Stille Nacht zu jeder Zeit

Himmlische Heere und Soldaten in einer szenischen Weihnachtspredigt - Das Weihnachtswagnis 2014 aus Göttingen

Klappbarer Weihnachtsbaum, versandt mit der Feldpost im Ersten Weltkrieg

von Michael Ebener, Pfarrer samt Konfirmandinnen und Konfirmanden

Das Jahr 2014 hat uns deutlich gezeigt, wie bedroht der Friede überall auf der Welt ist und wie schnell alle Sicherheit verfliegt, in der wir uns wähnen: Ukraine, Gaza, Syrien, IS, Boko Haram, Salafisten, Hooligans – die Aufzählung ließe sich fortführen. Dazu das Weltkriegsgedenken, das uns das erste industrialisierte Massentöten der Weltgeschichte erneut vor Augen geführt hat. Und trotzdem ist nun bald Weihnachten. Auch in diesem Jahr werden wir auf die biblische Botschaft hören, vielleicht nötiger denn je, werden familiären und gemeindlichen Bräuchen folgen und uns an diesem Fest freuen.
Wie geht das zusammen? Die Göttinger Konfirmandinnen und Konfirmanden finden im Nachklang eines gar nicht so alten Weihnachtsliedes einen Weg. Nichts wird verdeckt in der „Stillen Nacht“, alles ist da: Himmlische Heere, Soldaten und die Tageschau – aber die Engel lassen sich nicht unterkriegen…

Stille Nacht zu jeder Zeit.pdf 

Einleitung - PastorIn von der Kanzel

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Ein frohes Fest wünschen wir uns heute – fröhliche Weihnacht überall!

Und so soll, so wird es nachher auch wieder sein mit den Lieben unterm Tannenbaum, mit Geschenken und gutem Essen. Ein wenig vom festlichen Glanz der Weihnacht wollen wir in unsere Stuben leiten, ein wenig davon fassen und halten, denn es muss für lange reichen. Draußen, vor der Tür, ist es kalt …

Friedenssehnsucht ist der Weihnacht eingeboren.
Der Friede ist heute ganz wehrlos, in Windeln gewickelt, und Hirten und alle stehen anbetend, staunend davor. Denn das Jahr, an dessen Grenzen wir treten, war nicht friedlich. Die Erschütterungen dieser Welt haben uns aufgerüttelt, lassen uns besorgt zurück, auch wenn wir ihr Ausmaß wohl kaum erfassen. Schon vor den Bildern schrecken wir zurück.

Wie feiert man Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens, in einer oft wenig liebevollen, oft wenig friedvollen Welt? Diese Frage ist nicht neu!

1. Szene: Pax Romana

SprecherIn 1
Als es zum ersten Mal Weihnachten wird und ein Befehl von dem Kaiser Augustus ausgeht, herrscht Friede. Im Wortsinne! Denn ein äußerlicher Friede ist das: pax romana – Friede von Roms Gnaden! Die Weltmacht befiehlt und erobert, und wer spurt, den lässt sie in Ruhe. Römische Heere sichern dem Kaiser Einfluss und Befehlsgewalt noch im hintersten Winkel.

Soldaten gehen in Stellung, schlagen auf ihre Waffen und Rüstungen und skandieren: „Ave, Cäsar!“

SprecherIn 1
Viele Menschen haben sich längst daran gewöhnt, weil es sich so bequem leben lässt. Manche spüren aber, dass dies noch nicht ist, was sein könnte. Umso mehr spüren sie das, je mehr sie am Rand leben und sich ihren Anteil an Wohlstand und Glück immer erst erkämpfen müssen.

Da ist das junge Paar mit seinem Kind, das keinen Raum hat.
Schon in der Herberge nicht und bald nicht einmal mehr im Stall, weil die Häscher des Königs nach dem Neugeborenen suchen und es umbringen wollen.

Soldaten gehen in Stellung, schlagen auf ihre Waffen und Rüstungen und skandieren: „Ave, Cäsar!“

SprecherIn 1
Da sind die Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die auf der Nachtseite leben und allen verdächtig sind. Mit ihren Tieren scharen sie sich nun um die kleine Funzel im zugigen Stall. Wie oft sind sie in jener Nacht wohl vorher einer Patrouille ausgewichen, die ihre Papiere kontrollieren wollte?

Soldaten gehen in Stellung, schlagen auf ihre Waffen und Rüstungen und skandieren: „Ave, Cäsar!“

PastorIn von der Kanzel
Und trotz all der Parolen, trotz all der stählernen Waffen und blitzenden Heere wird über diesen Randgestalten im großen Weltgeschehen das erste Weihnachtslied gesungen.
Es schallt aus dem Himmel und ist noch auf Erden zu hören. Die Engel singen es, die Menge der himmlischen Heerscharen, bei den Hirten auf den Feldern: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens!

Reigen der „Himmlischen Heerscharen“ durch die Gemeinde, die weiß-goldene Kleidung tragen, sich an den Händen fassen und fließende Flügelschläge imitieren.

Wer dies Lied der Engel mitsingt, so wie wir es heute Abend tun, stimmt in Gottes Willen ein: Ja, Friede soll sein bei den Menschen und auf Erden, liebevolle Beziehungen!
Deshalb sind die Lieder, die wir am Weihnachtsabend mit den Engeln singen, immer auch Klagelieder über Hass und Gewalt auf Erden, über Krieg und bedrückende Nachrichten, über den Unfrieden im eigenen Herzen, über gebrochene Versprechen und Zank und Nachrede. An Weihnachten spüren wir deutlicher als uns lieb ist, wo etwas kaputt oder unecht ist im Großen und im Kleinen. Die Weihnachtsbotschaft und die „echten“ Weihnachtslieder beschönigen nicht, beschönigen nichts und gerade deshalb haben sie Kraft!

2. Szene: Stille Nacht, heilige Nacht

SprecherIn 2
Oberndorf 1818.
Ein kleiner verarmter Markt im Salzburger Hinterland, in dem vor allem Schiffleute und Flößer leben. Es ist Heiligabend. In der Kirche St. Nikola hat die Orgel ihren Dienst versagt. Die Pfeifen sind verrostet und der Blasebalg ist von Mäusen durchfressen.

Orgel macht unharmonische Quäkgeräusche.

SprecherIn 2
Und das am 24. Dezember! Das geht doch nicht: Weihnacht ohne Musik und Liedbegleitung!
Schon gar nicht in diesen Krisenzeiten.

Soldaten gehen in Stellung, schultert ihre Gewehre, recken die Säbel und skandieren: „Vive le général!“

SprecherIn 2
Der Krieg ist gerade vorbei. Napoleon und seine Armeen haben alles verwüstet. Sogar das kulturelle Zentrum Salzburg liegt am Boden – wie schlimm kann es denn noch werden?
Am Vormittag des 24. Dezember 1818 überreicht der Hilfspriester Joseph Mohr seinem Mitstreiter vor Ort, dem Schullehrer und Aushilfsorganisten, Franz Gruber, ein kleines Gedicht: Sechs Strophen nur, die er schon zwei Jahre zuvor niedergeschrieben hatte, als die Truppen noch durch das Land zogen.

Soldaten gehen in Stellung, schultert ihre Gewehre, recken die Säbel und skandieren: „Vive le général!“

Joseph setzt sich zu Franz und zeigt ihm sein Werk (Autograph des Liedes auf Wikipedia) – ein kleiner Dialog unterm Tannenbaum:


Joseph:
„Franz, komponier mir dazu eine einfache Melodie. Nur zwei Gesangsstimmen, du kannst sowas!“
Franz: „Und wer soll uns begleiten? Du weißt doch, die Orgel ist kaputt.“ – Orgel quäkt.

Joseph: „Ich spiele Gitarre dazu. Aber mach‘ schnell, bis heute Abend, danach schlaf meinetwegen in himmlischer Ruh!“
Franz: „Das muss nicht sein, mein Lieber: Christ, der Retter ist da lese ich hier – das macht uns munter, weil doch noch Hoffnung ist, dass alles gut wird, irgendwann.“
Joseph: Nicht „irgendwann“ – heute Abend, heute Nacht fängt’s an, mein Freund, und gar nicht still!“

PastorIn von der Kanzel
Und so wird das Lied geboren, das der weihnachtlichen Friedenssehnsucht seitdem Töne und Worte gibt. In bitterer Armut, am Rande des Weltgeschehens, in wenigen Stunden.
Joseph Mohr, der Hilfspriester, begleitet die Uraufführung auf dem Armeleute-Instrument, der Gitarre, und singt die Oberstimme; der Organist und Schullehrer Franz Gruber singt den Bass. Zwei junge Leute, deren musikalisch-dichterische Improvisation Weltgeschichte macht: Die Erkennungsmelodie für Weihnachten ist gefunden!

GEMEINDEGESANG „Stille Nacht“ (Originaltext vom Liedblatt)

3. Szene: Weihnachtsfriede 1914

SprecherIn 3
„Stille Nacht“ wird seitdem überall gesungen, in allen Sprachen und auf allen Kontinenten. Und selbst da singt man es, wo sonst ganz andere Lieder und Töne sind.

Einspielung von Schlachtgeräuschen

SprecherIn 3
Auf einmal ist da die Stille, die die jungen Soldaten aufhorchen lässt.
Damals, Weihnachten 1914 an der hartumkämpften Westfront des Ersten Weltkrieges.

Stille - - - dabei Reigen der „Himmlischen Heerscharen“ durch die Gemeinde, die weiß-goldene Kleidung tragen, sich an den Händen fassen und fließende Flügelschläge imitieren.

SprecherIn 3
Im wundersamen Weihnachtsfrieden 1914, heute vor genau einhundert Jahren, haben sie alle Anteil an dem inoffiziellen Waffenstillstand, bei dem Briten, Franzosen und Deutsche am Weihnachtsabend kleine Geschenke tauschen, Lieder singen und die Toten begraben, statt einander zu erschießen.

Soldaten halten Weihnachtsbäumchen hoch, luken über Bankbrüstung oder einen anderen „Schützengraben“, stehen langsam auf …

SprecherIn 3
Irgendwo in den Schützengräben hat zuerst am Weihnachtstag jemand nur (auf seinem Horn o.ä.) die Melodie gespielt.

Melodie von der Orgelempore

SprecherIn 3
Dann haben welche begonnen, in ihrer Sprache „Stille Nacht“ zu singen, ganz zaghaft erst, vielleicht mit Tränen in den Augen, weil sie an zu Hause denken. Und bald erschallt tatsächlich aus den Gräben des „Feindes“ ein Echo in vielen Sprachen über das Schlachtfeld.


Britische und deutsche Soldaten im Niemandsland, Weihnachten 1914

GEMEINDEGESANG „Stille Nacht“ (dt. – franz. – engl. Text vom Liedblatt)

SprecherIn 3
Die einfachen Soldaten hören nicht mehr auf den Befehl ihre Generäle. Von wegen: dass ein Befehl ausging von dem Kaiser!
Es ist Weihnachten und die Männer sind es leid, einander Leid anzutun. Sie sind alle Söhne, Brüder, Ehemänner und sie zeigen einander die Fotos ihrer Lieben. Irgendwann an diesem Weihnachtstag wirft jemand einen Fußball ins Feld. Und dann tollen sie herum, jagen dem Ball nach, wie sie es als Kinder so oft getan haben, und scheren sich nicht um Nation und Vaterland, sondern sind einfach nur Menschen – menschlich …

Soldaten gehen aufeinander zu, entwaffnen sich, zeigen Fotos und spielen Fußball

PastorIn von der Kanzel
Man soll nicht geringachten, dass der Krieg danach weiterging!
Die Generale mussten alle Machtmittel einsetzen, um ihre Männer wieder zu Kriegern zu machen. Und diejenigen, die dabei waren, hat das Ereignis verändert und sie haben zeitlebens davon erzählt: Stille Nacht, Silent Night, Douce Nuitund Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens!

Hundert Jahre später ist die Welt leider kein bisschen friedlicher geworden.
Von allen Seiten ist der Friede bedroht und Kriege flammen wieder auf, die wir längst erkaltet wähnten. Rohheit und Gewalt jagen in Sekunden durchs Netz. Oft wissen wir nicht genau, was wir tun sollen oder welche Folgen das dann wieder hat, wenn wir etwas tun.
Aber etwas tun müssen wir doch …

4. Szene: Acht-Uhr-Nachrichten „Stille Nacht“

SprecherIn 4
Unsere Aufgabe heute Abend ist es, zu singen – das Lied der Weihnacht über all das zu legen, was uns erschreckt, was uns Sorgen macht und wovor wir Angst haben!

Wir singen vom trauten, hochheiligen Paar, sogar vom Knaben im lockigen Haar. Aber wir tun das ganz leise, vielleicht erst nur im Summen, damit wir nicht überdecken, was in unserer Welt geschieht, auch in dieser stillen Nacht, in der heiligen Nacht…

Einspielung der Tagesschauansage:
„Guten Abend, meine Damen und Herren,
hier ist das erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau…“

NachrichtensprecherInnen verlesen Originalnachrichten aus der Adventszeit über dem leisen GEMEINDEGESANG von „Stille Nacht“ in der Gesangbuchfassung.

PastorIn von der Kanzel
Wir hören beides: Die Acht-Uhr-Nachrichten und das Weihnachtslied.
Die Engel singen, wir singen mit, laut oder leise, aber die Waffen schweigen - nicht! Vielleicht einen kurzen Moment, eine kleine Feuerpause lang am Weihnachtabend, aber dann verfängt sich doch wieder alles im alten Kampf um Macht und Herrschaft, Einflussgebiet und Selbstbehauptung.

Beide Klänge sind in der Welt am Weihnachtsabend: Engelsgesang und Stiefelgedröhn, und beide legen sich um unser Leben. - - - Wie gut das ist! Stellt Euch vor, die Engel würden ihren Dienst quittieren und nicht mehr singen, einfach schweigen zu all dem, was hier geschieht, was Menschen anderen Menschen antun. Eine Stille wäre das: ganz trostlos, kalt!

Aber so ist es nicht: Das Lied vom weihnachtlichen Frieden ist in der Welt, uns zur großen Freude – zum kräftigen „Fürchtet Euch nicht!“, auch wenn es draußen vor der Tür kalt ist und bitterschwarze Nacht auf dem Felde bei den Hürden. Genau da leuchtet die Klarheit des HERRn – genau da hinein lässt Gott sein Weihnachtswort rufen, dass es uns der Leuchtstern sei, das Orientierungszeichen in einer Welt, die oft so anders will. Und wir in ihr, mit ihr.
Die Engel lassen sich nicht unterkriegen, und wenn sie übers Jahr noch so verzweifelt sind, über alles Unfriedliche, was wir so anrichten - selbst wenn das den acht-Uhr-Nachrichten oft gar keine Erwähnung wert ist. Sie lassen sich nicht unterkriegen …

Reigen der „Himmlischen Heerscharen“ durch die Gemeinde, die weiß-goldene Kleidung tragen, sich an den Händen fassen und fließende Flügelschläge imitieren. Am Ende werfen die Engel „Sternenstaub“ in die Luft, der sich glitzernd im Kirchraum verteilt.

Die Engel stimmen am Weihnachtsabend einfach an – gut, wenn man jemanden hat, der anstimmt, man den ersten Ton nicht bei sich selber suchen muss! – und wir stimmen ein, lassen uns anstecken und mitreißen, zaghaft und leise oder laut und fröhlich. Mit einem Herzen, das sich sofort der Botschaft öffnet und festen Vorsatz fast, das eigene Schwert zur Pflugschar um zu schmieden, oder auch einem, das zaghaft nachschlägt und erst ganz langsam anfängt, dieser Melodie und diesen Worten wieder neu zu trauen.

Wir stimmen ein in Gottes Gegenton, der dieser Welt Hoffnung gibt, egal, wie schlimm Jahr und Tag gewesen sind. Ob unser Weihnachtlied „Stille Nacht“ heißt oder anders - Hauptsache, wir haben diesen anderen, göttlich-menschlichen Weihnachtston im Ohr, der jeden Gleichschritt stört, jedes fanatische Gebrüll untersummt, auf jeden stumpfen Befehl pfeift und einfach unablässig da ist, zu der Zeit, und zu jener, und zu unserer.

Die Engel singen von Weihnacht und Frieden, von Freude allem Volk.
Sie singen, und singen, und singen.
Und wir tun es auch!
Amen.

GEMEINDEGESANG „Hört, der Engel helle Lieder“

Zur Vorbereitung der „Aufführung“ sollte die Gemeinde auf das Liedblatt hingewiesen werden. Der mehrsprachige Gesang lässt sich vorbereiten, indem vorher gefragt wird, wer „Stille Nacht“ auf Englisch oder Französisch singen möchte. Lässt sich vielleicht spontan noch eine andere Sprache finden? Das Summen und leise Singen des Liedes über den Nachrichten ist nicht zu proben, allerdings mit der OrganistIn zu besprechen. Danach müsste die „Regieanweisung“ der SprecherIn ausreichen.
Diese szenischen Weihnachtspredigt ist inspiriert von Simon & Garfunkel, 7 O’CLOCK NEWS / SILENT NIGHT, 1969.

Pastor Michael Ebener mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden 2014–15 aus Göttingen

Fotos: WikipediaCommons

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