Der erfundene Calvin

Replik auf Gerd Lüdemann (FR 10.1.09) von Achim Detmers

Es ist zutreffend, wenn der Neutestamentler Gerd Lüdemann schreibt, dass die neutestamentlichen Kommentare des Genfer Reformators Johannes Calvin auch heute noch lesenswert sind. Was Lüdemann allerdings zur geschichtlichen Einordnung Calvins schreibt, bedarf der Korrektur.

Lüdemann bezeichnet Calvin, dessen 500. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, als arglistigen Zeloten, der seine Gegner mir "rasender Wut", gnadenlos und unnachgiebig als Ketzer verfolgte, dem jedes Mittel recht war, seine theologischen Gegner auszumerzen. Mit diesem Vergleich wird Lüdemann weder den Zeloten gerecht noch Calvin. Lüdemanns Sympathien für verfolgte Meinungen in der Kirchengeschichte sind bekannt. Um so erstaunlicher ist es, dass Lüdemann mit keinen Wort erwähnt, dass Calvin selbst im Schweizer Exil lebte, weil er Opfer der blutigen  Protestantenverfolgung in Frankreich war. In Genf herrschten wegen dieser Verfolgung Ausnahmezustände. Durch den Zustrom von französischen Flüchtlingen war die Genfer Einwohnerzahl von 1535 bis 1562 um das Doppelte, d.h. auf 22.000 angewachsen. Soziale Spannungen, Konkurrenz im Geschäftsleben und Verteuerung der Lebensmittel waren die Folge. Zusammen mit dem Genfer Rat versuchte Calvin, die Spannungen einzudämmen. Der Rat erließ Luxusbeschränkungen, verbot Wucherzinsen und ging gegen Trunk- und Spielsucht vor. Zudem setzte sich Calvin für Kleinkredite an Arme ein und verbesserte das Diakoniewesen. Trotzdem führte die starke Zuwanderung bei den Genfern zu einer offenen Fremdenfeindlichkeit, die auch vor Calvin nicht Halt machte. "Genf den Genfer" skandierte der ausländerfeindliche Mob in den Straßen. Bis 1555 musste der Franzose Calvin fürchten, erneut aus Genf vertrieben zu werden. Die angebliche "rigoros Sitten- und Lehrzucht" muss vor diesem Ausnahmezustand verstanden werden. Es ging in Genf ums Überleben des französischen Protestantismus, von dem 1572 im Gefolge der sog. Bartholomäusnacht 23.000 (sog. Hugenotten) hingemetzelt wurden. Das Tanzen war in Genf wie in anderen Städten schon lange vor der Reformation verboten, nicht weil man den gepflegten Tanz und Vergnügungen nicht duldete, sondern weil man mit Tanzveranstaltungen zusammen mit Alkohol schlechte Erfahrungen gemacht hatte. In der täglichen Gefahr, von den antiprotestantischen Truppen der katholischen Nachbarschaft dem Erdboden gleichgemacht zu werden, tanzte es sich schlechter als auf dem Sonnendeck der von Kurfürsten unterstützten Reformation in Deutschland.

Michael Servet wurde in der Tat in Genf hingerichtet. Und Calvin hat an dessen Verurteilung mitgewirkt. Verurteil wurde Servet aber von dem mehrheitlich mit Calvin-Gegnern besetzen Genfer Rat, nachdem zuvor Gutachten aus den benachbarten Städten eingeholt wurde. Warum Servet ausgerechnet nach Genf kam, obwohl ihn Calvin davor gewarnt hatte. Warum er die Genfer gezielt provozierte, indem er ihnen vorwarf, sie würden ein "dreiköpfiges Monster" anbeten, und indem er die Kindertaufe als eine Erfindung des Teufels bezeichnete. Warum er vor Gericht Calvins Besitz als sein Eigentum einforderte und - man höre und staune - für Calvin das Todesurteil forderte. Warum - das lässt sich nicht mehr sagen. Aber ganz offenbar konnten sich nicht einmal Calvins Gegner für den abgedrehten einstigen Günstlings des Vienner Bischofs erwärmen. Erst später nutzten sie die Verurteilung Servets, um in anonymen Schriften ihre gekränkten Eitelkeiten an Calvin abzuarbeiten.

Es ist keineswegs so, wie Lüdemann behauptet, dass Calvin und seine Nachfolger noch lange alles dafür getan haben, den Geist der Aufklärung zu unterdrücken und zu bekämpfen. Die neuere Forschung unterstreicht eher, dass es in der scharfen Analytik Calvins Geschulte waren, die den Geist der Moderne befördert haben. Es ist kein Zufall, dass sich die Aufklärung ausgerechnet in den Ländern frühzeitig und besonders entfaltete, die durch den Calvinismus geprägt waren: Frankreich, Niederlande, England. Zur Wirkungsgeschichte des Calvinismus gehört zudem die Demokratie und das Recht des einzelnen auf Widerstand, das im kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus bedeutend wurde.