Gott hat uns gegeben einen Geist

Eine theologisch-ethische Besinnung nach den Anschlägen im Juli 2016


(Foto: Rieger)

von Martin Heimbucher, Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche

„Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Verzagtheit, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ 2. Timotheus 1,7
 
Die Nachrichten der letzten Tage beunruhigen uns: nach dem Anschlag in Nizza nun ein Amoklauf in München, dann in dichter Folge  weitere Mordtaten und Anschläge in Bayern. Darüber geraten die Nachrichten aus dem Ausland in den Hintergrund. In diesen Tagen hat es weitere schlimme Selbstmord-Anschläge gegeben: in Kabul, Afghanistan, und im Irak, in Bagdad – scheinbar weit weg von uns.
Nun wird wieder debattiert über die Ursachen des Terrors und über Maßnahmen, um künftig Vergleichbares zu verhüten. Zunächst aber ist es wahrscheinlich ehrlich, sich eine gewisse Hilflosigkeit einzugestehen: Patentrezepte hat niemand, er hieße denn Donald Trump; und einen hundertprozentigen Schutz gegen solche Anschläge wird es nicht geben. 
Aber was dann? Weiter abzustumpfen, sich gewöhnen an solche Vorkommnisse und schulterzuckend zu sagen: So ist es halt? Oder im Gegenteil: Auf den Hass und die Menschenfeindlichkeit, die uns hier entgegenschlagen, spiegelbildlich zu reagieren und ebenso hasserfüllt und menschenverachtend dagegenzuhalten? Oder aber sich wegducken, sich ängstlich verstecken, das öffentliche Leben meiden, sich zurückziehen wie die Schnecke in ihr Haus? 
Mir hilft in diesen Tagen ein Wort aus dem 2. Timotheusbrief 1,7: „Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Verzagtheit, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ 
Erst einmal erinnert uns dies Wort daran, dass uns etwas gegeben ist: Stärken des Geistes Gottes, die uns verliehen sind. Angesichts solcher Gewalttaten fühlen wir uns schnell schwach, machtlos und hilflos. Dennoch soll nicht ein Geist der Furcht und Verzagtheit uns beherrschen, sondern die drei Geistesgaben Gottes: Kraft, Liebe und Besonnenheit. Diese sollen wir gar nicht in uns selber suchen, sondern allein von Gott erwarten. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“,  so vernimmt Paulus die Stimme des auferstandenen Christus. Es ist keine Schande, sich zu ängstigen oder sich schwach und hilflos zu fühlen: „In der Welt habt Ihr Angst“, sagt Christus – „aber seid getrost!“ Dieses „aber“ führt uns zur Besinnung auf die Geistesgaben, die Gott uns schenkt.

1. Kein Geist der Verzagtheit, sondern: „der Geist der KRAFT“. 

Am Freitagabend war München eine Stadt, die in Panik zu geraten drohte. Plötzlich schien es nicht nur einen, sondern mehrere Tatorte zu geben, nicht nur einen, sondern mehrere Täter.
In Sekundenschnelle wurden über die sogenannten sozialen Medien Nachrichten verbreitet - aber leider auch etliche Falschmeldungen und gefakte Fotos.  Hunderte Polizei-Einsatzwagen rasten hin und her durch die Stadt, Reporter am Straßenrand wussten wenig und verdoppelten mit ihren Worten lediglich, was man ohnehin sah: Mannschaftswagen und schwer bewaffnete Polizeitrupps. 
Aber mittendrin waren - Gott sei Dank! - auch Haltungen wirksam, die wir als Zeichen für den Geist der Kraft identifizieren dürfen. Es gab Menschen, die es zeigten und ausstrahlten, dass man gerade in einer unübersichtlichen und unklaren Situation  einen kühlen Kopf bewahren kann. Da gab es Zusammenfassungen in den Nachrichten, die ganz schlicht sortierten:  Was wir wissen und was wir nicht wissen. Daran, dass dies unterschieden wird, und dass man sich weigert, darüber hinaus zu spekulieren, erkennen wir guten Journalismus. Dagegen sucht Sensationsgier im Netz oft nur nach einer Bestätigung der eigenen Vorurteile und unterstellt dann z.B.: „Ihr wollt ja nur verbergen, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handelt!“ 
Also, aus dem Geist der Kraft heraus wird einer nicht mehr reden als notwendig.  Stattdessen wird er kurz und klar sagen, was er weiß und was nicht. Da haben wir nun den Münchner Polizeisprecher mit einem wohlklingenden Namen erlebt: Marcus da Gloria Martins, ein Deutscher mit portugiesischen Wurzeln.  Der behielt einen klaren Kopf und strahlte das auch aus:  Sachlich und manchmal geradezu sportlich reagierte er auf die sich Fragen der Journalisten. Sogar in dieser ernsten Situation trug er mit einigen lakonischen Bemerkungen dazu bei,  die aufgeregte Stimmung ein wenig zu entspannen.  Die polizeilichen Twitternachrichten in verschiedenen Sprachen waren kleine Meisterstücke einer knappen und vertrauensfördernden Kommunikation:  „Wir wissen derzeit nicht, wo der Täter ist. Bleibt einstweilen in euren Häusern.“ 
Da wirkt er, der Geist der Kraft: Er lässt uns das Notwendige sagen.  Und über alles andere erst einmal schweigen

2. Nicht einen Geist der Verzagtheit über sich herrschen lassen,       
sondern den „Geist der LIEBE“ 

Ja, das geht. Gerade auch in einer solchen Situation. Es scheint sogar, als würde der Geist der Liebe angesichts solcher Schrecken besonders hell aufleuchten. Denn es waren nicht nur Schreckensbilder und Paniknachrichten im Netz:  „Kommt rein zu uns, bringt euch in Sicherheit.“  So haben es viele Hundert Münchner gesagt und getan. Andere haben sich um Verletzte und in Panik geratene Menschen gekümmert, haben sie zu den Rettungskräften oder ins Krankenhaus begleitet. München ist eine Großstadt, in der Menschen aus vieler Herren Länder leben, seit Jahren und Jahrzehnten: weitestgehend friedlich. Und genau diese Münchener Community, die viele Sprachen spricht und in der es unterschiedliche Religionen gibt, hat an diesem Abend ihre Verbundenheit gezeigt,  ihre Stärke in Gesten des Vertrauens und der Liebe.
Achten Sie einmal darauf, gerade in solchen Ausnahmesituationen: Es verschwimmt eben nicht alles in einem Meer von Hass und Gewalt und Angst.  Sondern zugleich wird der Geist der Liebe stark,  der in den allermeisten Menschen verankert ist. Auf die Gesten der Liebe und des Vertrauens kommt es in solchen Situationen an. Sie werden in Erinnerung bleiben. Stärker als der Hass ist die Liebe. Das bleibt unser Glaube, unser Bekenntnis als Christen, die wir von Ostern herkommen. Und wenn wir genau hinsehen, kann unsere Erfahrung hier und da diesen Glauben bestärken.  

3. Nicht ein Geist der Verzagtheit darf uns schwächen,     
sondern „der Geist der BESONNENHEIT“ macht uns stark 

Jetzt kommt es darauf an, zur Besinnung zu kommen.  Miteinander zu sortieren: Was können wir ändern.  Und was können wir nicht ändern, womit müssen wir also leben lernen. Das ist die wichtige Unterscheidung. Sie muss aber immer neu überprüft werden,  damit wir uns nicht an Dinge gewöhnen, an die wir uns nicht gewöhnen dürfen. Wir wollen uns in unserer Gesellschaft nicht gewöhnen an eine Sprache der Verachtung,  an eine Sprache der Beleidigung, des Hasses gegen andere.  Lasst uns Einspruch erheben gegen beleidigende Äußerungen:  auf der Straße, in der S-Bahn, aber auch im Netz.  Der Respekt gegenüber fremden und andersdenkenden Menschen ist ein kostbares und zerbrechliches Gut. Jeder und jede von uns kann mit Aufmerksamkeit und einem kleinen Stück Zivilcourage dazu beitragen, diese Haltung zu bewahren und von anderen einzufordern: „Respekt, bitte! Sachlich, bitte! Bitte fair bleiben!“ 
Besonnenheit braucht es jetzt insbesondere in unserem Urteil über Menschen. Eine erschrockene Gesellschaft sucht immer nach Schuldigen. Wenn aber der nicht mehr zu greifen ist, z.B. weil er sich selber ums Leben gebracht hat, dann suchen wir andere Schuldige, um uns selber zu entlasten. Hier müssen wir außerordentlich wachsam und kritisch sein. 
Es ist schrecklich, wenn eine Gesellschaft mit Worten und Taten über die herfällt, die es ohne jeden Beweis als Schuldige dingfest machen will. Das sehen wir leider derzeit in der Türkei: Richter, Soldaten, Lehrer und Journalisten werden zu Tausenden für ein Verbrechen haftbar gemacht, mit dem sie nichts zu tun haben. Hier müssen wir widerstehen. Wir haben in unserem Land eine einschlägige Erfahrung damit gemacht, als die Nazidemagogen riefen: „Die Juden sind unser Unglück!“ Wir wollen so etwas nie wieder zulassen.  
In unserem eigenen Land werden wir nun viel damit zu tun haben, das erschütterte Vertrauen in unser Zusammenleben auch mit Migranten und Flüchtlingen wieder wachsen zu lassen. Jetzt zeigt sich, wie wertvoll es ist, dass viele von uns Kontakte geknüpft haben mit denen, die als Fremde zu uns gekommen sind. Gegen die giftige Saat des Misstrauens lasst 1000 Blumen der guten Nachbarschaft blühen. Und wir werden widersprechen, wenn ganze Gruppen kollektiv büßen sollen, was einzelner kranker Mensch getan hat. 
Zur Besonnenheit im Sinne der Bibel gehört nicht zuletzt auch die Einsicht: 
"Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch".  Johannes Rau hat das gesagt, wir erinnern uns, im Jahr 2002, nach dem Amoklauf an einem Erfurter Gymnasium. 16 Kerzen brannten damals für die 16 getöteten Menschen, Lehrerinnen und Lehrer, Schüler, ein Polizist. Dann aber wurde noch eine 17. Kerze entzündet, etwas abseits davon. Und Rau wandte sich nun auch an die Eltern des Amokläufers, die unerkannt der Trauerfeier beiwohnten:  "Meine Gedanken gehen auch zur Familie des Täters. Niemand kann Ihren Schmerz, Ihre Trauer und wohl auch Ihre Scham ermessen. Ich möchte Ihnen sagen: Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch". 
Nicht zuletzt solche Menschlichkeit gehört zu dem Geist der Besonnenheit,  der uns geschenkt ist.
 
Dazu ein Gebet: 
Lieber Vater im Himmel, mit unseren Sorgen und mit unserer Angst wenden wir uns zu Dir. Von Unruhe sind wir erfasst, du aber bist unsere Zuflucht. In uns macht sich Finsternis breit, aber bei dir ist das Licht. So mach fest unser Herz, erleuchte unseren Verstand, dass wir erkennen, was Not tut. Und dass wir auf alles verzichten, was die Ratlosigkeit und Panik noch steigert. 
Trockne die Tränen der Erschrockenen und der Trauernden. Heile die Verwundungen an Leib und Seele. Stärke alle, die helfen und trösten. 
Wir bitten um deinen Geist der Kraft: eine Kraft, die nicht droht und keinen Hass schürt, sondern die gewiss bleibt bei dem, was den Frieden und das Zusammenleben fördert. 
Wir bitten um den Geist der Liebe, der stärker ist als die Feindschaft, dass wir Begegnung und Verständnis suchen und der Versöhnung Raum geben. 
Und wir bitten Dich um den Geist der Besonnenheit: Dass wir im anderen Menschen unseren Bruder und unsere Schwester erkennen und uns besinnen auf die Quelle des Guten, die nicht versiegt, weil sie in Dir liegt, du in Deiner Liebe allmächtiger und barmherziger Gott. 
Amen.  

Kirchenpräsident Dr. Martin Heimbucher
Evangelisch-reformierte Kirche Leer, den 25. Juli 2016