Interview mit Johannes Calvin (1509-1564)

von Angelika Röske


François-Séraphin Delpech: Porträt von Johannes Calvin (1834, bearbeitet) © Wikicommons/Pixabay/RB

"Gott wird seine Kirche erhalten. Er wird die Glieder durch seinen Geist vereinen und niemals das Gedächtnis seines Namens und dessen Anrufung untergehen lassen."

Röske: Herr Calvin, vielen Dank, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben hier für ein Interview zur Verfügung zu stehen. Ihr Wirken hat weltweite Bedeutung erlangt, dennoch sind Sie als Mensch wenig bekannt. Bitte sagen Sie uns doch zunächst etwas zu Ihrer Person.

Calvin: Frau Röske, ich stehe nicht gerne als Person im Vordergrund. Ich bin Diener am Wort Gottes. Ich danke zuallererst Gott, dass er mich aus dem Abgrund des Götzendienstes, in dem ich steckte, herausgezogen hat und mich an seiner rettenden Lehre teilhaben ließ, dass er so barmherzig ist, dass er mich getragen hat mit allen meinen Fehlern und Schwachheiten und mir so gnädig war, dass er mich und meine Arbeit zur Förderung und Verkündigung der Wahrheit seines Evangeliums brauchte.

Ich danke meinen Freunden, dass sie meine Schwächen ertragen haben, und ich bitte, dass man mir das Schlechte verzeiht. Alles was ich getan habe, ist im Grunde nichts wert. Ich habe das Gute gewollt, die Wurzel der Gottesfurcht war in meinem Herzen und wenn es etwas Gutes gegeben hat, so möge man sich danach richten. Wichtig ist mir, dass es untereinander keinen Streit und keine bösen Worte gibt.

Röske: Ich höre aus Ihren Worten, dass Sie in Ihrem Leben ganz auf den Dienst für Gott und Ihre Mitmenschen ausgerichtet waren. Ihre Arbeit verstehen Sie als Berufung...

Calvin: ... ja und unser Fuß muss fest auf Erden stehen, denn dies ist doch die Stätte, auf der wir nach Gottes Anordnung eine Zeitlang weilen, wenn auch unser ewiges Erbteil im Himmel ist und wir uns darauf richten sollen. Der Christenmensch muss so beschaffen und so zubereitet sein, dass er bedenkt: Ich habe es in meinem ganzen Leben mit Gott zu tun.

Röske: Auch wenn es Ihnen vielleicht unangenehm ist, ich komme nochmal zurück auf Sie als Person. Wenn Sie bitte doch unseren Leserinnen und Lesern etwas zu Ihrem Lebensverlauf und Ihrer Familie sagen.

Calvin: Ja, aber nur kurz. Ich komme aus Noyon, Nordfrankreich, wurde dort 1509, Sie erwähnten schon am 10. Juli geboren. Ich bin das vierte von sechs Kindern. Mein Vater Gerard Cauvin war Finanzverwalter und Sekretär des Bischofs von Noyon und sorgte früh für meine finanzielle Absicherung und berufliche Ausbildung. Meine Mutter Jeanne Lefranc starb, als ich noch Kind war. Ich habe dann in Paris und Orleans Jura studiert und mich sehr für Theologie interessiert.

1533 musste ich aus Paris fliehen, weil ich mich der Reformation angeschlossen habe. Danach war ich fast ausschließlich im Exil, Flüchtling, Ausländer. Ich habe vor allem in Straßburg und in Genf an der Gestaltung der protestantischen Gemeinden mitgewirkt und viele Schriften veröffentlicht. In Straßburg heiratete ich 1540 Idelette de Bure. 1541 zogen wir wieder nach Genf. Unser Sohn Jacques starb bereits in seinem ersten Lebensjahr 1542, meine Frau starb 1549. Sie war mir die beste Lebensgefährtin.

Ich habe mich weiter um die beiden Kinder gekümmert, die sie mit in die Ehe gebracht hatte. Nur wenige Jahre vor meinem Tod 1564  wurde ich in Genf eingebürgert. Sie werden mein Grab nicht auf dem Genfer Friedhof finden. Ich will keinen Personenkult um mich. Deshalb lehne ich es auch ab, den von mir geprägten Protestantismus “Calvinismus” zu nennen. Von “Reformierten” zu sprechen halte ich dagegen für sinnvoll, da es darauf hinweist, dass wir uns als Kirche täglich neu zu “reformieren”, ständig neu nach dem Wort Gottes auszurichten haben.

Röske: Sie haben hauptsächlich im französischen und schweizerischen Raum gewirkt und den Protestantismus weltweit beeinflusst. Wo sehen Sie Ihre Verbindungen zu Deutschland?

Calvin: Zunächst einmal habe ich die Schriften Dr. Martin Luthers gelesen und wurde von ihm geprägt. Ich schätze ihn sehr und stimme in den meisten Aussagen mit seiner Auslegung der Heiligen Schrift überein. Ich bin zu mehreren Religionsgesprächen nach Deutschland gereist und habe mich für die Einheit der Protestanten eingesetzt. Ich war mit Philipp Melanchton, dem engsten Mitarbeiter Luthers befreundet. Die Reformation in Deutschland wurde damals von den Landesfürsten unterstützt. Wir Reformierten lebten als Flüchtlinge oder durch diese Situation Geprägte. Es gibt auch in Deutschland damals wie heute reformierten Protestantismus.

Röske: Worin sehen Sie besondere Kennzeichen reformierten Glaubens?

Calvin: Ein Kennzeichen ist unsere Auffassung: es gibt keinen Bereich in unserem Leben, der nichts mit Gott zu tun hat. Hauptziel unseres Lebens ist es, Gott unseren Schöpfer zu erkennen. Das können wir nur in dem Maße, wie Gott sich selbst uns zu erkennen gibt. Je mehr wir von Gott erkennen, umso mehr erkennen wir Menschen uns selbst. Wo Gott erkannt wird, da wird auch Menschlichkeit gepflegt. In der Schöpfung leuchtet uns Gottes Herrlichkeit. Jesus Christus ist der Spiegel und das Modell der Güte Gottes. Unser Leben möge wiederum der Verherrlichung Gottes dienen.

So ist ein zweites Kennzeichen: Wir geben in unserem Leben allein Gott die Ehre. Zum dritten betonen wir die Einheit der Heiligen Schrift. Gott ist nicht einmal so und dann so, es ist der eine Gott sowohl der alttestamentlichen wie neutestamentlichen Schriften. Ein viertes Kennzeichen ist die Gestaltung unseres Gemeindelebens. Dies möchte ich in einem Satz zum Ausdruck bringen: in der Vielfalt der versammelten Gemeinde, jede und jeder ist Ebenbild Gottes, spiegelt sich die Vielfalt Gottes. Die Gemeindeleitung liegt kollegial in den Händen der Presbyter und Pfarrer - ... heute auch Presbyterinnen und Pfarrerinnen. Als fünftes Kennzeichen nenne ich, dass wir Gott vertrauen dürfen, dass wir Erben des Himmels sind und als Gottes Eigentum ihm leben und sterben. Glauben und Handeln sollen übereinstimmen.

Röske: Man hat Ihnen so manches unterstellt und angelastet ...

Calvin: ... oh ja, schon zu meinen Lebzeiten habe ich erfahren müssen, wieviel Unwahres über mich verbreitet wurde. Zu drei Dingen möchte ich mich hier äußern: Zunächst die  Sache, die mich selbst belastet. Der Arzt Michael Servet hat öffentlich die Dreieinigkeit Gottes geleugnet. Darauf stand nach europäischem Recht die Todesstrafe. Ich habe noch am Vorabend Servet im Gefängnis besucht, um ihn umzustimmen. Er ließ sich nicht umstimmen und so habe ich seine Todesstrafe als Ketzer befürwortet.

Als er hingerichtet wurde habe ich mich zu Hause verkrochen. Als zweites wirft man mir vor, herrschsüchtiger Diktator in Genf gewesen zu sein. Ich war nie Mitglied im Rat der Stadt, habe das Bürgerrecht erst fünf Jahre vor meinem Tod bekommen. Richtig ist, dass ich mich entschieden für Reformen eingesetzt habe. Das dritte ist, ich sei für die Ausbreitung des Kapitalismus verantwortlich. Dazu sage ich hier nur, ich habe immer dazu aufgerufen, dass die Reichen ihre Güter mit den Armen teilen. Reichtum ist eine Gabe Gottes, die man genießen darf und auch als solche behandeln. Es geht nicht darum, Kapital anzuhäufen, sondern es für das Wohl der Gesamtheit einzusetzen.

Röske: Herr Calvin, vieles könnten wir noch ansprechen. An dieser Stelle bedanke ich mich bei Ihnen für das Interview und möchte Ihnen noch Gelegenheit zu einem Schlusswort geben.

Calvin: Ich schließe mit einem Zitat aus meiner Auslegung von Jesaja 18,7 und es scheint mir, es passt heute genauso wie damals: “Heutzutage ist die Kirche nicht weit ab vom Verzweifeln; sie ist zersprengt, gerüttelt und geschüttelt von allen Seiten, ja ganz zerschunden und zertreten. Was soll man tun in so viel Angst und Nöten? Da heißt es, sich klammern an diese Verheißungen, auf dass wir die Gewissheit haben: Gott wird seine Kirche trotzdem erhalten. ... Er wird die Glieder durch seinen Geist vereinen und niemals das Gedächtnis seines Namens und dessen Anrufung untergehen lassen.”


Pfr. Angelika Röske