Calvin – der fremde Reformator

Von Walter Schöpsdau, Lorsch

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Ein Gemeindevortrag als lebendiger Einstieg in Calvins Leben und Wirken sowie das Profil des reformierten Protestantismus heute.

I. Calvin und sein Werk in Genf
1. Der erste Genfer Aufenthalt
2. Vollendung des Lebenswerkes in Genf
II. Reformierter Protestantismus
1. Calvinismus als Kulturphänomen
2. Kirche und Staat
3. Geistliches Profil

Walter Schöpsdau, Calvin - der fremde Reformator (Gemeindevortrag vom 31.10.2008).pdf >>>

Wenn wir Leute auf der Straße nach Johannes Calvin fragten, was würden wir über ihn erfahren? Wer ihn nicht überhaupt mit einem bekannten Unterwäsche- und Parfümhersteller verwechselt, weiß vielleicht noch, dass er als Reformator in Genf einen christlichen Musterstaat errichten wollte und dass es dabei auch Verbannungen und Todesurteile gab. Eine andere hat vielleicht einmal von Calvins Prädestinationslehre gehört, jener Lehre, wonach Gott von Ewigkeit her einen Teil der Menschen ohne Vorausblick auf ihre Verdienste zum Heil erwählt und den anderen Teil verworfen habe. Populär ist Calvin nie gewesen[1]. Worin besteht die Bedeutung dieses Mannes, der für den Weltprotestantismus wichtiger wurde als Martin Luther?

Ich will zuerst von Leben und Werk des Genfer Reformators berichten; danach frage ich nach dem besonderen Profil des Calvinismus, der sich „die nach Gottes Wort reformierte Kirche“ oder kürzer „die Reformierten“ nennt. 

1. Calvin und sein Werk in Genf

Calvin ist ein Vierteljahrhundert nach Luther am 10. Juli 1509 im nordfranzösischen Noyon geboren. Als Reformator der zweiten Generation steht er vor anderen Herausforderungen als Luther. Hatte Luther die befreiende Erkenntnis gewonnen, dass wir durch den Glauben leben, so war es Calvins Sorge, dass wir auch wirklich aus dem Glauben leben. Neben die Botschaft von der Rechtfertigung allein durch den Glauben tritt gleichgewichtig die Heiligung, auf die sie hinzielt.

Auf Wunsch des Vaters, der als Steuerbeamter Sekretär des Bischofs und Finanzverwalter des Domkapitels geworden war, hatte Jean Theologie studieren sollen. Doch nach einem Streit mit dem Domkapitel änderte der Vater seinen Entschluss und bestimmte ihn zum Studium der Rechte. Zu der Zeit gibt es in Frankreich bereits eine wachsende Gruppe von „luthériens“, die von der Staatsgewalt verfolgt werden. Territorialfürsten, die der evangelischen Bewegung Schutz boten, gab es in Frankreich nicht. Wer sich hier der Reformation anschloss, musste mit dem Tod rechnen. Totale Hingabe zur Ehre Gottes wird zu einem Leitmotiv Calvins. An fünf Studenten, die in Lyon ihrer Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen  entgegensehen, schreibt er später: „Ihr wisst, liebe Brüder, wir müssen so abgestorben sein, dass wir uns für ihn [sc. Gott] zum Opfer bringen können“[2]. Das Wappen, das er sich wählte, zeigt ein geopfertes und Gott dargebrachtes Herz.

Als der Vater 1531stirbt, kann der junge Mann, damals noch Inhaber einer kirchlichen Pfründe, seinen eigentlichen Neigungen folgen und wird humanistischer Schriftsteller, der mit 23 Jahren einen Kommentar zu einer Schrift des antiken Philosophen Seneca veröffentlicht. Wie wurde aus dem glänzenden Gelehrten der Reformator? Er kennt die Schriften Luthers. Er studiert die Heilige Schrift, und dieses Studium macht Calvin und seine Freunde zu Kritikern der zeitgenössischen Kirche. Vor allem die „papistische“ Messe ist ihnen ein Gräuel. Zeitlebens behält Calvin etwas von der Verachtung des aufgeklärten Philosophen für Zeremonien, einen physischen Abscheu vor einer Religion des Zur-Schau-Stellens, in der das Leibliche breiten Raum einnimmt. „Der Gott Calvins ist ein reinlicher Gott“[3]. Aber noch will er seine literarische Karriere nicht durch ein offenes Be­kenntnis gefährden. Dass es anders kam, deutet er später so, dass Gott ihn hinter den Büchern hervorgezogen habe[4]. Seine Bekehrung besteht weniger um ein Ringen um das eigene Seelenheil als in dem Entschluss, sich von nun an für die Erneuerung der Kirche einzusetzen. Calvin wird als Anhänger des neuen Glaubens bekannt und gibt seine übrigen Studien auf, um im Kreis dieser Gleichgesinnten der „wahren Frömmigkeit“ und der „reinen Lehre“ zu dienen. Die Theologie eignet er sich im Selbststudium an und veröffentlicht schon mit 27 Jahren ein Kompendium evangelischer Lehre, die erste Fassung seiner „Institutio religionis Christianae“ – „Unterricht in der christlichen Religion“.

1. Der erste Genfer Aufenthalt

Da war er schon nicht mehr in Frankreich. Sein Freund, der Rektor der Pariser Universität, hatte an Allerheiligen 1533 in seiner Rede zur Semestereröffnung die Bergpredigt im Sinne der Rechtfertigung allein aus Gnade ausgelegt und die Seligpreisung der Verfolgten auf die Evangelischen bezogen. Calvin wird verdächtigt, die Rede mitverfasst zu haben, und muss aus Paris fliehen. Als ein Jahr darauf in verschiedenen Gegenden Frankreichs Plakate gegen das Messopfer und den Priesterdienst auftauchen, entweicht Calvin nach Straßburg, dann nach Basel. Die in Basel gedruckte „Institutio“ soll dem französischen König beweisen, dass der von ihm verfolgte evangelische Glaube keine Ketzerei ist[5], sondern der wahre alte Glaube der Kirche.

Kirche ist für Calvin das Volk Gottes, das die Ehre Gottes sucht. Wie Israel aus Ägypten auszog, so hätten die Gläubigen das Land des römischen Götzendienstes zu verlassen und sich dorthin zu begeben, wo reine Gottesverehrung möglich ist. Dieser Ort ist, als Calvin dazu aufruft, die Stadt Genf, wo er inzwischen angekommen ist.

In Genf hatte man nicht auf Calvin gewartet. Die Reformation war von Bern aus nach Genf gelangt, und wie beim Anschluss der deutschen Fürsten und Städte an die Reformation ging es auch den Genfern zugleich um politische Unabhängigkeit vom Herzogtum Savoyen und dem mit diesem verbundenen Genfer Fürstbischof. Am Karfreitag 1533 wurde der erste reformierte Gottesdienst gefeiert, im Oktober 1535 vertrieb der Magistrat den Bischof aus seinem Amt. Man prägt feierlich Münzen mit der Aufschrift „Post tenebras lux“ – „nach der Finsternis Licht“; auf der Rückseite stand „Deus noster pugnat pro nobis“ – „Unser Gott wird für uns streiten“.

Die geistliche Reformation konnte unter diesen Umständen nur der weltlichen folgen und musste eine Reformation von oben werden[6]. Der Mann, der bis dahin als evangelischer Prediger in Genf wirkte, Guillaume Farel, war der Aufgabe nicht gewachsen und nötigte in einem dramatischem Auftritt den 27jährigen Calvin, der sich zufällig auf der Durchreise befand, in Genf zu bleiben. Calvin hätte sich lieber seinen „stillen Privatstudien“ hingegeben und erinnert sich später, wie Farel seine Ruhe im Namen Gottes verfluchte, wenn er ihm nicht helfen wolle. „Da erschrak ich, und gab die Reise auf.“ Es war mir, „als ob Gott vom Himmel her gewaltsam seine Hand auf mich legte“[7].

Erstmals tritt Calvin öffentlich auf, als in der Nachbarstadt Lausan­ne ein großer Disput anberaumt wird, der die gesamte eingeladene Bürgerschaft von der Notwendigkeit einer Reformation gemäß der Schrift überzeugen soll. Es ist keine akademische Disputation auf Latein nach mittelalterlichem Vorbild, wie sie noch Luther geführt hat. Jetzt ist es die weltliche Obrigkeit, die zum Streitgespräch aufruft. Es findet nicht mehr in der Universität statt, sondern vor den Ohren des anwesenden Volkes in der Landessprache. Und es sind keine anderen Argumente und Autoritäten zugelassen als allein die Heilige Schrift. Der von Natur schüchterne[8] Calvin gerät bei solchen Diskussionen in maßlose Polemik. Wörter wie „Canaille“, „Wüstling“, „Hund“, „Schweinerei“ oder „Stänker“ gehen ihm schnell in die Feder[9]. Wer ihn angreift oder die Redlichkeit seiner Überzeugung in Zweifel zieht[10], bekommt den Zorn eines Mannes zu spüren, der nicht für sich, sondern für Gottes Ehre kämpft. Den Genfern steht einiges bevor.

Als erstes sollen die Bürger sich auf ein evangelisches Glaubensbekenntnis verpflichten oder das Bürgerrecht verlieren. Doch manche entziehen sich dem Eid, ohne die Stadt zu verlassen. Calvin fordert, dass „mindestens jeden Sonntag“ das Abendmahl gefeiert wird und sittenlose Personen davon ausgeschlossen werden[11], was einer gesellschaftlichen Ächtung gleichkommt. Deshalb setzen Calvins Gegner durch, dass das Abendmahl nur viermal im Jahr gefeiert werden soll. Und dass ein Ausländer aus Frankreich sich erlaubt, ehrbare Genfer Bürger zu exkommunizieren, erscheint zu viel. Als die Dinge eskalieren, werden Calvin und Farel nach zwei Jahren durch den Rat aus Genf ausgewiesen. „Wenn wir den Menschen gedient hätten“, schreibt er, „so hätten wir schlechten Lohn empfangen. Aber wir dienen einem großen Herrn, und er wird es uns lohnen“[12]. Er begibt sich nach Straßburg, von wo aus er den Protestantismus im Reich und Melanchthon kennen lernt. Nach drei Jahren rufen ihn die Genfer wieder zurück. Er besteigt seine Kanzel in Saint-Pier­re, als ob nichts gewesen wäre, und fährt im Predigen fort, wo er stehen geblieben war.

2. Vollendung des Lebenswerkes in Genf

Seine Stellung in Genf scheint nun gefestigter. Noch im gleichen Jahr nimmt der Rat Jahr seine Kirchenordnung an. Sie kennt vier geistliche Ämter: Pastoren für Predigt und Seelsorge, Doktoren für den Unterricht, Älteste, auch Presbyter genannt, für die Kirchenzucht, und Diakone für die Armenpflege. Pastoren und Doktoren bildeten zusammen ein Gremium, das man in Hessen und Nassau „Leitendes geistliches Amt“ nennen würde. Das Konsistorium aus Ältesten und Pastoren entspricht als Leitungsorgan der Kirche einem heutigen Kirchenvorstand bzw. dem Presbyterium in reformiert geprägten Kirchen. Dadurch, dass die Ältesten dem weltlichen Rat entnommen werden, ist aber eine Vermischung der Gewalten vorprogrammiert, so sehr Calvin auf die Selbstorganisation der Genfer Kirche bedacht war.

Das Genfer Konsistorium wachte auch über Lebenswandel und Rechtgläubigkeit; die Ältesten hatten ungehinderten Zutritt in alle Häuser. Calvins Kirchenzucht war für Genf indes kein völliges Novum[13]. Das Glücksspiel mit Würfeln und Karten, Ursache für den wirtschaftlichen Ruin vieler Menschen, war wie in anderen Orten auch bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts vom Rat verboten worden. Ein Tanzverbot war 1539 in Abwesenheit Calvins verhängt worden; eine Ausnahmeregelung für Hochzeiten wurde vom Rat 1549 aufgehoben. Eine Schließung der Wirtshäuser, mit der der Rat die Verteidigungsbereitschaft angesichts des heraufziehenden Schmalkaldischen Krieges sichern wollte, ließ sich nur zwei Monate lang gegen den Widerstand der Bevölkerung durchsetzen. Bilder, Kruzifixe und Leuchter werden entfernt. Bei der Taufe dürfen nur biblische Vornamen gegeben werden. Wer die Heiligen oder Maria verehrt oder bei der Beerdigung einem Verstorbenen „Ruhe in Frieden“ nachruft, muss sich vor dem Konsistorium verantworten. Wenn geistliche Strafen wie öffentliche Abbitte vor der Gemeinde oder Exkommunikation nicht fruchteten, wurde der Delinquent dem weltlichen Gericht übergeben. Dahinter steht die Idee eines christlichen Staates, dessen Bürgerschaft aus Getauften besteht und dessen Obrigkeit auch für den Schutz der Wahrheit und der Tugend einzustehen hat.

Die Genfer lassen sich das nicht alle gefallen. Auch Calvins Lehre von der doppelten Prädestination reizt zum Widerspruch. Von Ewigkeit her habe Gott die einen zum Heil, die anderen zur Verdammnis prädestiniert. Gott hat nicht etwa vorausgesehen, dass ein Mensch glauben wird, und ihn daraufhin erwählt, sondern der Glaube ist Wirkung der Erwählung. Diejenigen, die Gott verworfen hat, beraubt er der Fähigkeit, das Evangelium als Wort Gottes zu hören und verstockt sie durch die Predigt noch mehr[14]. Diese Lehre will etwas Richtiges festhalten: Unser Heil verdanken wir nicht unseren Verdiensten, auch nicht unserem Glauben, sondern allein der Gnade Gottes in Christus. Calvin macht aber den Fehler, dass er parallel dazu eine ewige Verwerfung einzelner Menschen annimmt mit der Begründung, dass eine „Erwählung […] ohne die ihr gegenüberstehende Verwerfung keinen Bestand [hätte]“[15]. Eine solche Symmetrie von Erwählung und Verwerfung spekuliert jedoch an Christus vorbei, der doch allein der „Spiegel („speculum“) ist, in dem wir unsere Erwählung anschauen sollen“[16]. Calvin muss wie schon vor ihm Augustinus Bibeltexte, die vom Heil für alle Menschen sprechen (1. Tim. 2, 4), dahin umdeuten, dass alle Arten von Menschen gemeint seien[17].

Bei einer der Genfer Pfarrkonferenzen warf der Arzt Hieronymus Bolsec Calvin vor, seine Prädestinationslehre mache Gott zum Urheber der Sünde und zu einem tyrannischen Götzen, nicht besser als der Jupiter der Heiden. Da Bolsec sich schon ein paar Monate vorher wegen seiner Anschauungen hatte verantworten müssen, wird er beim Verlassen des Saales sofort verhaftet und zwei Monate später für immer aus Genf verbannt, was indes nicht verhinderte, dass Bolsecs Vorwürfe bis in die Wirtshäuser die Runde machen.

Gewaltiges Aufsehen erregte die Verbrennung des spanischen Arztes Michael Servet, der die Trinität leugnete und die Kindertaufe, auf der die christliche Gesellschaftsordnung beruhte, in Frage stellte. Servet hatte sich für seinen Antitrinitarismus auch auf jüdische Kritik an einer christologischen oder trinitarischen Vereinnahmung des Alten Testamentes berufen, teilte aber nicht die positive Israeltheologie Calvins, die er als ‚judaisierend’ verwarf, sondern wollte die ‚fleischlichen’ Juden mittels historisch-philologischer Argumentation für seine spiritualistische Logos-Christologie gewinnen. Beim Prozess spielten die israeltheologischen Fragen jedoch keine Rolle [18].
Die katholische Inquisition war bereits hinter Servet her, der, beständig auf der Flucht, dennoch Zeit fand, sein Hauptwerk „Christianismi Restitutio“ – „Wiederherstellung des Christentums“ – zu schreiben und darüber mit Calvin, der die Anspielung auf seine „Institutio“ nicht überhören konnte, einen Briefwechsel anzuzetteln. Als Servets Werk in Lyon im Druck erscheint, wird er von Genf aus bei der Inquisition in Frankreich angezeigt, wird auch verhaftet, kann aber entkommen und wird in Abwesenheit, „in effigie“, verbrannt. Seine apokalyptischen Ideen führen den Flüchtling geradewegs nach Genf, wo er jedoch ergriffen und nun wirklich verbrannt wird. Servets Unglück war, dass er in die Auseinandersetzung zwischen Calvin und der Gegenpartei hineinplatzte und in Verdacht geriet, mit ihr in Verbindung zu stehen. Und wie würde Genf vor den Augen der Katholiken dastehen, wenn es einem notorischen Ketzer Aufnahme gewährte? Calvin wollte das Todesurteil[19], das im Reichsrecht für Leugnung der Trinität und der Kindertaufe vorgesehen war, suchte aber vergebens beim Rat statt des Feuertodes eine Enthauptung zu erreichen. Gutachten führender Männer der Reformation wie Melanchthon hatten sich ebenfalls für die Hinrichtung ausgesprochen. Toleranz, wie wir sie kennen, gibt es im 16. Jahrhundert nicht. Heute steht an dem Ort der Hinrichtung in Genf ein „Sühnedenkmal“, auf dem Calvins „Fehler, der ein Fehler seiner Zeit war“ beklagt wird.

Um diese Zeit kommt es auch zum Bruch zwischen Calvinismus und Luthertum. Auslöser ist die Abendmahlsfrage, die schon Luther und die Schweizer um Zwingli entzweit hatte. Calvin stand ur­sprünglich Luther näher und lehnte Zwinglis Deutung des Abendmahls als bloßes Erinnerungsmahl ab. Er musste aber den Schweizern ein Stück weit entgegenkommen, um eine Einigung der Schweizer Kirchen zu erreichen. Als dann noch Melanchthon in den Verdacht geriet, er sei heimlich Calvinist geworden, zetteln die deutschen Lutheraner einen neuen Abendmahlsstreit an. Er endet damit, dass die meisten reformierten Kirchen zwei Jahre nach Calvins Tod sich auf ein eigenes Glaubensbekenntnis einigten.

Luther hatte an der Auffassung festgehalten, dass im Abendmahl Brot und Wein in Leib und Blut verwandelt werden, und lehnte bloß die philosophische Theorie der Trans­substantiation ab[20]. Aufgrund dieser Realpräsenz Christi bekommen auch Ungläubige Leib und Blut Christi in die Hand. Calvin lehrt eine Personalpräsenz Christi im Abendmahl. Christus ist in seinem dahingegebenen Leib und Blut gegenwärtig und wirksam, aber man darf sich keine räumlich-körper­liche Anwesenheit der menschlichen Natur Christi vorstellen, wie sie erst bei der Wiederkunft Christi verheißen ist. Die Glaubenden – und nur sie – werden kraft des Heiligen Geistes mit Christus so vereint, dass sie mit seinem Leib und Blut gespeist werden, nicht anders als wie wir nach dem Johannesevangelium Jesus durch das Wort als Brot des Lebens empfangen[21]. „Der im Heiligen Geist anwesende Christus gibt sich zu unserem Heil für uns, nicht ohne jene Elemente, aber nicht sie geben, sondern er gibt“[22]. In den neutestamentlichen Abendmahlsworten bezeichnen ja „Leib“ und „Blut“ nicht zwei Substanzen, sondern Jesus meint: Das bin ich selbst – in meinem gewaltsamen Tod für euch. Das Wort „ist“ verbindet nicht Brotsubstanz und Leibsubstanz, sondern das sonntägliche Mahlgeschehen und die einmalige Passionsgeschichte miteinander[23].

Nach dem endgültigen Sieg seiner Anhänger in Genf bleiben Calvin noch zehn Jahre, in denen er als Lehrer, Organisator, Propagandist, Diplomat und Politiker den Calvinismus zu einer beherrschenden Macht in der europäischen Geschichte machte.  An vorderster Stelle stehen die Beziehungen zu den Protestanten in Frankreich, die sich selbst als „Eidgenossen“, als „Hugenotten“ bezeichnen. Zu den Evangelischen in Polen und Ungarn hat Calvin rege Kontakte. Die anglikanische Staatskirche gerät vorübergehend unter seinen Einfluss; in Schottland werden die Reformierten, die hier „Presbyterianer“ heißen, zur Staatskirche. Über die calvinistischen Puritaner, die später die anglikanische Kirche als zu katholisch ablehnen, gelangt reformiertes Christentum nach Nordamerika.

In Deutschland verbreitete sich der Calvinismus als Volksbewegung in den Gebieten, die an die Niederlanden und die Schweiz angrenzten. Die wichtigste Eroberung war die Kurpfalz, die noch zu Lebzeiten Calvins zum Calvinismus überging und den „Heidelberger Katechismus“ hervorbrachte. Calvinistisch wurden auch Städte wie Straßburg und Frankfurt am Main und Grafschaften wie Nassau-Dillenburg oder Lippe.

Calvin war nur neun Jahre mit Idelette von Büren, der Witwe eines bekehrten Wiedertäufers verheiratet. Keines der Kinder, die sie in dieser Ehe gebar, überlebte. Man beschimpft mich, „ich hätte keine Kinder“, notiert er zwei Jahre vor seinem Tod. „Aber ich habe Zehntausende von Söhnen in der ganzen christlichen Welt“[24]. Nach seinem Tod am 27. Mai 1564 wird er seinem letzten Willen entsprechend ohne Grabstein und ohne Pomp auf dem Friedhof in Plainpalais begraben. Wie bei Mose kennt niemand sein Grab.

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[1] Alain Perrot, Le visage humain de Jean Calvin, Genève 1986, 9f.

[2] Calvin, Brief an die Berner Studenten in Lyon 1553. CR 14, 544ff. Nr. 1746.

[3] Bernard Cottret, Calvin. Eine Biographie [frz. 1995] Stuttgart 1998, 333.

[4] Calvin, Vorwort zum Psalmenkommentar 1557. CR 31, 22-24. Ob die „subita conversio“ wirklich plötzlich erfolgte oder ob das Adjektiv von „sub-ire“ (durchleben, erleiden) abzuleiten ist und gewählt wurde, um „den göttlichen Ursprung des Ereignisses zu unterstreichen“ (Alexandre Ganosczy, Le jeune Calvin, Wiesbaden 1966, 302), ist umstritten.

[5] Calvin, aaO. 23.

[6] Cottret, aaO. 146.

[7] Calvin, aaO. 23f.

[8] Vgl. sein Selbstzeugnis ebd. 26.

[9] Beispiele bei Perrot, aaO. 85-90.

[10] Adressat seiner scharfen Polemik in Lausanne (Cottret, aaO. 156) ist der Pfarrer Pierre Caroli, der Calvin vorwarf, die Begriffe „Trinität“ und „Person“ zu umgehen, die in der Tat auch im Genfer Katechismus („Instruction et confession de foi“ 1537) nicht vorkommen. Im Blick auf die Frage, ob über das Wort Gottes hinaus das sog. Athanasianische Glaubensbekenntnis als Ausweis der Rechtgläubigkeit angenommen werden müsse, meinte Calvin, eine rechtmäßige Kirche hätte dieses Bekenntnis nicht gebilligt (Brief an einen Berner Pfarrer 1537, CR B 83f).

[11] Calvin, Articles concernant l’organisation de l’Église et le culte a Genève, proposés au Conseil par les ministres 1537. Joannis Calvini opera selecta (ed. Petrus Barth) 1, 369f. Die Forderung nach mindestens wöchentlichem Abendmahl auch noch Inst. IV 17, 43

[12] Ratsprotokoll 1538. CR 21, 226f.

[13]  Vgl. die Richtigstellungen bei Georg Plasger, Aus dem Reich der Legende. Wie Stereotype die Sicht auf Johannes Calvin verstellen. Zeitzeichen 1/2009, 28-31.

[14] Calvin, Inst. III 24, 12.

[15] Ebd. 23, 1.

[16] Ebd. 24, 5.

[17] Ebd. 24, 16.

[18] Vgl. Achim Detmers, „Gleichmacherei der Testamente“. Michael Servets Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit Calvins Israellehre (http://www.reformiert-info.de/3135-0-0-16.html).

[19] „Kommt er hierher, so lasse ich ihn, wenn meine Autorität nur etwas gilt, nicht mehr lebendig wieder fort“, schrieb er am 13. Februar 1547 an Farel. CR 12, 767.

[20] Vgl. FC SD II 35 (BSLK 983f).

[21] Calvin, Petit Traicté de la Saincte Cene 1541. Opera selecta (P. Barth) I, 504f. Calvin konnte daher der Formulierung der CA Variata 10 „cum pane et vino vere exhibeantur et sanguis Christi vescentibus in coena Domini“ (BSLK 65, 45f) zustimmen.

[22] Eberhard Busch, in: Idea 040/2003, 7. 4. 2003.

[23] Walter Schmithals, Sooft wir auch essen, wir werden nicht einig. FAZ Nr. 183, 9. Aug. 2003.

[24] Calvin, Antwort an François Baudoin 1562. CR 9, 576.

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©Walter Schöpsdau, Lorsch
 

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