Pfingsten=Ostern hoch zwei

Ein Impuls von Klaus Müller


Schawuot (Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim, 1880, Ausschnitt) © Wikimedia

Von Ostern aus gesehen lautet die einfache Rechnung: Sieben mal sieben Tage und dann kommt Pfingsten. Darum: Pfingsten ist Ostern hoch zwei. Ostern in Potenz.

Das ist mehr als nur schlichte Kirchenarithmetik. Im Zentrum des kirchlichen Festkreises steckt eine tiefe Weisheit, eine Botschaft an uns heute auch in schwierigen Zeiten.

Die christlichen Festzeiten orientieren sich zunächst am jüdischen Festkreis. Der fünfzigste Tag nach Ostern beschließt die Osterzeit, analog zu den sieben mal sieben Tagen zwischen Pessach und Schavuot, also zwischen dem Fest der Befreiung aus Ägypten und dem Wochenfest zu Ehren der Gabe der Tora am Sinai. In diesem Jahr fällt das jüdische Wochenfest auf den Freitag vor Pfingsten. Schon ganz früh hat die christliche Kirche die fünfzigtägige Freudenzeit nach Ostern, die Pentekosté, als ein einziges großes Fest verstanden – beschlossen durch „Pfingsten“, den 50. Tag.

Der Pfingsttag ist also Integral des Osterfestkreises. Das Fest der Geistausgießung ist im Ursprung Mitteilung des Oster-Lebens. Geist ist die Weise, wie der Auferstandene präsent ist, wie er zu Kräften kommt in den Seinen. Kurz gesagt: Pfingsten ist potenziertes Ostern, in Kraft gesetztes Ostern, eben: Ostern in Potenz. Der Geist von Pfingsten breitet sich nicht einfach linear aus, Schritt für Schritt, er wächst dynamisch, unwiderstehlich, sagen wir: exponentiell – Gottes heilsame Dynamik gegen die lebensbedrohenden Kräfte dieser Welt.

„Am Tage, beim Vollwerden der Pentekosté, waren sie alle versammelt an einem Ort“, so beginnt die Pfingstgeschichte in Apostelgeschichte 2. Und nun geschieht Wunderbares: Auf die junge christliche Gemeinde kommt unter den Sinaizeichen des Feuers und des Donnerbrausens Gottes Geist. „Und der Berg brannte im Feuer“, heißt es in 5. Mose 4,11. Wie auch der Dornbusch – Zeichen der Gotteserscheinung. Es ist jenes Feuer, das in den Herzen der Emmausjünger brennt, als ihnen der Auferstandene die Schrift auslegt (Lukas 24). Es ist jenes Feuer, das um die Weisen des Talmud gleichsam lodert, wenn sie Gesetz, Propheten und Schriften zu einer Gedankenkette verbinden. Feuerzungen von Pfingsten.

Die Pfingstgeschichte will sagen: So wie am Sinai in einem Offenbarungsgeschehen Israel zu dem von Gott angeredeten Volk wird, so wird an Pfingsten durch die Gabe des Geistes die neue Gemeinde begründet und damit der Grundstein für eine Gemeinde aus allen Völkern gelegt. Es vollzieht sich sozusagen ein die Völkerwelt umspannendes Sinaigeschehen, ein erneuertes Bundesgeschehen, Stiftung verlässlicher Beziehung im Geist der Tora und in der Verbindlichkeit des Geistes. Wir werden eingeschworen auf die Freiheit von Ostern her wie das jüdische Volk eingeschworen wird auf die Freiheit des Exodus.

Das feiert die Kirche an Pfingsten und folgt darin dem Grundschritt jüdischen Glaubens zwischen Passa und Schavuot. Ein Siebenertanzschritt. Nicht ableitbar von irgendwelchen anderen Rationalitäten erwächst dieser Schritt aus dem Passawunder sozusagen in Potenz zur Sieben. Offenbarungszeit ist potenzierte Befreiungszeit und folgt dem Grundimpuls der Sabbatwoche „hoch zwei“. Pfingstsonntag ist sieben mal sieben Ostertage - heilige Spanne schlechthin, wie Schavuot vom Passatag aus gerechnet dem sabbatlichen Rational des Sieben mal Sieben folgt – ja, der Sabbatgedanke selbst ist der unableitbare Augenblick göttlicher Unterbrechung mitten in allen unseren Mühen, Sorgen und Ängsten.

Was die Kirche an Pfingsten feiert, ist das Empfangen von Lebensweisung in der Kraft des Geistes Gottes. Auch hier steht die Kirche in Israels Nähe. Im Bild des Weges, des Glaubens-Weges gesprochen folgt auf die Befreiung von der Knechtschaft die Klärung und die Vereinbarung: Welchen Weg gehen wir in Verantwortung vor Gottes Geboten und der Würde des Mitmenschen? Eine sehr pfingstliche Frage! Es geht um Orientierung für den Weg. Freiheit soll nicht bei der ersten Gelegenheit schon wieder verspielt werden. Die Toragabe gibt dem Exoduswunder Dauer, Kontur und: ethische Konkretion! Der Schritt vom Fest der Befreiung geht hinüber zum Fest der guten Bindung an Gottes Wort zum Wohl aller Gebundenen. Offenbarungsfest.

Und: Diese Offenbarung setzt aus sich heraus die Vielfalt, die Pluralität der Auffassungen und Diversität der Sprachen. Als sich die Jesusjüngerinnen und –jünger damals in Jerusalem versammelten an einem Ort, als sie zusammen waren am Tag 50 nach dem Osterwunder, um sich in Gebet und Gesang dem Handeln Gottes zu öffnen – als es Pfingsten wurde, war das Ideal nicht: Nun verschwinden alle Unterschiede, nun haben alle Eigenheiten ausgedient, nun werden alle Sprachen eingeschmolzen in ein megareligiöses Esperanto. Nein! Da hob die Vielfalt erst an. Und das Wunderbare bestand und besteht darin, dass sie sich in ihren Unterschieden verstehen lernten. Sie fanden Wahres in ihren Unterschieden. Die Weisen des Talmud sprechen von den 70 Gesichtern der Tora.

So wird Gemeinde. So wird Ökumene. Das Geburtstagsfest der Kirche Jesu Christi wird vielsprachig und vielfarbig gefeiert, wie die Tora Israels vielsprachig und vielfarbig ist – so erst wird es recht das Fest des Heiligen Geistes.


Pfarrer Prof. Dr. Klaus Müller, Landeskirchlicher Beauftragter für das christlich-jüdische Gespräch