Michael Beintker: Reformation spaltet nicht, sondern dient der Einheit

Vortrag auf der Vollversammlung der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) - Text auch als Download

Reformation ist weder ein geschichtliches Phänomen des 16. Jahrhunderts noch ein den Protestanten vorbehaltenes Privileg. Vielmehr ist Reformation theologisch als Umkehrbewegung zu verstehen, sie ist "der entscheidende Schritt, der Grundrhythmus der Hinwendung der Kirche zu ihrem Herrn". Das erklärte der evangelisch-reformierte Theologe Michael Beintker am Freitag, 21. September, in seinem Hauptvortrag vor der derzeit in Florenz tagenden Vollversammlung der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE).

Beintker, der dem Präsidium der GEKE angehört, warnte vor einer konfessionellen Verengung des Reformationsgedankens, denn: "Reformation will aus dem Weg räumen, was zwischen den Christen und Christus steht. Sie spaltet nicht, sie dient vielmehr der Einheit, indem die getrennten Kirchen in der Hinwendung zu Jesus Christus zusammengeführt werden."

Das große Treffen des europäischen Protestantismus steht unter dem Motto "Frei für die Zukunft". Diese Freiheit schließe die Freiheit für die Ökumene ein, unterstrich Beintker. Die Christusbindung, die Verheißung des Heiligen Geistes und das Gebot der Liebe bezeichnete der Theologe als "elementarste Zukunftsprinzipien" der Kirche Jesu Christi. Der eigentliche Dienst der Einheit bestehe darin, diesen Prinzipien "über alle Konfessionsgrenzen hinweg soviel Raum wie nur möglich zu verschaffen". Theologische Dialoge zwischen den Kirchen hätten sich heute jedoch auf Fragen fixiert, "bei denen sich die Kirchen so gut wie ausschließlich mit sich selbst beschäftigen", etwa in der Frage der unterschiedlichen Amtsauffassungen. Die konfessionelle Vielstimmigkeit des christlichen Zeugnisses und Dienstes müsse heute nicht mehr als eine geschichtliche Fehlentwicklung betrachtet werden. Beintker: "Man kann sie auch als Ausdruck der Gabenvielfalt des einen Leibes Christi verstehen, zu dem die einzelnen Kirchen und Gemeinden als lebendige Glieder immer schon gehören."

Die Aufgaben der Erneuerung und der Reform hätten sich innerhalb der Evangelischen Kirchen zu einem Dauerthema entwickelt, doch zwischen "Reformpathos und Reformpotential" bestehe ein beträchtlicher Unterschied. Gerade im politischen Bereich erlebe der Begriff "Reform" eine inflationäre Entwicklung. Ernüchterung folge, wenn trotz erfolgter Reformen die Verhältnisse nicht besser würden und die Kosten dafür die Steuerzahler zu tragen hätten oder wenn etwa drastische Einschnitte oder der Abbau von Arbeitsplätzen als Reformen verkauft würden. Dagegen wünscht sich Beintker, dass die Kirchen der Reformation "nachdenklicher, besonnener und ehrlicher" von Reformen sprechen, denn der Impuls dazu sei ihnen "von Anfang an mit auf den Weg gegeben".

Gegen die Meinung, die Grundfrage der Reformation nach Gottes Gnade sei nicht mehr das Problem des heutigen Menschen, wies Beintker auf die herrschende Angst vor der Zukunft hin. Die Angst vor dem Verlust des Heils manifestiere sich heute etwa in den Fragen "Bin ich überhaupt wichtig? Hat mein Leben einen Sinn? Werde ich geliebt? Wem kann ich noch vertrauen?" Heilsangst zeige sich in der Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, die auch die christlichen Kirchen ergreife. Zur Befreiung zur Zukunft müsse die Anfechtung überwunden werden, dass das Evangelium seine Kraft als Trost verloren habe. "Es ist die Befreiung der Kirchen aus dem Sog der Banalität und Selbstbanalisierung. Es ist die Befreiung zur Wiederentdeckung der Kraft des Evangeliums, dessen man sich nicht zu schämen braucht", betonte der in Münster lehrende Theologieprofessor.

Kirchen hätten die Aufgabe, "aus der Ungeborgenheit in die Geborgenheit des Glaubens" zu führen. Ausführlich ging der systematische Theologe in seinem Referat auf die Folgen der Säkularisierung ein. Religionslosigkeit habe sich zu einem Massenphänomen entwickelt. Dabei werde die geistliche Frage, "was Gott uns zeigen will, wenn er uns in diesem Europa gewissermaßen durch eine Wüste schickt", nicht mehr gestellt und es bleibe unklar, was der Mensch verliert, dem "der Christusbezug seiner Zukunft" abhanden gekommen ist. Beintker charakterisierte diesen Verlust als "Ungeborgenheit", wenn der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird, das Gespür für Transzendenz verliert und damit für jene Dimension, "aus der er stammt, für die er bestimmt ist und auf die er hingeht", er verhalte sich "wie ein Radar ohne Koordinaten". Hinweise auf die dramatischen Folgen der Ungeborgenheit ortet der Theologe in der Überforderung angesichts der Fülle von Lebensoptionen und dem gleichzeitigen Mangel an gesellschaftlicher Orientierung. Angesichts der herrschenden Krise fragte Beintker: "Wie werden die Menschen in Europa, die sich in einer Welt des anscheinend unbegrenzten ökonomischen Wachstums eingerichtet haben, mit den Einschränkungen und politischen Zumutungen zurechtkommen, die sie zu verkraften haben werden, wenn sich die finanziellen Rettungsschirme als Spekulationsblasen der offiziellen Politik erweisen sollten?"

Weil die Position des Glaubens vakant geworden sei, schlage die große Stunde der Glaubenssurrogate, der Ideologien und Weltanschauungen mit ihren Heilsversprechen, des Körperkults ebenso wie der Esoterik. Menschen hingegen, die sich in der Geborgenheit des Glaubens an Gott wahrnehmen, lebten von der großen Hoffnung auf "den neuen Himmel und die neue Erde" und wüssten: "Das Beste kommt erst noch". Daher könnten diese Menschen gegenüber den Herausforderungen des Lebens Geduld entwickeln, Standfestigkeit und einen Humor, "der auch am Leiden gereift und durch die Anfechtungen gegangen ist". Im heutigen Europa würden solche Menschen "dringender gebraucht als je zuvor", zeigte sich Beintker überzeugt. Niemand sei von sich aus frei für die Zukunft, führte der Theologe weiter aus. Die christliche Gemeinde wisse allerdings um den weiten Horizont, der durch Ostern geöffnet werde und in dem man sich "zur Freiheit für die Zukunft befreien lassen kann".


Pressemeldung der GEKE, 21. September 2012