'Die Zeit ist aus den Fugen'. Friedensethische Überlegungen zur Gegenwartslage

Vortrag von Marco Hofheinz


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Vom 17. Nov. 2018, in der Martin-Luther-Kirchengemeinde Hannover-Ahlem auf dem 'Ökumenischen Forum 2018' des Arbeitskreises 'Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung' der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen.

1. Zeitdiagnostisches oder: Der drohende Zerfall der Weltordnung

1989 – Ende des „Kalten Krieges“. Die Welt hält den Atem an. Für einen Moment lang scheint es so, als seien die Ziele des konziliaren Prozesses („Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“) in greifbare Nähe gerückt. „Es war, als hättʼ der Himmel / Die Erde still geküßt, / Daß sie im Blütenschimmer / Von ihm nun träumen müßtʼ.“1 Die Beendigung des Ost-West-Gegensatzes, jenes Systemantagonismus, der so lange die Nachkriegsweltordnung prägte und zur Begründung ungeheurer Rüstungsanstrengungen herhalten musste, diese Beendigung schien 1989 der Himmelskuss zu sein, den es braucht, um Visionen wahr werden zu lassen. Endlich, endlich konnte die UN-Charta nach Jahrzehnten der Blockierung durch das Veto-Recht der Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat faktisch in Kraft treten, um der Welt eine Friedensordnung zu geben und das Gewaltmonopol der UNO durchzusetzen. Die Großmächte schienen für alle Zukunft den Regeln des Völkerrechts und den Anforderungen der Charta der Vereinten Nationen unterworfen zu sein, ja sich ganz ihren Kompetenzen der Friedenssicherung und -erhaltung anzuvertrauen. Doch es kam anders.

Wie in Eichendorffs „Mondnacht“, so blieb der weltpolitische Friedenskuss ein Friedenskuss im Konjunktiv, im coniunctivus irrealis. Auf 1989 folgte der Völkermord in Ruanda. In annähernd 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu, die sich am Völkermord nicht beteiligten oder sich aktiv dagegen einsetzten. Es folgte der Balkankrieg direkt vor unserer Haustür und der Kosovokrieg mit den bis heute umstrittenen Luftangriffen der NATO, einer folgenreichen militärischen Intervention ohne UN-Mandat.

Und heute? Wir scheinen vor einer Ruinenlandschaft der zivilisatorischen Rückfälle zu stehen.2 Dem Völkerrecht geht es nicht gut: „Die Kraft des Rechts erodiert, die Empörung über Rechtsbrüche schwindet und immer mehr dominiert das Recht des Stärkeren.“3 Stefan Ulrich schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“:

„Die über sieben Jahrzehnte aufgebaute Nachkriegsordnung zerbröckelt. Die Grundsätze, für die die Vereinten Nationen stehen, werden attackiert, hinweggefegt. Die friedliche Lösung von Konflikten? Syrien zum Schutthaufen zerbombt, Jemen demoliert, der Sudan ist ein Leichenhaus, und Afghanistan sinkt zurück in die Gewalt der Taliban. Zugleich rasseln Wladimir Putin und Donald Trump [mehr oder weniger laut; M.H.] mit Atombomben […]. Das Völkerrecht als Ordnungsrahmen? Seine Paragrafen werden bis zur Unkenntlichkeit verbogen. Einige Westmächte stürzen das libysche Gaddafi-Regime ohne Mandat der Völkergemeinschaft. Putin überfällt die Ukraine, raubt die Krim. Trump wirbt für Folter als Verhörmethode. Afrikanische Staaten verlassen das Weltstrafgericht. Massenmörder wie der sudanesische Tyrann Omar al-Baschir erhalten im Ausland Staatsempfänge. Die türkische Regierung zertrampelt Menschen und Bürgerrechte. EU-Staaten missachten das Asyl- und Flüchtlingsrecht. Terrorgruppen wetteifern darum, wer die grauenhafteren Verbrechen begeht.“4

Müsste man bilanzieren, müsste man offenkundig Shakespeare (Hamlet, 1. Aufzug, 5. Szene) zitieren, wie dies bereits unser Bundespräsident und unsere Bundeskanzlerin getan haben: „Die Zeit ist aus den Fugen.“ Oder anders gesagt: „Wir basteln an Kartenhäusern, während die Erde Risse bekommt“ – frei zitiert nach Richard David Precht. An Weihnachten 2016 schrieb Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“:

„Es ist, als habe die Weltgeschichte den Weltstaubsauger eingeschaltet. Es ist, als säßen an den Reglern der Saugleistung Leute wie Erdoğan und Trump, als säßen dort die Populisten und Nationalisten, diejenigen, von denen man glaubte, dass ihre Zeit vorbei sei – und dazu, immer und immer wieder, die Terroristen. Es ist, als saugten sie die bisherigen Grundgewissheiten weg und den Boden der Gewissheiten gleich mit. Die Welt wird bodenlos. In der Türkei gibt es neue Hexenjagden. Auf den Philippinen protzt ein Präsident damit, dass er ein Mörder ist. In Deutschland wurde der Weihnachtsmarkt zum Ort des Terrors. Das sicher Geglaubte ist nicht mehr sicher. Der Glaube daran, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sich, und sei es langsam, weiterentwickeln, der Glaube an den Fortschritt der Aufklärung ist erschüttert; er hat tiefe Risse. […] Man wünscht sich daher zu Weihnachten kein neues iPhone, das einem dann die schlechten Nachrichten noch schöner präsentiert; man wünscht sich etwas anderes, etwas Großes: dass der Engel, der in der Weihnachtsgeschichte ‚Friede auf Erden‘ verheißt, vielleicht doch nicht gelogen hat; dass der finstere Lauf der Dinge angehalten wird und der Himmel zerreißt, wie in der Legende von der Heiligen Nacht.“5

2. Rechtsethische Impulse der Friedensethik Karl Barths6

Wie ist mit dieser Analyse bzw. dieser Zeitdiagnose umzugehen, die vom Zerfall der Weltordnung und nicht zuletzt einer Krise des Völkerrechts und der UNO spricht? Der Zerfall der Weltordnung geht ja gerade mit dem Verlust des Völkerrechts als Ordnungsrahmen einher.

Es ist gut und wichtig, sich in Zeiten wie diesen an andere Krisenzeiten zu erinnern. Das gehört zu einer lagebewussten Theologie. Die UNO bzw. ihr Vorläufer, der sog. Völkerbund, wurde seit ihrem/seinem Bestehen infrage gestellt. Die Zeit ihrer größten realen Infragestellung war der Zweite Weltkrieg. In dieser Zeit, genauer gesagt: am 6. Juli 1941, hielt der berühmte Schweizer Theologe Karl Barth in Gwatt bei Thun vor über 2.000 Menschen anlässlich des 650-jährigen Jubiläums des Bundesschlusses auf dem Rütli den Vortrag „Im Namen Gottes des Allmächtigen! 1291–1941“.7 Bereits wenige Tage später übrigens wurde Barths Vortrag wegen deutschfeindlicher Äußerungen verboten – vom Schweizer Bundesrat, den „Schlottertanten in Bern“,8 wie Barth sich auszudrücken beliebte. In seinem Vortrag konstatiert Barth, dass „die Schweiz durch ihre Existenz die Idee einer durch das Recht verbundenen Gemeinschaft freier Völker von freien Menschen [vertritt].“9

Besagte Idee vom Föderalismus freier Rechtsstaaten konstituiert nach Barth den Charakter der Eidgenossenschaft. Und diese Idee, die Basel auf das Engste an Königsberg heranrückt, steht im schärfsten nur denkbaren Widerspruch zur Ideologie der Achsenmächte, die Macht an die Stelle des Rechtes zu setzen. Es ist für Barths Rechts-, Friedens- und Freiheitsverständnis signifikant, dass er am Ende der Völkerbundära implizit die Kantʼsche Idee einer Staatenkonföderation unter republikanischer Verfassung10 aufgreift und die Völkerrechtsentwicklung – in der Zeit ihrer fundamentalsten Infragestellung – nicht einfach abreißen lässt. Der zweite Definitivartikel in Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) besagt ja: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein.“11

Berechtigterweise hebt der Berner Ethiker Wolfgang Lienemann einige Gemeinsamkeiten der Rechtsethik Karl Barths und der Konzeption Immanuel Kants hervor:

„Es ist kein Zufall, dass Barth zu Beginn [des Abschnittes zu Frieden und Krieg in der Ethik seiner Schöpfungslehre; M.H.] an I. Kant und B. v. Suttner erinnert, und mit Kants Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ (1795) teilt er die Überzeugung, dass es nicht (mehr) zur normalen Aufgabe eines Staates gehören kann, Kriege zu führen und vorzubereiten […], sondern alles darauf ankommt, die unerlässlichen politischen Bedingungen eines internationalen Rechtsfriedens zu schaffen […] Barth ist, mit Kant, überzeugt, dass es schlechterdings kein Recht zum Kriege (ius ad bellum) mehr geben kann und dass es deshalb allein folgerichtig ist, mit politischen und völkerrechtlichen Mitteln die Institution des Krieges in einer beharrlichen Anstrengung zu überwinden. Doch gleichzeitig kann er vor der Möglichkeit die Augen nicht verschließen, dass es um des Gottesverhältnisses willen geboten sein kann, das ‚Eigenleben‘ des Staates zu schützen – dass also im ‚Fall des äußersten Notstandes‘ eine Verteidigungsnotwendigkeit gegen einen extremen Tyrannen besteht“.12

Wenn uns zentrale rechtsethische Forderungen wie die Bindung von Gewalt an das Recht, die Verrechtlichung von Konfliktlösungsmechanismen sowie die vorrangige Option für Gewaltfreiheit bei einem Theologen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges begegnen, dann ist es Karl Barth. In der Tat erweist sich Barth als am politischen Ordnungsaspekt der Friedensethik in der Weise interessiert, dass er einer internationalen Rechts- und Friedensordnung, wie sie in der UNO-Charta vorgezeichnet ist, das Wort redet.13 Mitten im Krieg bemerkt Barth in seinem „Brief an einen amerikanischen Kirchenmann“ (1942): Der Christ wird nur in der Weise für seinen Nationalstaat eintreten,

„daß er im nationalen Staat und also in voller Berücksichtigung der recht verstandenen nationalen Interessen konsequent für die allen Staaten gemeinsame, alle Staaten miteinander verbindende Ordnung des rechten Staates eintritt. […] Er wird, so gut es ihm gegeben ist, das Seinige dazu beitragen, den nationalen Staat als rechten Staat zu erhalten und immer besser als solchen zu gestalten. Er wird darum selbstverständlich auch immer unter denen zu finden sein, die sich dafür einsetzen, auch die internationalen Beziehungen immer vollständiger auf den Boden zu stellen, auf dem nationale Staaten als rechte Staaten allein miteinander stehen können.“14

Man wird nicht nur mit gutem Recht behaupten, sondern sogar nachweisen können, dass Barth zu jeder Phase des Zweiten Weltkrieges auf die ihm sehr am Herzen liegende internationale Rechtsordnung zu sprechen kommt. Es geht Barth um die von Kant entwickelte Idee einer globalen Friedensordnung als Rechtsordnung. Es geht um Frieden durch Recht. Das Recht hat gewaltbegrenzende Funktion. Diese Funktionsbestimmung ist Stern und Kern der Idee „Frieden durch Recht“. Dabei gilt: „Recht ist als Idee universell und unersetzlich, als gelungene Praxis aber insular und prekär. Gegen das Unrecht behauptet es sich derzeit nur unter schweren Verlusten. Der Kampf ist notorisch ungleich. Recht kämpft, im Idealfall, nur mit rechtlichen Mitteln, dem Unrecht ist, im Extremfall, jedes Mittel recht.“15

An den Segnungen der Idee „Frieden durch Recht“ partizipieren wir bis heute. Es wird heute, wo die Kraft des Rechts erodiert, die Empörung über Rechtsbrüche schwindet und wo die UNO etwa durch Trump und anderen Autokraten auf diesem Planeten erneut infrage gestellt wird, umso wichtiger sein, diese Idee nicht fallen zu lassen. Es geht darum, das Völkerrecht und die UNO zu stärken, so dass sie ihre Kompetenz der Friedenssicherung und -erhaltung erweitern und stärken kann. Oftmals hört man dieser Tage: Europa müsse übernehmen,16 nach dem die USA ihre Führungsrolle abgegeben hätten.17 Es geht aber weder um die Führungsrolle der USA noch um die Europas, sondern es geht einzig und allein um die Führungsrolle des Rechts.

Es geht um die Herrschaft des Rechts, weil es um einen Frieden und zwar einen gerechten Frieden durch Recht geht. Insofern das europäische Projekt darauf bezogen ist, ist sein Scheitern katastrophal.18 Darum haben sich auch die Großmächte den Regeln des Völkerrechts und den Anforderungen der Charta der Vereinten Nationen zu unterwerfen. Eine Schwächung der UNO und der von ihr organisierten multilateralen Konfliktbearbeitung, wie sie durch den Unilateralismus und Isolationismus ihrer mächtigsten Mitgliedsstaaten erfolgt, untergräbt den Primat eines Aufbaus einer internationalen Friedensordnung als globaler Rechtsordnung, die Barth als Annäherung an den wahren Frieden Gottes bezeichnet hat.

Während seiner USA-Reise besuchte Barth am 24. Mai 1962 auch die UNO in New York und sagte gegenüber Reportern aus, dass diese internationale Organisation „ein irdisches Gleichnis des Himmelreiches“19 sein könne. „Jedenfalls (aber)“, fügte er hinzu, „wird der wahre Friede nicht hier gemacht – obgleich (das, was hier geschieht,) einer Annäherung an ihn dienen kann –, sondern von Gott selber am Ende aller Dinge.“20 Der rechte bzw. gerechte Frieden, den sich Barth als friedensethischen Leitbegriff zu etablieren bemühte, ist als eine solche Annäherung, als ein solches Reich-Gottes-Gleichnis in der Profanität zu verstehen, dem eine besondere Affinität zur Evangeliumsverkündigung zukommt.

3. „Eine himmlische UNO“. Die Friedensvision des Jesaja als Rechtsvision

Vor der UNO in New York ist bekanntlich ein Denkmal (im Jahr 1959) aufgestellt worden, dessen schon Barth bei seinem Besuch im Jahr 1962 ansichtig wurde. Es handelt sich um ein Geschenk der Sowjetunion, eine Bronzeskulptur, welche in der Manier des sozialistischen Realismus einen Mann darstellt, der unter gewaltigen Hammerschlägen das Umschmieden eines Schwertes in Angriff nimmt und damit die prophetische Vision aus Jes 2,2–5 zu realisieren beginnt. Wir alle kennen das Motiv der „Schwerter zu Flugscharen“, das zum Slogan der kirchlichen und politischen Friedensbewegung in Ost- und Westdeutschland gegen die Aufrüstung Europas mit atomaren Mittelstreckenraketen in den 1980er Jahren wurde. Weit weniger bekannt ist der Rechtsbezug, den die Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion aufweist. Wir sind es nämlich immer noch gewohnt, den Vers 4 bei Jesaja im Sinne der Lutherbibel als Gericht unter den Heiden und als Bestrafung der Völker zu verstehen. Nach dieser Lesart besagt die Vision Jesajas:

„Die Heiden kommen nach Jerusalem, um über Gottes Wege belehrt zu werden, d.h. über die von Gott geforderten Verhaltensweisen, wie sie in dem Gesetz, d.h. dem mosaischen Gesetz, niedergelegt sind. Darauf wird Gott die Heiden einem strafenden Völkergericht unterziehen. Es geht also nicht um irgendeine Art von göttlicher Mediation, sondern um den Vorgang einer Bekehrung und Bestrafung der Völker. Und nur weil die Heiden sich zum Judentum bzw. Christentum bekehrt und das göttliche Gericht erfahren haben, sind sie bereit, auf Waffen zu verzichten.“21

Dieses Textverständnis stößt – wie 2011 der Münsteraner Alttestamentler Rainer Albertz gezeigt hat – auf erhebliche philologische Schwierigkeiten. Die hebräische Wendung wešāfaṭ bēn haggōjīm heißt nicht etwa: „Er (JHWH) wird richten die Heiden“, sondern „er wird Recht sprechen zwischen den Völkern“. Das heißt, es geht nicht um ein göttliches Strafgericht an den Heiden, sondern um ein göttliches Schiedsgericht zwischen den Völkern, „um einen rechtlichen Ausgleich zwischen den Völkern, der auch durch Einsatz pädagogischer Mittel erreicht werden kann. Damit hat unser prophetischer Text in der Tat mit Mediation zu tun.“22

„Das Partizip des zweiten in V. 4 benutzten Verbs (jākaḥ hi.) heißt regelrecht Schiedsrichter (mōkiăḥ, Hi 9,33). Dann ist aber tōrā nicht das mosaische Gesetz, sondern konkret die Weisung, die Rechtsbelehrung, die die Völker vom Gott des Zions – wohl vermittelt durch die Propheten – zur Schlichtung ihrer Konflikte erwarteten, und der Weg Jahwes ist die neue Möglichkeit der Konfliktschlichtung, die Gott ihnen eröffnet.“23

Albertz hebt treffend die Nähe zum paulinischen Zeugnis vom Frieden und der Versöhnung in Christus, insbesondere mit Verweis auf den „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,18) und die Versöhnungsbitte, hervor: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2Kor 5,20).24 Die Aussage ist in Jes 2,2–5 also folgende: Weil Gott auf dem Zion zwischen Völkern Recht spricht und so ihre Konflikte schlichtet, können sie auf ihre Waffen verzichten. Albertz schreibt:

„[I]n einer fernen Zukunft [wird] der Zion, der Jerusalemer Tempelberg, zum höchsten Berg der Region erhöht werden. Dann werden alle Völker zu diesem weithin sichtbaren Markierungspunkt der Welt herbeiströmen, um sich dort ihre Konflikte schlichten zu lassen. Und dabei üben die konfliktschlichtenden Weisungen des dort anwesenden Gottes eine solche Attraktivität aus, dass die Völker freiwillig kommen und die göttlichen Schiedssprüche wie selbstverständlich akzeptieren. Darum werden sie – nach Hause zurückgekehrt – selber ihre überflüssig gewordenen Waffen zerstören und die in ihnen gebundenen Rohstoffe in nützlicheres Ackergerät umwandeln. So wird die kriegerische Austragung der Konflikte aufhören und das Kriegshandwerk vergessen werden wie andere überflüssig gewordene Kulturtechniken auch. Der Text handelt also in der Tat von einer wunderbaren göttlichen Friedensvermittlung, einer Art himmlischer UNO in Jerusalem, die mit ihrer gelingenden Mediation alle Schwierigkeiten und Misserfolge unserer irdischen UNO weit hinter sich lässt.“25

Das unterlegte Rechtsverständnis ist dabei orientiert

„an der typisch zivilen Rechtsprechung im Israel der vorstaatlichen und frühen staatlichen Zeit, dem sog. ‚Torgericht‘. Auf die Klage eines Geschädigten trafen hier die sich streitenden Familien im Tor der Ortschaft zusammen und die als Richter fungierenden Ältesten fällten nach Anhörung der Parteien einen Schiedsspruch, bei dem es sich mehr um einen Streitbeendigungsvorschlag handelte, der auf die Akzeptanz durch die Betroffenen angewiesen war. Auch hier verfügten die Richter über keine Zwangsmittel, ihr Urteil durchzusetzen. Seine Geltung beruhte auf der Güte des gefundenen rechtlichen Ausgleichs, der Autorität der Richter und dem Gruppendruck der Öffentlichkeit.“26

4. Prophetische Vision – heute!

Worin liegt die besondere Valenz dieser prophetischen Vision für uns heute?27 Wir Menschen brauchen Visionen: „Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde“, heißt es in Spr 29,18. Wir leben in einer Zeit des Aufblähens von sog. Retropien. Retropien sind rückwärtsgewandte Utopien: „Wie schön war es früher“.28 Um ein Klischee aufzuwärmen: Wie schön war es noch in den 1950er Jahren. Es gab „keine Experimente“ – außer Adenauer. Der Vater hatte in der Familie noch das Sagen und die Gewalt in der Schule ging noch vom stockschwingenden Lehrer aus. Es gab noch rot-weiß karierte Tischdecken mit glücklichen Kindern mit roten Wangen, die aussahen wie der pauschbackige Junge auf der Brandt-Zwieback-Packung. In diese Zeit der 1950er Jahre wünschen sich nicht wenige Menschen zurück.

Es kommt darauf an, an welchen Utopien wir uns orientieren, auch und gerade friedenspolitisch. Zu den Mythen der Menschheit gehört die Vorstellung, dass aus dem Chaos eine neue Ordnung hervorgeht.29 Wir müssen indes nicht erst durch eine Phase gehen, in der diese rückwärtsgewandten Utopien des Nationalismus, Isolationismus und des Protektionismus scheitern, bis wir begreifen, dass dort nicht die Zukunft liegen kann. Wir sollten deshalb keine falschen Hoffnungen wecken und keine Negativutopien befeuern.

Wie anders lautet hingegen die positive Utopie in Jes 2,2–5!30 Es handelt sich um einen prophetischen Gegenentwurf zu einer Welt sich bekriegender Mächte, in der es um menschliche Machtentfaltung geht. In dieser Vision lässt sich Gott eben nicht machtpolitisch vereinnahmen. Er spricht über alle Völker Recht und wird so von allen Machtansprüchen seines eigenen Volkes getrennt und von allen Völkern anerkannt.

Wir benötigen diese prophetische Vision, dass die Konflikte der Völker geschlichtet werden können und sie freiwillig auf ihre Waffen verzichten. Das generelle Gewaltverbot in Art. 2,4 der UN-Charta geht, wenn auch nicht vom Waffen-, so doch von einem freiwilligen Gewaltverzicht aus.31 Eine gewisse Nähe zur biblischen Tradition ist hier unverkennbar. Wichtig scheint mir auch der biblische Realismus zu sein, „dass diese große biblische Vision eines universalen Friedensreiches durchaus damit rechnet, dass es noch Konflikte zwischen den Völkern gibt und weiter geben wird, nur ihre militärische Austragung wird aufhören.“32

Wir benötigen solche Visionen, um auf gute Ideen zu kommen, um Orientierung zu erhalten. Politik benötigt Maßstäbe. Es braucht ein Mehr als das Diesseits, es braucht ein noch Ausstehendes, damit wir uns nicht einfach mit dem Diesseits und den bestehenden Verhältnissen abfinden, sondern weit die Flügel ausspannen und auf das Größere hoffen. „Weil das, was ist, nicht alles ist, kann das, was ist, sich ändern.“33 Es ist geradezu revolutionär, daran zu glauben und darauf zu vertrauen, dass das Schönste eben noch kommt.34

Und wir benötigen diese prophetische Vision schließlich auch, um nicht zu resignieren und zwar in solchen Zeiten, von denen gilt, wie Jean-Paul Sartre einst formulierte: „Vielleicht gibt es eine schönere Zeit, aber diese Zeit ist unsere Zeit!“35 Es liegt indes nicht an uns, diese prophetische Vision wahr werden zu lassen. Es ist vielmehr Gott, der schlichtend und friedensstiftend handelt und der damit selbst die Vision realisiert, die heute noch in weiter Ferne liegen mag. Bei dieser Vision geht es also um eine Verheißung. Gerade aber weil Gott für diese Verheißung eintritt und sie wahrmacht, dürfen wir heute schon einstimmen in sein in der Vollendung noch ausstehendes Friedenshandeln.36 Wir dürfen uns heute auf den Weg machen, den es eröffnet. Bonhoeffer schreibt: „Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“37 Gott lässt seine Welt nicht den Bach runtergehen. Dafür steht die prophetische Vision.

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1  Joseph von Eichendorff, Mondnacht, in: Dietrich Bode (Hg.), Deutsche Gedichte. Eine Anthologie, Stuttgart 2011, (163f.) 163. Joseph von Eichendorff, Mondnacht, in: Dietrich Bode (Hg.), Deutsche Gedichte. Eine Anthologie, Stuttgart 2011, (163f.) 163.

2 Vgl. bereits Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralische Krise der Gegenwart, übers. v. Wolfgang Rhiel, Frankfurt a.M. 21997, 13–18.

3 Andreas Zielcke, Gleicher als gleich, SZ vom 14.06.2018, 9.

4 Stefan Ulrich, Chaos und Ordnung, SZ vom 7./8.01.2017, 4 https://www.sueddeutsche.de/politik/internationale-beziehungen-wird-aus-dem-chaos-eine-neue-ordnung-hervorgehen-1.3322456 (abgerufen: 28.11.2018).

5 Heribert Prantl, Reiß den Himmel auf, SZ vom 23.12.2016, 4, https://www.sueddeutsche.de/politik/welt-reiss-die-himmel-auf-1.3308177 (abgerufen: 28.11.2018).

6 Vgl. dazu im Einzelnen: Marco Hofheinz, „Er ist unser Friede“. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, Forschungen zur Systematischen und Ökumenischen Theologie 144, Göttingen 2014. Fernerhin: Marco Hofheinz, Die Aktualität der Friedensethik Karl Barths, in: Matthias Freudenberg / Georg Plasger (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge zur achten Emder Tagung der Gesellschaft für reformierten Protestantismus, Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 14, Neukirchen-Vluyn 2011, 157–165.

7 Vgl. zum zeitgeschichtlichen Hintergrund Eberhard Busch (Hg.), Die Akte Karl Barth. Zensur und Überwachung im Namen der Schweizer Neutralität 1938–1945, Zürich 2008, 219–255; Ders., Der Theologe Karl Barth und die Politik des Schweizer Bundesrats. Eine Darstellung anhand von unveröffentlichten Akten der Schweizer Behörden, EvTh 59 (1999), (172–186) 179–182.

8 Karl Barth, Offene Briefe 1935–1942, hg. v. Diether Koch, Karl Barth GA V. Briefe, Zürich 2001, 277 (Brief vom 04.08.1941 an R. Schwarz / R. Poyda).

9 Karl Barth, Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zürich 31985, 209 (Im Namen Gottes des Allmächtigen, Juni 1941). Wolfgang Lienemann (Karl Barth 1886–1968, in: Ders. / Frank Mathwig [Hg.], Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, [33–56] 43) beobachtet, dass die Formel „Idee einer durch das Recht verbundenen Gemeinschaft freier Völker von freien Menschen“ exakt die Essenz von Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) zusammenfasst.

10 Zur republikanischen Verfassung vgl. den „Ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden“, in: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), BA 20 (Werke, ed. Weischedel IX, 204).

11 I. Kant, Zum ewigen Frieden (1795), BA 30 (Werke, ed. Weischedel IX, 208).

12 W. Lienemann, Karl Barth (1886–1968), 52.

13 Vgl. Heino Falcke, Aspekte der gegenwärtigen Friedensdiskussion beleuchtet durch Karl Barths Friedensethik, ZDTh 12 (1996), (175–191) 177; Ders., Der prekäre Grenzfall. Überlegungen im Anschluß an Karl Barth, in: Michael Beintker u.a. (Hg.), Wege zum Einverständnis. FS Chr. Demke, Leipzig 1997, (31–41) 36f.

14 K. Barth, Offene Briefe 1935–1942, 372 (Brief an einen amerikanischen Kirchenmann, Oktober 1942).

15 Andreas Zielcke, Triumph über die Humanität, SZ vom 18.12.2014, 11. Treffend führt Zielcke aus: „Das Recht hat seine Systematik und Gesetzgebungskunst in den Nationalstaaten entwickelt. Internationales Recht ist demgegenüber nur schwach institutionalisiert, von der mangelhaften Durchsetzbarkeit gar nicht zu reden. Hinter der transnationalen Entfaltung der Ökonomie und Technologie hinkt es hilflos zurück. Hier kämpft weniger Recht gegen Unrecht als vielmehr Recht gegen Rechtsleere.“ Ebd.

16 Vgl. u.a. Michael Steiner, Ein Rezept gegen Trump, SZ vom 08.01.2018, 2, https://www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-rezept-gegen-trump-co-1.3815691 (abgerufen: 28.11.2018); James Bindenagel, Neue Weltordnung, SZ vom 07.02.2018, 2,  https://www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-neue-weltordnung-1.3855902 (abgerufen: 28.11.2018).

17 Vgl. Stefan Kornelius, Amerikas Abschied, SZ vom 26.09.2018, 4, https://www.sueddeutsche.de/politik/vereinte-nationen-amerikas-abschied-1.4143958 (abgerufen 28.11.2018).

18 Vgl. Jürgen Habermas, Unsere große Selbsttäuschung. Ein Plädoyer gegen den Rückzug hinter nationale Grenzen, Blätter für deutsche und internationale Politik 8 (2018), 91–96.

19 Karl barth, Gespräche 1959–1962, hg. v. Eberhard Busch, Karl Barth GA IV. Gespräche, Zürich 1995, 334 (Interview in der UNO, 1962).

20 Ebd.

21 Rainer Albertz, Eine himmlische UNO. Religiös fundierte Friedensvermittlung nach Jes 2,2–5, in: Gerd Althoff (Hg.), Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011, (37–56) 39.

22 A.a.O., 40.

23 R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu den Themen des konziliaren Prozesses, Stuttgart 1990, 127.

24 Vgl. R. Albertz, Schalom und Versöhnung. Alttestamentliche Kriegs- und Friedenstraditionen, ThPr 18 (1983), (16–29) 28.

25 R. Albertz, Eine himmlische UNO, 41f.

26 A.a.O., 50f.

27  Vgl. Marco Hofheinz, „Dreinreden“ – Explorationen zur ethischen Valenz prophetischer Rede, in: Ders. u.a. (Hg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Studien zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, 127–184.

28 Vgl. zum Folgenden: Richard David Precht, Auf dem Weg nach Retropia, Handelsblatt Magazin vom 05.03.2017, https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/lifestyle/kolumne-von-richard-david-precht-auf-dem-weg-nach-retropia/19427278.html (abgerufen: 01.11.2018).

29 So S. Ulrich, Chaos und Ordnung, 4.

30 R. Albertz (Eine himmlische UNO, 48f.) macht geltend, dass die prophetische Vision post-staatlicher Natur ist: „Erst die Einwohner Jerusalems, welche nach dem Untergang des eigenen Staates vom Propheten gelernt haben, ein soziales und gerechtes substaatliches Gemeinwesen aufzubauen, sind zu einer gerechten und damit wirklich Frieden stiftenden Konfliktschlichtung in der Lage. Konzeptionell ist damit die ‚himmlische UNO‘ von Jes 2,2–5 post-staatlich. Sie setzt die Erfahrung, dass der eigene Staat aufgrund von militärischer Hybris und sozialem Unrecht zusammengebrochen ist, voraus, und liegt jenseits der etablierten Herrschaftssysteme.“

31 Vgl. Frank Crüsemann, Maßstab: Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, Gütersloh 2003, 135: „So wie im Inneren eines funktionierenden Rechtssystems die Menschen auf das Tragen von Waffen zu ihrem Schutz verzichten können und dann auch sollen, so wird die Folge des weltweiten – darauf zielt das ‚bis zu den Fernsten‘ – Völkerfriedens durch Rechtsprechung sein, dass Waffen nicht mehr gebraucht werden und die jungen Männer nicht weiter in jeder Generation das Handwerk des Tötens lernen müssen.“

32  R. Albertz, Der Mensch als Hüter, 128.

33 Diese Formulierung verdanke ich Jürgen Ebach, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Biblischer Aufruf zur Gewalt?, Vortrag auf der Reformierten Konferenz Südwestfalen am 02.03.2002 in Siegen-Eiserfeld. So Ebach in Abwandlung eines Zitats von Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Gesammelte Schriften 6, hg. v. Gretel Adorno / Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1973, 391: „Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“

34 Vgl. Marco Hofheinz, „Das Reich, in dem wir Bürger sind, ist in den Himmeln“ (Phil 3,20a). Predigt am 24.09.2017 (Wahlsonntag), http://www.reformiert-info.de/18396-0-8-1.html (abgerufen: 1.11.2018).

35 Zit. nach H. Prantl, Reiß den Himmel auf, 4.

36 Treffend Frank Crüsemann, Frieden durch Recht in biblischer Perspektive, in: Sarah Jäger (Hg.), Recht in der Bibel und in kirchlichen Traditionen, Frieden und Recht 1, Wiesbaden 2018, (15–44) 39: „Es geht […] um die Praxis der Gegenwart. Die Verheißung hat also direkte Folgen: im Lichte respektive im Namen des Gottes, dessen weltweiten Frieden durch Recht man erhofft, kann man heute schon leben. Viel liegt deshalb auf der richtigen Bestimmung von ‚schon‘ und ‚noch nicht‘. Dass die Vorausnahme des Erwarteten bereits die Gegenwart bestimmen kann und soll, ist das Grundmuster des christlichen Glaubens und die ethische Kernproblematik des gerechten Friedens.“

37 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Chr. Gremmels u.a., DBW 8, Gütersloh 1998, 36.


Marco Hofheinz