, ist „den Juden ebenso“ wie den Christen „verboten“ (248). Der Mensch als Gottes Geschöpf ist durch die Regel der Billigkeit geschützt. Um Investitionen zu ermöglichen, ist der Zins allerdings erlaubt und notwendig. Es ist anzunehmen, dass die Genfer sich für Calvins Parteilichkeit für die Armen kaum bedankten. Doch wird seine Predigt moderierend gewirkt haben. Sodann: In seiner Predigt zu Dtn 24,9-22 sieht Calvin darin, dass Gott den Reichtum schenkt, „Gelegenheit und Möglichkeit“, die „Nächsten zu unterstützen, die bedürftig sind“ (269). Gottes Segen vermittelt „die rechte Mitte [,] ...die rechte dankbare und zuversichtliche Lebenshaltung: ‚wenn Gott uns ein gutes Jahr gegeben hat, wenn wir menschlich gewesen sind gegenüber unsern Nächsten, um (276) ihnen zu helfen, dann wird er immer mehr seine Gnadengaben über uns vergrößern’“ (276f.). Und nicht der Reichtum, sondern „die Praxis der Reichen“ ist „gottlos“ (285). Thiel folgert aus den Predigten für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen, dass sie sowohl in Gemeinde wie im Staat organisch miteinander verbunden sind. Calvin benutzt das „alte Bild vom Körper“ (282). Calvin argumentiert auf der Grundlage des Bundes, der „Ausdruck der“ göttlichen „accomodation“ (284) ist. Das heißt Rettung „aus der Hölle“, dh Ägypten und Tod, ist Rettung aus dem Reichtum als dem „Instrument des Bösen“ (Bieler; 284 A. 1901). So ist verantwortliches Leben als Antwort auf Grund unverdienter Gnade, dh „mutua obligatio“ der Reichen sowohl Gott wie den Armen gegenüber, gefordert (285). Darum sollen die Armen auch nicht revoltieren: Sie leben „unter dem Plus seiner Verheißung [„promesse“]“, das „verbunden“ ist „mit einem ausgleichenden Verhältnis zwischen Reichen und Armen in Billigkeit“ (286). Thiel argumentiert gegen Barths Beschreibung der Ethik Calvins als „eine[r] reine[n] Gehorsamsethik“ (286).

„In der Schule Gottes“
Thiels Abschnitt 8 lautet „In der Schule Gottes“ (289-318). Hier gibt er ein theologisch-rechtsphilosophisches Resumee, dessen Eingangsworte fast einen Graben zwischen dem Calvin der Institutio und dem der Predigten [und der Kommentare und Briefe] aufreißen. Ich kann Thiel nur stichwortartig aufnehmen.

In der Schule Gottes leben und handeln, heißt, „sich in allen Dingen Gottes Handeln einzufügen“.
Durch Gottes Güte empfangener Besitz verpflichtet zur Güte gegenüber den Armen. Gottes Güte wird verherrlicht, in der Gemeinschaft innerhalb und außerhalb der Kirche. So leben wir im „accord“ mit Gott „wie bei einer Melodie“ (293). Also, in der Schule Gottes wird der Mensch in eine Dynamik hineingenommen. „Weg“ [in der Institutio 1536: „129mal“,aber 1559 „179mal“] ist eine Vorzugsmetapher von Calvin (306.315).

Calvin kann diese Bewegung auch als eine „Ethik der Verheißung“ darstellen. Die alttestamentliche Verheißung im Lichte der Rechtfertigung sehen, sich  in Gottes „accomodation“  bewegen, hat die Praxis des tertius usus legis zur Folge. Es heißt in den Predigten übrigens kein einziges Mal usus „in renatis“ (299). Im Bunde Gottes leben heißt antworten. Aber Calvin spricht „quantitativ“ viel häufiger „im Rahmen einer Schöpfungsethik“. Thiel rechnet dieses zur von Heiko Obermann sogenannten „Extra-Dimension in der Theologie Calvins“ (302). Gottes Geist wirkt demnach auch im Recht (303). Calvin geht relativ „unbefangen“ (308) mit Gen 1, 26 als Begründung der schöpfungsmäßigen imago Dei um. Auf dem Weg des Volkes Gottes durch die Zeit (Sinai und Genf) ist die „abnegatio sui“ (die Selbstverlegung) nötig. Hier fand Max Weber die Materialien „zur innerweltlichen Askese“ des Calvinismus (311).

Calvin kommt uns durch Thiels komplexe Darstellung und Wertung gerade in seiner nicht immer vermittelten christologischen und schöpfungstheologischen Darstellung theologisch und menschlich näher. Hier habe ich in meiner Darstellung wahrscheinlich die pneumatologische Seite der Thiel’schen Arbeit zu kurz gehalten. Die von Calvin behandelten Themen sind nicht von gestern. In der Kampagne gegen den Schuldenerlass Ende der neunziger Jahre hätte uns Calvin gut Schützenhilfe leisten können. Ich kann es nun besser verstehen, dass ihn Andre Bièler 1966 „Prophet des industriellen Zeitalters“ (322) genannt hatte. Bleibende Aufgabe ist mit dem Satz Thiels zu Beginn seines Resümees gegeben. „Reduziert man Calvins Theologie auf die Wiedergabe von Lehrsätzen, so steht sie in der Gefahr langweilig zu werden“. Das Bild von der Dogmatik als „Skelett eines toten Wales“ im Vergleich zu Calvins Genfer Predigten als „dem lebendigen Tier“ ist faszinierend, aber auch gefährlich. An der Überwindung dieser Spannung bzw. an der Einheit von Prediger und Theologie ist zu arbeiten. Calvin war auch in der Institutio nicht am Ausfeilen einer systematischen Theologie interressiert, sondern in  seiner wachsenden, manchen ermüdenden Prägnanz war er Theologe im Kontext. Ich denke, Albrecht Thiel hat uns auch genügend Impulse aus der „Lehre“ Calvins gegeben, um diese neu zu bedenken. Thiel ist es zu danken, dass er unser Calvinbild in Bewegung gebracht hat.


Pfarrer i.R. Ulrich Weiß
Von Albrecht Thiel

Am Beispiel seiner Predigten über das 5. Buch Mose wird der Reformator Johannes Calvin in neuer Sichtweise vorgestellt: Als Prediger in der von sozialen Spannungen geprägten Gemeinde Genf, der er den biblischen Text als Wegweisung zum Leben übersetzt und auslegt.
 

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