Kinder in der Bibel II: Jephtas Tochter

Predigt zu Richter 11,29-40 von Martin Filitz

"er biblische Erzähler hat noch nicht einmal einen Namen für die junge Frau. Sie ist und sie bleibt Jephtas Tochter. Wusste der biblische Erzähler ihren Namen nicht? Oder wollte er ihn bewußt nicht nennen? Als Georg Friedrich Händel im Jahre 1751 sein letztes Oratorium „Jephtah“ schrieb, da gab sein Textdichter, der Pastor Thomas Morell, dem Mädchen einen Namen. Bei ihm heißt sie Iphis. Und man wird nicht fehl gehen, wenn man hier einen Anklang an die antike Erzählung von der Iphigenie denkt, die geopfert werden musste, damit die Winde günstig waren und die Griechen nach Troja segeln konnten.

Predigt in der Reihe „Kinder in der Bibel“, Februar 2012, Ev.-ref. Domgemeinde Halle

Jiftachs Gelübde und sein Sieg über die Ammoniter

29Und der Geist des HERRN war auf Jiftach, und er zog durch das Gilead und durch Manasse, und er zog durch Mizpe im Gilead, und von Mizpe im Gilead zog er hinüber zu den Ammonitern. 30Und Jiftach legte dem HERRN ein Gelübde ab und sprach: Wenn du die Ammoniter wirklich in meine Hand gibst, 31so soll, wer herauskommt, wer aus der Tür meines Hauses heraus mir entgegenkommt, wenn ich wohlbehalten zurückkehre von den Ammonitern, dem HERRN gehören: Ich will ihn als Brandopfer darbringen. 32Dann zog Jiftach gegen die Ammoniter, um gegen sie zu kämpfen, und der HERR gab sie in seine Hand. 33Und er brachte ihnen eine sehr schwere Niederlage bei, von Aroer an bis dorthin, wo man nach Minnit kommt, zwanzig Städte, und bis nach Abel-Keramim. So wurden die Ammoniter von den Israeliten gedemütigt.
34Und Jiftach kam nach Mizpa zu seinem Haus, und sieh, da kam seine Tochter heraus, ihm entgegen, mit Trommeln und im Reigentanz. Und sie war sein einziges Kind; ausser ihm hatte er weder Sohn noch Tochter. 35Und als er sie sah, zerriss er seine Kleider und sprach: Ach, meine Tochter! Du hast mich tief gebeugt! Du gehörst zu denen, die mich ins Unglück stürzen! Ich habe dem HERRN gegenüber meinen Mund aufgerissen und kann nicht zurück. 36Sie aber sprach zu ihm: Mein Vater, du hast dem HERRN gegenüber deinen Mund aufgerissen, mach mit mir, wie dein Mund es gesagt hat, nachdem der HERR dir Rache verschafft hat an deinen Feinden, den Ammonitern. 37Und sie sagte zu ihrem Vater: Dies sei mir vergönnt: Lass mir zwei Monate, und ich will weggehen und hinab in die Berge gehen und über meine Jungfräulichkeit weinen, ich mit meinen Freundinnen. 38Und er sprach: Geh! Und er entliess sie für zwei Monate. Und sie ging mit ihren Freundinnen und weinte auf den Bergen über ihre Jungfräulichkeit. 39Und nach zwei Monaten kam sie zurück zu ihrem Vater, und er erfüllte an ihr sein Gelübde. Sie hatte aber mit keinem Mann verkehrt. Und das wurde Brauch in Israel: 40Jahr für Jahr gehen die Israelitinnen, um die Tochter Jiftachs, des Gileaditers, zu besingen, vier Tage im Jahr.

Richter 11,29-40

Liebe Gemeinde,
der biblische Erzähler hat noch nicht einmal einen Namen für die junge Frau. Sie ist und sie bleibt Jephtas Tochter. Wusste der biblische Erzähler ihren Namen nicht? Oder wollte er ihn bewußt nicht nennen?

Als Georg Friedrich Händel im Jahre 1751 sein letztes Oratorium „Jephtah“ schrieb, da gab sein Textdichter, der Pastor Thomas Morell, dem Mädchen einen Namen. Bei ihm heißt sie Iphis. Und man wird nicht fehl gehen, wenn man hier einen Anklang an die antike Erzählung von der Iphigenie denkt, die geopfert werden musste, damit die Winde günstig waren und die Griechen nach Troja segeln konnten.
Und in der Tat scheint es das Opfer zu sein, das beide Erzählungen miteinander verbindet. Jephta gehört zu den Richtern Israels. Diese Richter in vorstaatlicher Zeit waren weniger Menschen, die Recht zu sprechen hatten – das taten sie sicherlich auch – aber vor allem galten sie als die Heerführer, die immer dann die Soldaten aus allen Stämmen sammelte, wenn es darum ging, Israel gegen Angreifer von Außen zu schützen. Sogar eine Frau sei Richterin gewesen –  erzählt das biblische Buch der Richter – Ihr Name ist bekannt: Deborah. Eine Frau an der Spitze militärischer Aktionen, das ist überaus bemerkenswert inmitten der antiken Männergesellschaften. Georg Friedrich Händel hat auch ihr ein Oratorium gewidmet.

Der Richter ist also in diesem Zusammenhang ein Militär. Da es in Israel kein stehendes Heer gibt, muss er sich seine Leute von Fall zu Fall zusammensuchen. Das ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Auch wenn jeder israelitische Mann gezwungen werden kann, zur Verteidigung Israels zu den Waffen zu greifen, es gibt dennoch keinen gleichen Ausbildungsstand. Ein solches Heer ist wie eine Herde aufgescheuchter Kühe.

Also ist der Ausgang einer militärischen Unternehmung mit zusammengesuchten Soldaten deutlich ungewisser als militärische Unternehmungen es ohnehin schon sind. Es kommt sehr auf den jeweiligen Oberbefehlshaber, eben den Richter an. Er muss ein charismatischer Mensch sein, einer, der andere führen und begeistern kann, so wie man es Cäsar nachsagt, dem Alten Fritz und auch Napoleon Bonaparte. Jephta scheint auch ein solcher Charismatiker zu sein. Zudem weiß er, dass die Siege, die er und seine Leute errungen haben, nicht allein auf sein Konto gehen. „Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein!“ – das ist seit den Tagen des Mose der wichtigste Kriegsgrundsatz Israels. Und darin hören wir spätere schon den Versuch, die Macht und den Schrecken des Krieges deutlich zu begrenzen:

Wenn Gott streitet, dann kann der Krieg kein „totaler“ Krieg werden, schon gar kein „Vernichtungskrieg“ und erst recht kein „Kreuzzug“ gegen Moslems oder Ketzer, gegen Terroristen oder gegen wen auch immer. Und also bleibt Krieg immer militärisch riskant und moralisch anfechtbar, er bleibt die äußerste Entscheidung, nachdem alle anderen, wirklich alle Möglichkeiten, der Politik und der Diplomatie ausgeschöpft sind, die den Krieg noch hätten verhindern können.

Ganz möchte sich Jephtah aber doch nicht auf den ersten und letzten Kriegsgrundsatz Israels verlassen: „Der Herr wird für euch streiten und ihr werdet stille sein!“ Jephta möchte Einfluss nehmen,  nicht nur auf seine Soldaten – das wird er ohnehin tun, so gut es geht – er möchte auch Einfluss nehmen auf die göttlichen Entscheidungen, sein Kriegsglück betreffend.

In der Antike weiß man für gewöhnlich, was man in solchen Fällen zu tun hat: Man veranstaltet einen Gottesdienst, bei dem ein möglichst aufwendiges Opfer gebracht wird. In der Regel wird dafür ein Ochse geschlachtet. Das Fleisch wird von den Anwesenden bei einem Festmahl verzehrt, das Fett wird dem Gott als Opfer dargebracht, wobei gerade das Fett der wichtigste Teil  eines Tieres war. Das sollte Gott dargebracht werden. In der Antike mochte man Fettschwanzschafe, sie galten als Delikatesse, und man mochte es, wenn den Männern bei Essen das Fett in den Bart tropfte. Und gerade diese Delikatesse sollte Gott vorbehalten werden.

Natürlich weiß Jephta von der Wirkung eines großartigen Opfers. Aber er zahlt nicht im Vorraus: Erst die Ware, dann das Geld! Erst wenn er die Ammoniter besiegt hat, dann will der das erste, das ihm entgegenläuft, wenn er nach Hause kommt auf den Altar legen und feierlich verbrennen. Das wird nicht nur ein Trank – oder ein Fettopfer sein, es soll ein Ganzopfer werden. Bei dem alles für Gott, aber nichts für die Menschen bestimmt sein soll. Großzügig ist Jephta. Aber er will erst den Erfolg sehen, bevor er den entsprechenden Dankgottesdienst veranstaltet.

Und Jephta sieht den Erfolg, Die Ammoniter, ein kanaanäisches Volk, das östlich des Jordans siedelt und immer wieder in das Gebiet der Israeliten einfällt, sie werden vernichtend geschlagen. Das war es, was Jephta und seine Leute gewollt hatten. Jetzt konnte er unbeschwert daran gehen, den großen Dankgottesdienst vorzubereiten und das erste Lebewesen zu schlachten, das ihm bei der Rückkehr nach Hause entgegenlaufen würde.

Nicht im Traum hatte Jephtah daran gedacht, dass es ein Mensch sein könnte, ein Mädchen, seine eigene Tochter.  Jephta ist in die Falle geraten, die er sich selber gestellt hatte. Niemand hatte ihn gezwungen, ein solches ungewisses Gelübde abzulegen. Auch und schon gar nicht Gott hatte das von ihm verlangt. Das hat er ganz allein und freiwillig getan. Jephta hätte auch seinen besten Ochsen versprechen können. Aber vielleicht wollte er sich doch ein Hintertürchen offen lassen und er hatte fest damit gerechnet, dass ihm wahrscheinlich als erstes ein Huhn entgegenlaufen würde, oder bestenfalls eine Ziege, vielleicht auch ein Schaf.

Aber jetzt war es die Tochter, deren Namen wir nicht kennen. Und gesagt ist gesagt, versprochen  ist versprochen, und ein Gelübde ist ein Gelübde: gegeben, um es zu halten. Und einer, der Gelübde bricht, der kann sich weder von Gott noch vor den Menschen sehen lassen. Einer, der Gelübde bricht, der ist nichts mehr wert, auch wenn er ein geachteter Richter, ein erfolgreicher Militärkommandant oder wenn er auch Bundespräsident war.

Es gibt mehrere Geschichten in der Antike, in der Menschen in die Falle tappen, die sie selbst gestellt haben. Das Orakel von Delphi war berüchtigt für zweideutige Sprüche: So hatte Krösus, der König von Lydien wissen wollen, was geschehen würde, wenn er seine Nachbarn angriffe. Das Orakel in Gestalt der Priesterin Pythia antwortete ihm: wenn du den Fluss Halys überschreitest, dann wirst du ein großes Reich zerstören.  Krösus griff an, weil er glaubte, das Orakel auf seiner Seite zu haben. Später jedoch musste Krösus erkennen, dass es sein eigenes Reich war, das er zerstört hatte. Man nennt es „Tragik“, wenn ein Mensch Gutes will und Schlechtes dabei herauskommt, und er es nicht mehr ändern kann.

Wir modernen Menschen haben uns diese Sichtweise längst abgewöhnt. Für uns gäbe es im Falle Jephtas die Tragödie überhaupt nicht: natürlich bleibt die Tochter am Leben. Dem gegenüber ist das Gelübde zweitrangig. Und jedes Gericht würde es genau so sehen und genau so einfordern:  Das Leben eines Menschen ist das höhere Rechtsgut. Ihm gebührt unbedingter Schutz.

Das bedeutet andererseits aber auch, dass feierliche Versprechungen oder gar Eide bei uns deutlich an Gewicht verloren haben. Es ist ja auch kein Wunder: wo die Wörter überhand nehmen, wo man uns überall und mit allem möglichen zu-textet, von morgens bis abends auf allen Kanälen. Da kann das einzelne Wort nicht mehr das Gewicht haben, das ihm eigentlich zukommt.

Ein Eheversprechen hatte einmal Gewicht. Es hatte lebenslange Folgen. Manchmal ach mit schlimmen oder sogar unerträglichen Konsequenzen. Vielleicht hatte es zu viel Gewicht, um das Zusammenleben der Menschen zu fördern.

Bei Gericht ist von dem Gewicht des Wortes noch etwas zu spüren. Wer einen Meineid leistet, der riskiert eine Gefängnisstrafe von einem bis zu fünfzehn Jahren. Da die Aussage eines Zeugen vor Gericht ein Beweismittel ist, muss die absichtliche Falschaussage derart strafbewehrt sein. Wie sollte ein Gericht anders auf das Wort eines Zeugen sein Urteil stützen können?

Jephta hat sich zu entscheiden. Entscheidet er sich für das Leben seiner Tochter, dann ist er vor Gott und den Menschen ehrlos. Entscheidet er sich für sein Gelübde, stirbt seine Tochter einen qualvollen Feuertod.

Und Gott? - Er schweigt. Wenn man so will, war es Jephta, Jephta allein, der ihn in Anspruch genommen und zu-getextet hatte. Hat Gott ihn etwa zu dem Gelübde gezwungen oder nur genötigt? Hat Gott den Sieg der Israeliten an ein entsprechendes Opfer gebunden? – keine Rede davon. Auch keine Rede davon, dass Gott mit aller Macht auf der Erfüllung des Gelübdes bestehen würde.

Das hat Jephta ganz allein getan. Von sich aus hat er geredet. Von sich aus hat er Gott mit einem Gelübde behelligt, das weder gefördert noch nötig war.

Nach biblischen Maßstäben fällt Jephtas Gelübde unter das 3. Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht missbrauchen! Martin Buber übersetzt: „Trage nicht SEINEN, deines Gottes Namen auf das Wahnhafte.“ – das bedeutet: den Namen Gottes entleeren, ihn zu missbrauchen, damit ich seinen Namen nicht vor meinen Karren spanne,. Damit ich meine Interessen nicht für die seinen erkläre, als könnte ich ihn durch meine Worte binden, dass er mir etwas bestimmtes, Gutes tue.

Der Eid im Namen Gottes hat Gewicht. „Rabbi Hiskijah lehrte: Wer schwört, dass zwei zwei sind, erhält die Prügelstrafe wegen eines unnötigen Schwurs.“ (J.Petuchowski: die Stimme vom Sinai)  oder ein anderer Rabbi sagt: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht missbrauchen.“ Ehe du noch das Schwören auf dich genommen hast, bin ich dein Gott. Aber nachdem du das Schwören auf dich genommen hast, bin ich dein Richter.“ (ebd.) Achte darauf: deine Worte wiegen schwer!

Die Tochter selbst nimmt ihr Schicksal gelassen. Aber sie sagt auch, was wirklich geschehen ist: Mein Vater, du hast dem HERRN gegenüber deinen Mund aufgerissen, mach mit mir, wie dein Mund es gesagt hat, nachdem der HERR dir Rache verschafft hat an deinen Feinden, den Ammonitern. Lediglich zwei Monate Trauerzeit erbittet sie sich für sie selbst und für ihre Freundinnen, damit sie ihre Jungfernschaft betrauern kann: Sie wird sterben, ohne selbst Kinder zu haben und ohne damit auch Jephta Nachkommen zu schenken. Und das, obwohl Jephtas Tochter nichts zu dieser furchtbaren Situation beigetragen hat, auch wenn es einzig der Wahn ihres Vaters war, dass er meinte, mit Gott spielen zu können, oder noch besser: ihn durch sein wahnsinniges Gelübde an die Kette legen zu können.

Gott gegenüber den Mund aufreißen, sich großtun mit dem eigenen Gerede, vor Gott und den Menschen den großen Mann markieren, der alles in der Hand hat und der sich letztlich auch alles leisten kann?

Israels Gott lässt sich nicht vor diesen Karren spannen.

Andererseits geht es in dieser biblischen Erzählung darum, dass wir gemahnt werden, die eigenen Worte angemessen zu gewichten. Wer viel redet, muss nicht Recht haben. Wer viel redet, der Kann sich um Kopf und Kragen reden. Wer leichtfertig mit dem Schwur bei der Hand ist, gegen den kann sich der Schwur auch kehren. Er kann zum Opfer der Falle werden, die er sich selbst gestellt hat.

So ist auch Jesus kritisch gegenüber dem Schwören, gegen den leichtfertigen Umgang mit den Wörtern. Klar „Ja“ und klar „Nein“ zu sagen, das erwartet er von den Menschen, die ihm nachfolgen wollen. Daran haben wir, so denke ich, noch lange zu lernen und zu arbeiten.

Amen


Domprediger Martin Filitz, Halle, Februar 2012
Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Martin Filitz

"...wer ist dieses Kind? – die Christen haben 800 Jahre später gesagt: Dieses Kind ist das Krippenkind aus Bethlehem, der Sohn der Maria und des Joseph, über dem die Engel von dem Frieden auf Erden singen. Das ist nicht falsch – ganz im Gegenteil! Aber Jesajas Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hätten mit einer solchen Auskunft wenig anfangen können, dass das Kind erst in ferner Zukunft zur Welt kommen solle."