Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1492-1549)
Ludwig XII. versuchte mehrmals, Marguerite als Braut in Europa zu verhandeln, aber weder ihre Aussichten, noch ihr Vermögen waren ausreichend, um eine internationale Ehe einzugehen. Stattdessen heiratete sie 1509, gerade siebzehn Jahre alt, den Herzog von Alençon, von dem wenig bekannt ist. Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie und ihr Gatte wenig Gemeinsames hatten, zumal der Herzog vor Allem ein Soldat war. Dafür hatte sie aber eine geliebte Schwiegermutter, Marguerite von Lorraine, die eine zutiefst fromme Frau war. Jahre später schrieb Marguerite über ihren Tod und ließ ihre Trauer darüber durchblicken.
Als Ludwig XII. befürchten musste, nicht selbst Söhne zeugen zu können – er hatte „nur“ zwei Töchter, Claude und Renée de France – holte er Franz d´Angoulême an seinem Hof und gab ihm seine Tochter Claude zur Ehe. 1515 verstarb er und Franz bestieg als Franz I. den Thron Frankreichs.
Für Marguerite änderte sich das Leben schlagartig. Sie kam zu ihrem Bruder an den Hof, und da die Königin Claude sehr zurückhaltend und scheu war, übernahm sie bald die repräsentativen Pflichten. Zusammen mit ihrer Mutter bildete sie mit Franz ein Trio, die sogenannte „Dreieinigkeit“. Franz konnte immer mit seiner Mutter und seiner Schwester rechnen, und sie unterstützten ihn nach Kräften.
Franz I. wurde der erste Renaissancekönig Frankreichs. Er war jung, viril und plötzlich auch reich. Er ließ bauen an der Loire, eroberte das Herzogtum Mailand, versuchte sich als Deutschrömischer Kaiser wählen zu lassen – das war eine extrem teure Angelegenheit – und verwickelte sich in Rivalitäten sowohl mit Heinrich VIII. von England als auch mit Kaiser Karl V.
Schon 1516 verhandelte er ein Konkordat mit dem Pabst in Bologna. Die französische Kirche hatte seit dem Mittelalter ihre gallikanische Freiheiten gegenüber dem Pabst verteidigt, und als Frankreich sich als Nationalstaat festigen konnte und mit Franz I. fast die Grenzen erreicht hatte, die noch heute gelten, gelang es auch Franz, eine römisch-katholische Nationalkirche zu vereinbaren. Vor allem durfte er wichtige Posten in der Kirche mit seinen Kandidaten besetzen, die dann vom Pabst anerkannt wurden. Damit war die französische Kirche ihrem König treu ergeben, nicht desto weniger war sie streng katholisch, besonders die Fakultät der Theologie der Universität von Paris (oft abgekürzt Sorbonne genannt) wachte über die reine katholische Lehre. In den Jahren 1515 bis 1534 war Franz theologisch eher liberal und pfiff die eifrigen Theologen zurück, nach 1534 machte er mit ihnen gemeinsame Sache.
In Frankreich bildeten sich Kreise von Reformkatholiken und Humanisten, die der etwas verkrusteten katholischen Theologie kritisch gegenüberstanden. Sie forderten die Bibel in der Muttersprache und in den Händen von Laien. Sie kritisierten Heiligenkult und Reliquienverehrung, und versuchten eine Erweckung der Gläubigen im Sinne vom reformatorischen „sola fide, sola scriptura“ (= durch den Glauben allein und durch die Heilige Schrift allein) herbeizuführen. Der leitende Humanist war der alte Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis), der nach Jahren als Herausgeber klassischer antiker Schriften endlich bereit war, die Heilige Schrift zu übersetzen. Er wurde unterstützt von Guillaume Briçonnet, Bischof von Metz. Dieser führte Reformen in seiner Diözese durch, legte die Bibelübersetzung des Lefèvre in den Kirchen aus, verjagte die Franziskaner, die sonst fast Predigtmonopol besaßen, und ließ durch seine eigene Leute „reformatorisch“ predigen. Unter ihnen waren Gérard Roussel, der später Hofkaplan bei Marguerite wurde, Guillaume Farel, der später in Genf als Reformator zusammen mit Calvin wirkte, und Simon Robert, der die frühere Nonne Marie Dentière heiratete und auch in die Schweiz zog.
Als katholischer Bischof wollte Briçonnet nicht die katholische Kirche umstürzen oder dem Pabst die Treue kündigen, er wollte dagegen die Kirche von innen erneuern. Er gehörte dem Reformkatholizismus an, der in Frankreich oft als „évangelisme“ bezeichnet wird, mit dem deutschen Wortbrauch „evangelisch“ aber wenig zu tun hat. Die Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Lefèvre d´Etaples wollten zu den Quellen zurück, sie wollten die Bibel allen zugänglich machen, sie hatten von Paulus gelernt, dass Rechtfertigung durch den Glauben geschieht, aber er sah das alles nicht als Grund, die Einheit der Kirche auf Spiel zu setzen. Diese Männer prägten Marguerite.
An Bischof Briçonnet wandte sich Marguerite mit der Bitte um geistigen Beistand. Ein Briefwechsel folgte, der sich (nachweislich) über die Jahre 1521 bis 1524 erstreckte. Der Bischof schrieb lange Homilien, und Marguerite bat ihn ständig um mehr „seelische Nahrung“. Sie verwendete vermutlich seine schriftlichen „Predigten“ als Grundlage für Andachten mit ihren Hofdamen. Abschriften ließ sie in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis verteilen .
Briçonnet legte ihr die Bibellektüre ans Herz, mit besonderer Wertschätzung der Paulinischen Briefe. Nebenbei sei bemerkt, dass sowohl Luther als auch Calvin in jungen Jahren den Römerbrief auslegten, denn wer Erneuerung für die Kirche erhoffte, kam um Paulus nicht herum. Das Besondere bei Briçonnet war allerdings sein Hang zur Innerlichkeit, die Liebe zwischen Christus und der Seele, die Aufgabe des Selbst und das Hinschmelzen in Christus. Gute Werke, der Verdienst der Heiligen, Fasten und Pilgern kamen bei ihm dagegen nicht vor.
Für Marguerite bedeutete diese religiöse Erneuerung, dass sie anfing, geistliche Gedichte zu schreiben, ihre poetische Ader wurde freigelegt. Das erste Gedicht handelt von einer nächtlichen Vision. Ihre Nichte – die Tochter ihres Bruders – starb 1524 mit acht Jahren, und Marguerite fragt die reine Seele, was sie glauben soll. Der Antwort ist klar, sie soll Christus allein lieben und glauben. Briçonnet hätte es nicht besser ausdrucken können.
In diesen Jahren wurden Luthers Schriften in Frankreich verbreitet und wir wissen mit Sicherheit, dass Marguerite seine Schriften kannte. Die theologische Fakultät der Universität von Paris leistete Widerstand gegen die lutherische Ketzerei und das bekam Bischof Briçonnet zu spüren. In seinen Briefen an Marguerite bat er sie wiederholt um Unterstützung und besonders darum, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter für seine Reformen gewinnen möge. Marguerite hatte zwar großen Einfluss auf ihren Bruder, aber trotzdem musste Briçonnet alle seine Reformvorhaben aufgeben. Die Gruppe um ihn flüchtete nach Straßburg, während er selbst widerrufen musste. Er starb kurze Zeit später.
1524 starb Königin Claude, und Marguerite wurde mit der Aufsicht der königlichen Kinder betraut. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, wie sehr diese Kinder ihr ans Herz wuchsen. Ihre Ehe blieb kinderlos – ihre Trauer darüber vernimmt man in den Briefen an Briçonnet – und jetzt konnte sie ihre mütterlichen Gefühle den Kindern ihres geliebten Bruders zu Gute kommen lassen.
1525 verlor Franz I. die Schlacht bei Pavia in Norditalien. Seit vielen Jahren, schon in der Regierungszeit Karl VIII. hatte Frankreich mit den italienischen Stadtstaaten Krieg geführt. Jetzt stießen in Italien die habsburgischen und die französischen Truppen zusammen. Die Blüte des französischen Adels wurde an einem Tag vernichtet, und Franz selbst wurde gefangengenommen. Der Herzog von Alençon flüchtete vom Schlachtfeld und starb wenige Monate später, von seiner Gattin liebevoll gepflegt.
Jetzt schlug die Stunde für Marguerite. Mit ihrer Mutter hatte sie in Lyon den Ausgang des Krieges abgewartet, und nach dem Tod ihres Gatten ließ sie ihre Mutter als Regentin Frankreichs zurück, sie selbst segelte und ritt zu ihrem Bruder, der schwer krank in Madrid im Gefängnis lag. Sie pflegte ihn wieder gesund und versuchte mit dem unerbittlichen Kaiser Karl V. zu verhandeln. Sowohl sie als auch Franz dachten, dass der ritterliche Ehrencodex seine Befreiung möglich machen würde, Karl war aber auf handfeste Vorteile aus. Am Ende versprach Franz alles, um freizukommen, fuhr nach Hause, gab seine Söhne quasi als Unterpfand dem Kaiser und musste eine Riesensumme als Lösegeld aufbringen.
Als Regentin hatte die streng katholische Louise von Savoyen die französische Kirche in ihrem Kampf gegen die „Ketzer“ unterstützt, deshalb war auch keine Hilfe für Briçonnet und seine Leute zu erwarten. Nach der Rückkehr Franzens war er noch abhängiger als zuvor von der Kirche, nur sie konnte ihm mit dem Geld, das er dem Kaiser schuldete, versorgen. Anders als die deutsche Fürsten, die sich sehr wohl handfeste Vorteile von der Reformation in ihren Ländern erhoffen konnten, hatte der französische König schon eine (katholische) Nationalkirche, die ihn kräftig unterstützte, natürlich in der Annahme, dass er keine „Ketzer“ dulden würde.
Marguerite war eine noch junge Witwe, und ihr zweiter Gatte war ein junger, strahlender Held: Henri d´Albret, König von Navarra. Er hatte sich in der Schlacht von Pavia tapfer geschlagen, war gefangen genommen worden, hatte sich aber in einer „Mantel und Degen Aktion“ buchstäblich erfolgreich abgeseilt. Er war zudem ein Frauenheld und 12 Jahre jünger als Marguerite. Sein Königreich war winzig: das Königreich Navarra war ursprünglich das, was wir heute das Baskenland nennen, ein Gebiet, das sich beidseitig über den Pyrenäen erstreckte, jedoch sein Schwerpunkt auf der Südseite der Bergkette mit Pamplona als Hauptstadt hatte. Die Albrets, als südfranzösische Großgrundbesitzer, waren durch Heirat an die Krone gekommen, nur um erleben zu müssen, dass Spanien 1512 der Gebiet um Pamplona eroberte. Damit schrumpfte das Königreich auf Basse-Navarre zusammen, der französische Teil des Baskenlandes. Da er auch Vicomte von Béarn war, eine unabhängige Grafschaft mit eigener Regierung und Generalständen, hatte er dennoch sein eigene Hausmacht. Er erwartete, sozusagen als Mitgift, dass Franz ihm helfen würde, ganz Navarra zurückzuerobern. Franz dagegen erwartete, dass er die Grenze gegen Spanien verteidigen würde und machte ihn zum Oberbefehlshaber in Guienne, eine Bezeichnung für Südwestfrankreich von den Pyrenäen bis Loire, vom Atlantik bis Auvergne.
Was Marguerite erwartete, wissen wir nicht. Ihre Ehe bedeutete für sie eine Zerreißprobe zwischen dem geliebten Bruder und dem Ehemann, und es war für sie nicht einfach, beiden gegenüber loyal zu sein.
Ihre Ehe bedeutete aber auch, dass sie endlich Mutter wurde. 1528 gebar sie ihre Tochter, Jeanne d´Albret, danach einen Sohn, der kurz nach dem Geburt starb, und dann – sie wurde ja nicht jünger – hatte sie eine Reihe von Fehlgeburten und Scheinschwangerschaften.
Als Königin mit eigenem Herrschaftsgebiet konnte sie jetzt Glaubensflüchtlingen Schutz bieten. Bei ihrem Bruder trat sie immer noch für Andersdenkende ein, sie konnte aber jetzt in Bourges luthersche Studenten und Dozenten an die Universität holen, sie brachte den alten Lefèvre d´Etaples bei ihrem Hof in Nérac unter, sie machte Gérard Roussel zum Bischof von Oloron, und sie stellte als Sekretäre bekannte humanistische Skribenten ein, unter ihnen Clément Marot, Dichter und Verfasser vom ersten gereimten französischen Psalter.
Anfänglich blieben sowohl sie wie ihr Gatte am Hofe. Sie verhandelte zusammen mit ihrer Mutter und Margaretha von Habsburg, Statthalterin der Niederlande, den sogenannten Damenfrieden von Cambrai aus. Sie empfing Botschafter, verhandelte mit dem Pabst, und hatte immer noch die Aufsicht über die königlichen Kinder. Sie reformierte Klöster überall in Frankreich, ihre Lektüre der Lutherschrift „Von den Mönchsgelübden“ hatte sie nicht dazu gebracht, die Klöster abzuschaffen, sondern eher Missstände abzubauen.
1531 veröffentlichte Marguerite ihr religiös-poetisches Werk „Ein Spiegel der sündigen Seele“. Die zweite Ausgabe 1533 wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und verboten. Wütend verlangte Franz I. die Rücknahme der Verurteilung, und die Universität fügte sich schleunigst. Als dann, 1534, die Plakataffäre mit ihrem Angriff auf die Messe und das katholische Abendmahlverständnis die Gemüter erregte, ging sie nach Südfrankreich. Dort konnte sie unter Anderen einem Flüchtling, dem jungen Calvin, weiterhelfen. Sie hatte seit jungen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, gepflegt, und jetzt schickten die zwei gleichgesinnten Verwandten einander hilfsbedürftige Glaubensflüchtlinge zu.
In den nächsten Jahren war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester etwas abgekühlt. Franz I. unterstützte die römisch-katholische Kirche nach Kräften, und Marguerite war vorsichtig geworden. Als der Berater des Königs ihn aber fragte, ob Gefahr bestünde, Marguerite könne zum Protestantismus übertreten, erwiderte der König: „Dafür liebt sie mich zu sehr!“, und behielt Recht damit.
Die Ruhe und Abgeschiedenheit am Hofe bedeutete für Marguerite Zeit für eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Die religiösen Gedichte waren wohl eher eine Art meditative Übung inmitten der oberflächlichen Geschäftigkeit des Hofes. Jetzt verfasste sie Schauspiele, die am Hof aufgeführt wurden. Angeregt durch die Beschäftigung mit den Schriften des Plato, die sie durch den italienischen Humanisten Pico della Mirandola und Marsilio Ficino kennengelernt hatte, dachte sie über das Wesen der Liebe nach, und ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von diesen Überlegungen geprägt. Sie ließ Platos Schriften ins Französisch übertragen, so wie sie auch die Novellen von Boccaccio, „Dekameron“, übersetzen ließ. Diese Novellen beeinflussten ihre berühmteste Werk, die Novellen, aus denen das „Heptameron“ besteht, und die von ihr über einen längeren Zeitraum zusammengefügt wurden. Sie gab nur ein Buch in Druck, „Les marguerites de la Marguerite des princesses“, die Perlen der Perle (Marguerite) der Prinzessinnen, mitsamt dem Folgeband: „Suyte des marguerites“ (1547). Alle andere Schriften von ihr waren zu ihren Lebzeiten nur als Manuskript vorhanden, aber das Heptameron wurde ungefähr zehn Jahren nach ihrem Tod als Buch herausgegeben, und zählt seitdem zu den Klassikern des 16. Jahrhunderts, obwohl es oft missverstanden worden ist – dazu mehr später (vgl. Nielsen, Theologie als Erzählung).
Eine andere wichtige Angelegenheit in den letzten Jahren, ihr Verhältnis zu ihrer Tochter Jeanne, wird im Artikel über diese behandelt. In den letzten Jahren hatte sie eine Auseinandersetzung mit Calvin über die Freigeister, die sich bei ihrem Hof aufhielten. Ihre Bedeutung für die Reformation wird später untersucht. Klar ist allerdings, dass sie als Katholikin starb. Als ältere Frau zog sie sich immer öfters in Klöstern zurück und auch, wenn sie nie besonders rechtgläubig war, trat sie nie aus der Kirche aus. Sie starb 1549 auf ihrem Schloss Odos.
Marguerite d`Angoulême war eine hoch begabte, zutiefst fromme Frau. Sie ging unbeirrt ihre eigenen Wege, und auch, wenn sie diskret war, ließ sie sich nicht einschüchtern. Ihre Verdienste für die Verbreitung der Reformation sind offenkundig, und in Genf wusste Calvin sehr wohl, wie dankbar er ihr sein musste. Dabei war die geistige Freiheit ihr ohne Zweifel eine Herzensangelegenheit, während ihre Tochter und Enkelin mit Nachdruck Partei ergriffen. Zu Marguerites Zeiten waren diese geistige Freiheit und die Hoffnung, die katholische Kirche von innen zu erneuern und zu „reformieren“, ohne die Glaubensspaltung vollziehen zu müssen, noch möglich. Diese Umstände gaben ihr etwas Spielraum, den spätere Generationen nicht länger hatten.
Literatur
In Deutschland ist die Literatur zu Marguerite d´Angoulême übersichtlich. Zu erwähnen sind:
Margarete von Navarra: Das Heptameron, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, mit einem ausgezeichneten Nachwort von Peter Amelung. Neudruck München 1979, 1999 (dtv 12710)
Eltz-Hoffmann, Lieselotte von: Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995
Kraus, Claudia: Der religiöse Lyrismus Margaretes von Navarra, München 1981
Schönberger, Axel: Die Darstellung von Lust und Liebe im Heptaméron der Königin Margarete von Navarra, Frankfurt a/M 1993
Sckommodau, Hans: Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, Köln 1955
Sckommodau, Hans: Galanterie und vollkommene Liebe im „Heptaméron“, Münchener Romanistische Arbeiten, Band 46, München 1977
Sckommodau, Hans: Die spätfeudale Novelle bei Margareta von Navarra, Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Bd. XIV, Nr. 4, Wiesbaden 1977
Zimmermann, Margarete: Der Salon der Autorinnen: französische „dames de lettres“ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2005
Stedman, Gesa & Zimmermann, Margarete: Höfe – Salons – Akademien, Hildesheim 2007
Hinzu kommt eine Übersetzung:
Febvre, Lucien: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion, Frankfurt a/M 1998 (Originaltitel: Autour de l´Heptaméron: Amour sacré, amour profane, Paris 1996)
Allgemeine Kirchengeschichte:
Strasser-Bertrand, Otto Erich: Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1975
In Frankreich zählt sie zu den wichtigen Renaissancedichterinnen. Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke von Nicole Cazauran ist in Arbeit:
Marguerite de Navarre: Oeuvres Complètes, Paris 2001. Bisher erschienen:
Heptaméron, Paris 2000 und die Bände 1,3,4,8 & 9
Die klassische Biografie ist:
Jourda, Pierre: Marguerite d´Angoulême, duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Étude biographique et littéraire, Paris 1930, Genf 1978
Jourda, Pierre: Répertoire analytique et chronologique de la Correspondance de Marguerite d´Angoulême, Duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Paris 1930
Christine Martineau, Michel Veissière & Henry Heller: Guillaume Briçonnet/Marguerite de Navarre: Correspondance, 2 Bd., Paris 1975-79
Herminjard, Aimé, hrsg.: Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Genf 1886-79
In Heptaméron, ed. Nicole Cazauran, ist weiterführende Literatur erwähnt. Hier verweise ich nur auf drei Kolloquien aus dem Jahr 1992:
Marguerite de Navarre, 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau (1992), Mont-de- Marsan 1995
Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de Navarre, Colloque de Nice, 15-16 Fèvrier 1992, Uni.de Nice, o. J.
Marguerite de Navarre, Actes du colloque international du 14 au 16 septembre 1992, Lódź 1997
Karlsson, Britt-Marie: Sagesse divine et folie humaine, Etude sur les structures antithétiques dans l´Heptaméron de Marguerite de Navarre (1492-1549), Göteborg 2001
Montaigne: Oeuvres complètes, Paris 1962
Ausgewählte Literatur in englischer Sprache:
- Patricia F. Cholakian & Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre, Mother of the Renaissance, New York 2006
- Cholakian, Patricia F.: Rape and Writing in the Heptameron, Carbondale 1991
- Cottrell, Robert D.: The Grammar of Silence, A Reading of Marguerite de Navarre´s Poetry, Washington D.C. 1985
- Davis, Betty J.: The Storytellers in Marguerite de Navarre´s Heptaméron, Lexington 1978
- Davis, Natalie Zemon: Society and Culture in Early Modern France: eight Essays, Stanford 1975
- Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France, The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985
- Ferguson, Gary: Mirroring belief: Marguerite de Navarre´s Devotional Poetry, Edinburgh 1992
- Gelernt, Jules: World of Many Loves, The Heptameron of Marguerite de Navarre, Chapel Hill 1966
- Greengrass, Mark: The French Reformation, London 1987
- Salmon, J.H.M.: Society in Crisis, France in the Sixteenth Century, London 1975
- Tetel, Marcel: Marguerite de Navarre´s “Heptaméron”: Themes, Language and Structure, Durham N.C. 1973
Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin
Grundlagen – Formulierungen – Wirkungen
Übersicht
1. Theologische Grundlagen
2. Wirtschaft im Horizont des biblisches Zeugnisses
3. Wirtschafts- und sozialethische Konzepte in der Reformation
4. Calvinismus und Kapitalismus
5. Calvins Überlegungen zu Armut und Reichtum am Beispiel seiner Deuteronomium-Predigten
6. Calvins Stellung zu Geld, Eigentum und Zins
7. Praktische Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik
8. Impulse aus der ökumenischen Diskussion
9. Linien einer gegenwärtigen reformierten Wirtschafts- und Sozialethik
10. Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als theologische Orientierungen
11. Geld und gute Worte
Eingangs sei eine Impression aus der Malerei, hier aus der niederländischen Kunst des 16. Jahrhunderts, gegeben. Nachdem 1566 ein Bildersturm durch die niederländischen Kirchen gegangen ist und die calvinistischen Kirchen bildlos blieben, wandte sich die Malerei vornehmlich profanen Themen zu. Und wo dann doch religiöse Motive ins Bild gesetzt wurden, geschah das zumeist in moralisch-pädagogischer Absicht, so auch am Beispiel von Reichtum und Armut. Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (vgl. Lk 16,19-31) griff der Maler Hans Vredeman de Vries (1526-1609) mehrfach auf (Abb.: Lazarus und der Reiche, 1572). Der Arme bettelt vor dem monumentalen Palast des Reichen vergeblich um Essensreste, befindet sich gleichsam vor der Tür, außerhalb der opulenten Tafelrunde im Innern des Palastes. Hunde werden auf ihn gehetzt, um ihn vom Eindringen in die Welt der Reichen abzuhalten. Wie zur Warnung ist auf einem zweiten Bild des gleichen Themas in der linken unteren Bildecke der Reiche noch einmal abgebildet (Lazarus vor dem Palast des Reichen, 1583), nun hinter dem vergitterten Kellerfenster in den Flammen der Hölle. Der pädagogische Sinn auch dieses Bildes ist offensichtlich: Reichtum birgt die Gefahr des Untergangs in sich. Man wird nicht fehlgehen, in diesem Bild zudem einen Hinweis auf das im Calvinismus zunehmend profilierte Ideal der Zurückhaltung und Bescheidung zu erkennen.
Auf diesem Hintergrund ist zu fragen, worin die spezifisch reformierten Maßnahmen zum Umgang mit Reichtum und Armut sowie mit der Wirtschaft überhaupt bestehen. Denn schon nach klassischem reformiertem Verständnis unterliegen wirtschaftliche Fragen nicht nur der immanenten ökonomischen Rationalität. Sie rühren an die Grundlagen des Glaubens und können schließlich sogar zum Gegenstand des Bekennens und Bekenntnisses werden, da Lebensfragen aufs Engste mit Glaubensfragen verknüpft sind. Johannes Calvin zufolge bedarf nicht nur der Glaube und die Kirche, sondern das Leben überhaupt der ständigen Erneuerung vom Wort Gottes. In diese Erneuerungsprozesse sind die Dimensionen des Alltagslebens einbezogen. Zu Recht erkannte Karl Barth in der calvinischen Reformation den konsequenten Schritt von der Erkenntnis Gottes zur Lebenswirklichkeit des Menschen. Dieser Schritt ließ Calvin gemeinsam mit dem Zürcher Reformator Ulrich Zwingli zum „Propheten des neuen christlichen Ethos“ werden.[1] Barth ergänzt, dass Calvin mit seiner Hinwendung zur Weltgestaltung „die Reformation welt- und geschichtsfähig gemacht“ hatte und in Gestalt des Calvinismus auf die Gesellschaftslehren der Neuzeit maßgeblichen Einfluss nahm.[2]
Calvins Theologie verfügt durch die Dialektik von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis über eine Bipolarität, in der das menschliche Leben in eine Beziehung zu Gottes Sein gesetzt wird. Gott existiert zugunsten des Menschen, der seinerseits im Angesicht Gottes und für ihn lebt. Calvin sieht das Leben aber keineswegs unter dem Vorzeichen eines fordernden und autoritären ethischen Imperativs, sondern beschreibt die Heiligung des Lebens als Gottes befreiendes Werk am Menschen. Dieses Wirken Gottes zielt auf die menschliche Freiheit, die der christlichen Existenz ihre Signatur gibt. Das Leben zur Ehre Gottes und die christliche Lebens- und Weltgestaltung gründen im Glauben an Gott, der in Jesus Christus sein eigenes Leben zugunsten des Menschen eingesetzt hat. Der Mensch ist dazu geschaffen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben dem Schöpfer und Bewahrer seines Lebens zu antworten, sich vor ihm zu verantworten und ihm dankbar zu entsprechen. Geschaffen zur Antwort, versteht der Mensch sich selbst recht nur in Beziehung zu Gott und zur ihn umgebenden Schöpfung – insbesondere zum anderen Menschen.
Die Kirche Jesu Christi existiert mitten in einer Welt, in der Armut und Reichtum, ungerechte und gerechte soziale Verhältnisse erkennbar und identifizierbar sind. Von Anfang an gehört zu den Erkennungszeichen der Kirche Jesu Christi, Anwältin und Partnerin der Schwachen und der Hilfe Bedürftigen zu sein. Dies gilt für die Christenheit in ihrer weltweiten Dimension ebenso wie für die diakonische Arbeit an der Linderung der Not vor Ort und in der eigenen Region. Die Diakonie, insbesondere in ihrer gemeindlichen Verankerung, gibt den Kirchen Profil.
2. Wirtschaft im Horizont des biblisches Zeugnisses
Wirtschaftliche Fragen gehören in das Zentrum des christlichen Glaubens und sind bereits ein wesentliches Kapitel der biblischen Theologie. Im Alten Testament werden mit Schuldenrecht, Zins, Kredit und Insolvenz konkrete wirtschaftliche Themen angesprochen und für sie Kriterien des gerechten Handelns und Urteilens bereitgestellt (vgl. Ex 22; Dtn 24). Auf diese Weise soll das soziale und religiöse Zusammenleben der Menschen in Israel intakt gehalten werden. Die Menschen sehen sich durch Gottes Zuwendung zu ihnen im Bund vom Sinai und den Weisungen der Tora verpflichtet, ihr Leben in Treue zu ihrem Befreier zu gestalten. Eine der zentralen wirtschaftlichen Grundregeln ist die Einführung des Jobel- bzw. Erlassjahres in Dtn 15. Darin wird verfügt, in regelmäßigen Abständen alle Schulden zu erlassen, um auf diese Weise das fortgesetzte Ansammeln von Vermögen bzw. Schulden zu unterbinden. Auch in anderen Texten wird die Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der Armut und der Existenz des wirtschaftlich Bedürftigen gesehen. Der Arme hat Anspruch darauf, dass ihm Recht widerfährt (Am 2,6), ihm kommen die Solidarität der Volks- und Religionsgemeinschaft (Jes 58,1-12; 61,1-11) sowie konkrete Ermäßigungen und Erleichterungen zu (Ex 22,24; 23,10f.; Lev 5,7-13; Dtn 23,20f.; 24,19-22; Neh 5,1-13). Das Zeugnis des Neuen Testaments berichtet davon, dass Jesus an das Konzept vom Jobeljahr anknüpft (Lk 4,19). Weiter ist die Rede von Jesu besonderer Sendung zu den Armen (Mt 11,5; 25,40; Lk 4,18; 16,19-31; 18,18-27), von der Einsetzung der Armenpfleger in der christlichen Gemeinde (Apg 6), von der Selbstbezeichnung der Jerusalemer Urgemeinde als „die Armen“ (Gal 2,10) und von der Kollekte für die Armen (1 Kor 16; 2 Kor 8-9). Alle diese Notizen zeigen deutlich auf, dass Wirtschaftsfragen von den biblischen Texten benannt und kritisch im Sinne der Lebensdienlichkeit und der besonderen Aufmerksamkeit auf das Geschick des Armen reflektiert werden.
In der Urchristenheit standen die Finanzierung der Gemeinde, die Versorgung der Armen (Apg 6), der Finanzausgleich zwischen den Gemeinden (vgl. 2 Kor 8f.), der Umgang mit Sklaven und das Verhalten der Reichen gegenüber den Armen beim Abendmahl (vgl. 1 Kor 11,17-34) auf der Tagesordnung. Um des Evangeliums willen ging es nach Paulus bei diesen Herausforderungen um das Selbstverständnis der entstehenden Gemeinden. Verkündigung, Gemeinschaft, Gemeinde und Diakonie waren untrennbar miteinander verbunden. Diese biblische Sensibilität für wirtschaftliche Fragen griffen die Christen der ersten Jahrhunderte auf. So verstand sich etwa Johannes Chrysostomus als Anwalt der Armen, benannte die Barmherzigkeit als Kennzeichen der Menschlichkeit und erklärte, dass im Armen Jesus Christus selbst begegnet.[3]
Ein neuralgischer Punkt war die Zinsfrage. In aristotelischer Tradition und in Anknüpfung an das biblische Verbot des Wuchers war Christen das Zinsnehmen verboten. Bereits die entsprechenden biblischen Texte treten dafür ein, dass die Notlage der Armen für den wirtschaftlichen Gewinn der Reichen nicht ausgenutzt werden dürfe (vgl. Ex 22,25; Lk 19,23) – ein Anliegen, das in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Globalisierung und der mit ihr verbundenen Verschuldungskrise virulent bleibt.
3. Wirtschafts- und sozialethische Konzepte in der Reformation
In zahlreichen Städten des Spätmittelalters lebte ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung in Armut und war angewiesen auf Bettelei, die von der wohlhabenden Bevölkerung gefürchtet wurde. Nachdem sich in der Folgezeit die soziale Welt durch Geldwirtschaft und die Ausdifferenzierung der Stadtkultur tiefgreifend gewandelt hatte, ließen sich die sozialen Probleme nicht mehr mit den traditionellen Instrumentarien der evangelischen Räte – nämlich Klostereintritt, Almosen und gute Werke – lösen. Bettelei und Almosenvergabe unterlagen der humanistischen Kritik, die darin eine selbstverschuldete Abweichung von den frühbürgerlichen Tugenden Fleiß, Ordnung, Disziplin und Mäßigung sah. Außerdem gerieten Wirtschaftsgebaren und Armutsideal der Klöster in einen Gegensatz, mit dem die reformatorische Kritik abrechnete.
In der Reformation wuchs die Überzeugung, dass die Zuwendung zum Armen die Konsequenz der neuen Glaubensüberzeugung war, deren Betätigung in dankbarer Liebe sich vom Individuum hin zur Gemeinde verlagerte. Ferner schälte sich die Kontur dessen heraus, was der Antwortversuch des Calvinismus zur sozialen Frage werden sollte: Arbeit, bescheidener, sparsamer Lebensstil und Geschwisterlichkeit – Tugenden, die sich nun sukzessiv durchsetzten und die Armut jedenfalls in Teilen zu therapieren vermochten.
Mit seiner Kritik am mittelalterlich-monastischen Versuch, die soziale Frage zu lösen, stand Calvin durchaus in der Tradition Martin Luthers. Dieser hatte mit seiner Auffassung von der Gerechtigkeit Gottes die Werke ihres verdienstlichen Charakters entkleidet und die Armenfürsorge aus dem Bereich der Verdienste herausgelöst und der Glaubensexistenz zugeschlagen. Sein Ruf nach dem Ende der Bettelei in seiner Schrift an den Adel von 1520 sorgte dafür, dass die Einnahmen der Bettelmönche stagnierten und die Städte selbst soziale Verantwortung übernahmen.[4] Die Armenpflege der Klöster wurde vielfach kommunalisiert oder in die Verantwortung der christlichen Gemeinde gelegt. Auch wurden die alten Bettelordnungen durch verbindliche Armenordnungen abgelöst. Ein Ergebnis dieser Neuordnungsprozesse war die Einrichtung der Wittenberger Beutelordnung von 1520/21 und der Leisniger Kastenordnung von 1523. Neben der Innovation blieb aber bei Luther ein konservativer Grundzug, indem er in der Leibeigenschaft des Feudalismus keinen Grund zur Armut erkannte. Ihre Aufhebung wäre kein evangelisches Ziel, vielmehr würde man durch die Abschaffung der Leibeigenschaft die christliche Freiheit profanisieren.[5] Auch wenn Luther die Überzeugung vertrat, dass Gott für ihn ein Gott der Armen und nicht der Reichen sei, schien er doch weniger an die materielle denn an die geistliche Armut aus der Bergpredigt zu denken. Ein eigenes, vom Evangelium her profiliertes und den sozialen Umständen entsprechendes Instrumentarium in der Armenfrage hat Luther jedenfalls nicht geschaffen. Auf dem Weg zu einem geistlichen Diakonat in der Verantwortung der ganzen Gemeinde bedurfte es weiterer Impulse, um die Armut als Thema reformatorischer Ekklesiologie und Sozialethik zu entdecken.
Diese Impulse kamen aus der Schweiz und Oberdeutschland. Zwingli diagnostizierte die Armut u.a. als Folge des schweizerischen Söldnerwesens. Der oftmals freiwillig eingegangene Dienst in fremden Armeen würde das soziale und wirtschaftliche Gefüge des Landes zerstören, indem wehrkräftige Männer für unbestimmte Zeit abgezogen und mit erbärmlichem Sold zurückgeschickt würden. Aus seiner Kritik an der Monopolwirtschaft, der Währungspolitik, den hohen Steuern und dem Bodenzins erwuchs sein Aufruf zu einer grundlegenden Reformation von Kirche und Gesellschaft.[6] Ein vergleichbares Verständnis für die Forderungen der Bauern brachte der junge Martin Bucer auf. Er legte sein Interesse an der Situation des Armen im „Gesprechsbiechlin“ von 1521 erzählend nieder, indem er einen Bauern seine Armut berichten und dessen Ursachen in der feudalen Ausbeutung benennen ließ.[7] Hier deutet sich an, was wenige Jahre später zur politischen Forderung werden sollte, als im Straßburg Katharina Zell, Wolfgang Capito und Bucer Erbarmen mit den Armen forderten. Praktische Konsequenz dieses Eintretens war u.a. die Maßnahme, die Stadttore Straßburgs für Flüchtlinge vom Land zu öffnen. Eine hervorgehobene Rolle in der Armenpflege spielte übrigens Katharina Zell als Hauptrepräsentantin eines neuen weiblichen Diakonats. Straßburg war zugleich der Ort, an dem die Wurzeln von Calvins Sozialethik lagen.
4. Calvinismus und Kapitalismus
Große öffentliche Popularität besitzt die vom Soziologen Max Weber vertretene Auffassung, dass ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus bzw. wirtschaftlichem Erfolg und Calvinismus bestehe.[8] Die angebliche innerweltliche Askese der Calvinisten trage gemeinsam mit der doppelten Prädestinationslehre zwangsläufig zum wirtschaftlichen Erfolg bei. Im Anschluss an Weber beschreibt Ernst Troeltsch Calvin als Typus, der mit seinem Denken die wirtschaftliche Entwicklung befördert habe.[9] In zahlreichen Lexika wird die These von der inneren Konsequenz zwischen Calvinismus und moderner Geldwirtschaft oftmals kommentarlos rezipiert und in den Rang einer unwiderlegten Erkenntnis erhoben. Doch Webers Rückführung des Geistes des Kapitalismus auf die sogenannte calvinistische innerweltliche Askese und das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg als Erwählungsgewissheit hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Die Überlegungen, die Calvin zur Frage der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und des Verhältnisses zwischen dem Armen und dem Reichen beigesteuert hat, sind keineswegs auf einen gleichsam entfesselten Kapitalismus ausgerichtet. Angesichts der populären Max-Weber-These, aber auch angesichts der wirtschaftsethischen Herausforderungen der Gegenwart bedarf es der Einsicht in Calvins theologische Argumentation, um zu einer begründeten Einschätzung des klassischen reformierten Beitrags zur Wirtschaft- und Sozialethik zu gelangen.
5. Calvins Überlegungen zu Armut und Reichtum am Beispiel seiner Deuteronomium-Predigten
Aufmerksam nimmt Calvin die sozialen Wirkungen der Wirtschaft in Genf wahr. „Fast alle, denen ihr Vermögen größere Ausgaben gestattet, haben an üppigem Glanz ihr Vergnügen“ – mit diesen Worten unterzieht er den kostspieligen Lebenswandel der Reichen einer Kritik und wirft ihnen vor, die christliche Freiheit zu pervertierten.[10] Die Genfer Situation um 1555 ist bestimmt durch einen beginnenden ökonomischen Aufschwung, an dem die zugezogenen Flüchtlinge erheblichen Anteil haben. Die Negativseite dieses Aufschwungs sind zunehmende soziale Spannungen, Integrationsprobleme der zumeist armen Flüchtlinge, Wohnungsnot, mangelnde Absatzmöglichkeiten für das Handwerk, Geldmangel, Schuldenlast und inflationäre Tendenzen. Genf ist eine Stadt im Umbruch mit einer disparaten sozialen Struktur, die das Faktum der Armut weiter Bevölkerungsteile in sich schließt. Die Antwort des christlichen Glaubens ist gefordert. Calvins wirtschaftsethische Überlegungen verdanken sich der theologischen Grundentscheidung, dass alle menschlichen Beziehungen und jegliche menschliche Tätigkeit unter der Herrschaft Gottes stehen, dem sich alles Zusammenleben und Tun verdankt. In christlicher Freiheit soll das individuelle und das kollektive Leben gestaltet werden, um darin Gott zu ehren und ihm Dankbarkeit entgegenzubringen. Diese Grundentscheidung hat besondere Relevanz für das Zusammenleben der Armen und der Reichen. Ausgehend von der Verpflichtung des Reichen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben dem Armen zu helfen, versucht Calvin, das Leben des Armen und des Reichen unter Anleitung der Schrift zu durchdringen. Signifikant tritt seine theologische Reflexion von Armut und Reichtum in den Deuteronomium-Predigten der Jahre 1555/56 zutage.
1) Am umfassendsten bringt er die Armut in der Predigt über Deuteronomium 15,11-15 vom 30. Oktober 1555 zur Sprache, einem Text über das Erlassjahr und die Freilassung der Sklaven.[11] Ausgehend von der Erklärung, dass der biblische Satz „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Dtn 15,11) keinesfalls ein fatalistisches oder resignatives Armutsverständnis formuliere, macht Calvin auf folgenden Sachverhalt aufmerksam: Resignation angesichts der Existenz des Armen sei mehr als nur eine Nachlässigkeit. In ihr manifestiere sich die Sünde der Lieblosigkeit, der Selbstimmunisierung vor der Armut und der Vermeidung der Begegnung mit dieser. Gott aber habe das Wort von der fortdauernden Armut darum sagen lassen, damit der Christ das Notwendige zum Kampf gegen die Armut wirklich tue statt über sie nur sophistisch zu räsonieren. Calvin entzieht das Faktum der Armut der romantisierenden Überhöhung und ruft zu ihrer Abschaffung auf. Doch wie ist das Wort von der bleibenden Realität der Armut zu verstehen? Calvin deutet es nicht als Fortschreibung des Status quo, sondern theologisch als Hinweis auf ein den menschlichen Erklärungen und Theorien entzogenes Geheimnis Gottes. Dieses Geheimnis, das in der Existenz des Armen offenbar wird, will als Faktum wahrgenommen werden, das sich letztlich der Entschlüsselung entzieht. Es handelt sich, so spitzt Calvin zu, um ein Geheimnis, das nicht deprimieren und lähmen, sondern dem Glauben entgegenführen will.
Calvin sucht nach einem theologisch gangbaren Weg, nicht den Armen und seine Armut an sich, sondern den Armen in seiner Beziehung zu Gott und in seiner Beziehung zum Reichen zu verorten. Er gelangt zu folgender Verhältnisbestimmung: Als Herr des Armen und zugleich des Reichen will Gott den Reichen prüfen. Da dieser seinen Reichtum von Gott selbst erhalten habe, müsse er sich davor hüten, seinen Reichtum als Machtinstrument gegen seinen Nächsten einzusetzen. Die Prüfung des Reichen hat noch eine weitere konstruktive Seite: Der Reiche soll erkennen, dass Gott im Armen seine Freigebigkeit und Liebe zum Armen herausfordert. Umgekehrt wird aber auch der Arme einer Prüfung unterzogen, indem er in Geduld sein Geschick meistern und nicht durch Raub oder Betrug lindern soll. Der Gedanke der göttlichen Pädagogik umfasst somit beide, den Armen und den Reichen. Doch jenseits aller Deutungsversuche bleibt die Armut ein Geheimnis, das sich in Calvins Erklärung zu einem herausfordernden Thema der rechten Gottesverehrung, also des praktischen Christentums, wandelt. Gott schickt den Armen als Boten seiner selbst, damit der Reiche gleichsam Gott in die Hand gibt, was er dem Armen zuwendet. Der theologische Gewinn dieser Deutung liegt auf der Hand. Der Arme und der Reiche werden in präziser Weise aufeinander bezogen: Der Reiche bedarf existentiell des Armen. Sein Dasein ist für den Reichen mehr als nur eine materielle Herausforderung. Die Armut ruft den Reichen und die ganze christliche Gemeinde zur Deutung der eigenen Existenz im Angesicht Gottes auf.
Vordergründig kann kritisch eingewandt werden, dass sich hinter dieser theologischen Denkfigur Spuren einer sozialkonservativen Bestätigung von ungerechten Verhältnissen verberge, deren Änderung nicht intendiert sei, sondern durch die religiöse Überhöhung der Armut sanktioniert werde. Tatsächlich warnt Calvin vor der revolutionären Befreiung aus der Armut.[12] Aber er benennt auch praktische Konsequenzen: Anstelle der Bettelei sollen Spitäler, Waisenhäuser mit Kinderunterricht und Armenhäuser errichtet werden, was übrigens in Genf schon seit 1535 geschah. Das geistlich gestaltete Diakonat, verstanden als Verwaltung von Spenden und als direkte Hilfe, unterstreicht Calvins Impulse zur Bekämpfung und Überwindung der Armut.[13] Ohne Diaconia gibt es nach diesem Verständnis keine Ecclesia. Doch auch mit der besten Armenordnung und den entsprechenden Institutionen ist die Frage der Armut noch nicht gelöst. Calvin schärft ein, dass die christliche Gemeinde den Armen nicht als Armen an sich, sondern als ihren Armen zu erkennen habe: „Es hat einen Grund, dass unser Herr sagt: Dein Armer, dein Bedürftiger, der im Lande weilt. (...) Es sind unsere Armen (...) Unser Herr ist’s, der sie uns darbietet.“[14] Es bleibt ein Stachel im Fleisch der christlichen Gemeinde, dass der Arme und der Reiche einander begegnen, als von Gott Verbundene und aneinander Gebundene Gemeinschaft haben und durch ihre Existenz Gott ehren sollen. Da beide einander bedürfen, ist die Beseitigung ihres Gegensatzes oberstes Gebot. Es gilt ferner zu verhindern, das Thema Armut so zu objektivieren, dass ein Gemeinwesen nach Armut und Reichtum klassifiziert und die Person des Armen verschwiegen, marginalisiert und dem Reichen gleichsam entzogen wird. Begegnung, Kommunikation, Empfangen und Geben, Teilgeben und Teilhaben – das sind die Dimensionen, in denen sich das Leben aller vor Gott vollziehen soll, damit „beide Gott preisen, wenn der Reiche hat, Gutes zu tun, und der Arme dafür dankt“.[15] Der Arme und der Reiche in je ihren eigenen Möglichkeiten bilden einen lebendigen Organismus, in dem ihre Communio geradezu als „geistliches Wunder“[16] erscheint. Im Hintergrund dieses Modells steht die Erkenntnis, dass alle Güter als Gottes Gaben nicht der freien Verfügung anheim gestellt sind, sondern anvertrautes Eigentum sind, um dem Nächsten daran zum gemeinsamen Nutzen Teil zu geben.[17] Communio und Humanitas bezeichnen neben der Ehre Gottes den zweiten Brennpunkt von Calvins sozialethischen Predigten. Calvins Impuls zielt auf die Existenz des Armen und des Reichen in ihrer Communio und Humanität vor Gott – ein Impuls, der den Reichen fragen lässt: „Was, wenn ich jetzt in Not wäre?“ Calvins Antwort: „Wir sollen menschlich sein.“[18] Der Mensch ist hier gedacht als humanes und kommunitäres Wesen.
2) In seiner Predigt über Deuteronomium 24,14-18 vom 10. Februar 1556 knüpft Calvin an den Gedanken der Humanität an.[19] Er widmet sich der konkreten Situation des Umgangs mit Armen in ihren Arbeitsverhältnissen, ergreift für diejenigen Partei, denen der Lohn vorenthalten wird, und begründet theologisch das Recht auf gerechte Entlohnung, da Gott die Rücksicht auf die Not jedes Einzelnen geboten habe. Die Goldene Regel aufgreifend heißt es, dass sich der Reiche in den Armen hineinversetzen und sein Verhältnis zum Armen in Billigkeit ordnen soll. Das sozialethische Problem ist eine Herausforderung für den Glauben und steht im Horizont der Gerechtigkeit vor Gott: „Die Schreie der Armen (müssen) wohl zum Himmel steigen, und denken wir nicht, vor Gott unschuldig gefunden zu werden.“[20] Weil Gott die Sache der Armen zu seiner Sache macht, würde der Reiche gegen Gott selbst rebellieren, wenn er das Recht des Armen missachtet und seine Humanität nicht betätigt. Das Erbarmen mit dem Armen soll somit zum Kennzeichen der Humanität des Reichen werden.
3) Sachlich analog ist die Predigt über Deuteronomium 24,19-22 vom 11. Februar 1556 gestaltet.[21] Fünf Aspekte hebt Calvin hervor. Erstens: Gott hat den Reichen die Güter anvertraut, um ihnen durch ihren Wohlstand die Möglichkeit zu geben, den Nächsten in Armut daran teilhaben zu lassen. Der Arme und der Reiche werden im engen gegenseitigen Bezug als aufeinander verwiesene und weder vor Gott noch in der christlichen Gemeinde getrennte Personen verstanden. Der Grund für diese Bezogenheit liegt darin, dass sich aller Reichtum Gott verdankt und darum zum Nutzen des anderen einzusetzen ist. Gottes Bund mit den Menschen zielt auf die menschliche Humanität in der gegenseitigen Fürsorgepflicht. Zweitens: Die empfangenen Gaben schließen den Reichen mit Gott als ihrem Geber zu einem Bund zusammen, der von der Dankbarkeit bestimmt ist. Dieses Gottesrecht schließt die Praxis einer humanen Ordnung ein, die für den Armen und für den Reichen Konsequenzen hat: für den Armen, dass er sich nicht gewaltsam die Güter aneignen darf; für den Reichen, dass er zur Teilgabe seiner Güter verpflichtet ist. Gottesrecht und menschliche Ordnung rücken in einen Zusammenhang, der sich gegen jeden Moralismus sperrt und die Existenz des Armen und des Reichen als gegenseitige verheißungsvolle Aufgabe beschreibt. Drittens: Der Reiche lebt mit seinen spezifischen Gefährdungen der Habgier, des Geizes, der Selbstherrlichkeit und des mangelnden Dankes gegenüber Gott. Diese Gefährdungen werden von Calvin als Sünde enttarnt und ihnen das Empfangen des Lebensnotwendigen als Segen aus Gottes Hand gegenübergestellt. Viertens: Die im Gedanken der Gottesebenbildlichkeit gründende Gemeinschaft von Armen und Reichen in der Gemeinde Christi zielt auf eine Communio Sanctorum, die noch nicht verwirklicht ist. In dieses Bild von Gegenwartsanalyse und Zukunftsvision wird die Kategorie der Erinnerung eingetragen: Ägypten, die Armut der Israeliten und der Exodus werden zum Erinnerungsbild für Bedürftigkeit und Armut, aber auch für Rettung und die Verheißung von Land und Besitz. Innerhalb des biblischen Kontextes von Ägypten, Exodus, Sinaibund und Landnahme, in dem sich Gott den Menschen zusagt und verpflichtet, sollen sich der Reiche als Beschenkter und der Arme als Geretteter wiedererkennen. Fünftens: Der letzte Grund für Nächstenliebe und Humanität liegt in der gemeinsamen menschlichen Grundsituation der elementaren Bedürftigkeit. Gemeinsam stehen alle vor Gott als Bedürftige, denen das in Jesus Christus eröffnete neue Leben zugesagt wird. Wahre Humanität wird von der Menschlichkeit Gottes her ermöglicht.
Deutlich schält sich Calvins sozialethischer Grundgedanke heraus: Einerseits fordert Gottes Menschlichkeit die Humanität des Menschen heraus. Andererseits werden die Menschen ungeachtet ihres ökonomischen Status vor Gott als in einem grundlegendem Sinn Bedürftige identifiziert. Wahre Humanität ist eine Humanität der Bedürftigkeit. Sie beruht auf dem verkündigten Wort von der Menschwerdung und Menschlichkeit Gottes und ist darin eine Humanität, die primär im Evangelium gründet und nicht im moralischen Appell.
6. Calvins Stellung zu Geld, Eigentum und Zins
Wenn Calvin die Sprache auf Eigentum und Geld bringt, geht er von einer wichtigen Voraussetzung aus: Eigentum heißt, dass etwas Gott gehört. So verhält es sich schon mit den Menschen selbst. Sie gehören Gott und sind mitsamt ihren je persönlichen Gaben und ihrem Besitz Gottes Eigentum. Von hier aus bezieht Calvin Stellung zum materiellen Eigentum. In Genf redet man über Geld. Wirtschaftliche Fragen werden nicht tabuisiert, sondern sind ein Thema, das die Menschen angeht. Geld und Besitz stehen bei Calvin nicht unter negativem Vorzeichen. Vielmehr zeichnet sich seine Haltung durch eine Nüchternheit aus, in der Geld und Eigentum weder verklärt noch verdammt werden. Er behält beides im Blick: die oftmals verzweifelte Situation des Armen und die Logik des Marktes, zu der auch eine maßvolle Zinswirtschaft gehört. Und er erteilt der mittelalterlichen Lösung des Mönchtums, dass die selbstgewählte Besitzlosigkeit einen besonderen Vorzug bei Gott erwirke, eine Absage. Das wird deutlich in seiner Auslegung der Perikope vom reichen Jüngling (Mt 19,16-26 parr.), auf die sich regelmäßig die mittelalterliche Mönchstheologie berief.[22] Calvin schlägt einen neuen Weg der Wirtschaftsethik ein, indem er betont: Christus fordert keineswegs prinzipiell zum Verkauf aller Güter auf – dies kann gar der Eitelkeit Vorschub leisten –, sondern will bewahrt wissen, was Gott den Menschen in die Hand gegeben hat. Darum ruft Calvin den Menschen dazu auf, „Gottes Gaben ohne Gewissensbedenken … zu gebrauchen”.[23] Er erklärt sogar, dass Güter und Reichtümer dem Gebrauch der Menschen überlassen sind und es nirgends untersagt ist, neuen Besitz zu erwerben. Allerdings gibt er auch Regeln für den Gebrauch der Freiheit, indem er davor warnt, die christliche Freiheit durch frivolen Luxus, Verschwendung der anvertrauten Güter oder Gier zu verderben.[24] Damit macht er auf die Sozialverträglichkeit der Freiheit aufmerksam: Weder hemmungsloser Gebrauch der Freiheit noch der unbedachte Verzicht auf sie vertragen sich mit ihrem christlichen Verständnis. Freiheit ist nach Calvin gebundene Freiheit – gebunden durch den Willen des Befreiers und darum auch gebunden an den anderen Menschen. Freiheit darf nach Calvin nie gegen andere Menschen, sondern soll nach dem Maßstab der Liebe zu ihren Gunsten gebraucht werden – es ist die Rede vom „Maßhalten in der Freiheit“.[25]
Geld, Besitz und Reichtum sind also keine Hindernisse für den Eingang ins Gottesreich. Vielmehr steht dieses den Armen und den Reichen offen. Und Eigentum ist insofern für sich genommen zunächst einmal unproblematisch, als er letztlich eine Gabe Gottes ist. So kann Calvin auch die Vorzüge des Besitzes loben und etwa die Schönheit von Kleidung oder die Wirkung von Kosmetika hervorheben. Freude an diesen Gaben Gottes, nicht aber Argwohn bestimmt seine Ansicht. Reichtum einfach wegzuwerfen ist noch keine besondere Leistung. Die Liebe aber, zu der der kluge Umgang mit den Gaben, die Freigebigkeit und die Großzügigkeit gehören, ist der Maßstab für den Gebrauch von Besitz und Geld. Calvin mahnt in seiner Genesis-Auslegung: „Hüten wir uns, dass nicht der Reichtum uns beschwere und hinderlich werde auf dem Weg zum Himmelreich!“[26] Zur Liebe als Maßstab für den Umgang mit Geld und Besitz tritt die Dankbarkeit hinzu: Die Gaben sollen mit Dank empfangen und eingesetzt werden. Und in der Auslegung des Gleichnisses vom reichen Kornbauern schreibt Calvin: „Darum haben es alle nötig, sich selbst wach zu machen, damit sie sich nicht aufgrund ihres Reichtums für glücklich halten.“[27] Damit ein Leben gelingt, bedarf es noch anderer Güter als des wirtschaftlichen Wohlergehens. Damit warnt Calvin davor, sein Vertrauen auf irdische Dinge zu setzen und dabei den Geber der Gaben zu übersehen.
Schließlich bricht Calvin mit dem seit der Antike verbreiteten Satz, dass Geld kein Geld erzeuge. Er hält es für sinnvoll, Geld als Startkapital für Unternehmer zur Verfügung zu stellen und eine Wirtschaftsförderung durch Kredite zu ermöglichen. Auf diese Weise fördert er die Integration qualifizierter Kleinunternehmer und Kaufleute, die z.T. als mittellose Flüchtlinge nach Genf gekommen waren. Diese Maßnahmen berühren sich mit der Frage des Zinsnehmens. Der von Calvin ausgehende reformierte Weg in der Zinsfrage zielt einerseits auf eine Regelung gegen die weit verbreiteten und ungerechten Wucherzinsen und muss andererseits die biblische Stellung zum Zinsnehmen (vgl. Lk 6,34) beachten. Calvin bestreitet, dass die Bibel ein totales Zinsverbot fordert, und tritt dafür ein, dass Geld ebenso wie anderer Besitz Gewinn bringen dürfen. Zinsen können sogar ein ökonomischer Anreiz sein, Geld produktiv anzulegen. Vor allem aber fordert Calvin den gerechten Umgang mit dem Zinsnehmen ein: Nur wer wirtschaftlich dazu imstande ist, muss Zinsen zahlen; von Armen hingegen soll kein Zins genommen werden. Darüber zu wachen und die Zinshöhe festzulegen ist Aufgabe des Staates.
Zusammenfassend lässt sich erstens feststellen, dass sich Eigentum als gute Gabe Gottes seinem Segen verdankt und in freier Verantwortung genossen, eingesetzt und weitergegeben werden darf. Dies soll nach dem Maßstab der Liebe und in der Haltung der Dankbarkeit für das anvertraute Eigentum geschehen. Die gegenseitige Mitteilung der Gaben in der Gemeinde beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Eine Zwangsenteignung würde diesem Denken, das ausdrücklich das Eigentumsrecht vertritt, zutiefst widersprechen. Auch wenn zweitens die Unterschiede zwischen Besitzenden und Armen bestehen bleiben, soll aber ihr Gegensatz überwunden werden. Das heißt konkret: Habgier, Verachtung des Armen und ein frivoles Protzen mit Luxus widersprechen dem Prinzip der Liebe, nach dem der Besitz gebraucht werden soll. So streitet Calvin gegen jede Praxis, die dem ärmsten Teil der Bevölkerung schaden könnte. Ihm liegt am Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und sozialer Gerechtigkeit. Drittens bedürfen wirtschaftliche Regelungen wie das Zinsnehmen der gerechten Ausgestaltung, um ihre Legitimität zu wahren. Die legitime und keineswegs gottlose Geldwirtschaft muss mit dem biblischen Gebot der Sorge für den wirtschaftlich Schwachen in Einklang gebracht werden.
[1] K. Barth: Die Theologie Calvins. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922, hg. v. H. Scholl, Karl Barth-Gesamtausgabe, Abt. II, Zürich 1993, 123.
[2] Ebd., 121; ebd., 122: „Der Calvinismus ist der geschichtliche Erfolg der Reformation, weil er ihr Ethos ist.“
[3] Johannes Chrysostomus: Homilie 79 zu Mt 25,31-26,5, in: BKV2, Johannes Chrysostomus Bd. 4, Kempten/München 1916, 95-109.
[4] M. Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung (1520), WA 6,404-469.
[5] M. Luther: Ermahnung zum Frieden auf die Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (1525), WA 18, 326f.
[6] U. Zwingli: Wer Ursache zum Aufruhr gibt (1524), in: Huldrych Zwingli Schriften, Bd. 1, hg. v. T. Brunnschweiler, Zürich 1995, 353.355f.
[7] M. Bucer: Gesprechsbiechlin neüw Karsthans, in: Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 1: Frühschriften 1520-1524, hg. v. R. Stupperich, Gütersloh/Paris 1960, 406-444.
[8] M. Weber: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 91988.
[9] E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Ges. Schriften, Bd. 1, Tübingen 1912, 706.709.
[10] Inst. III,19,9.
[11] CO 27,336-349.
[12] Inst. IV,3,3.
[13] Vgl. Calvins Genfer Kirchenordnung von 1561, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 256-259.
[14] CO 27,342.
[15] Ebd.
[16] G.W. Locher: Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, Zürich 1962, 38.
[17] Inst. IV,1,3, wo Calvin erklärt: Wenn der Glaube lebendig ist, dass Gott der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, sei es eine Selbstverständlichkeit, dass sie gegenseitig den Besitz mitteilen; vgl. auch Inst. III,7,5.
[18] CO 27,347f.
[19] CO 28,187-198.
[20] CO 28,190.
[21] CO 28,198-211.
[22] CO 45,539f.
[23] Inst. III,19,8.
[24] Inst. III,19,9.
[25] Inst. III,19,10-14, hier bes. Inst. III,19,12.
[26] Zu Gen 13,1, in: CO 23,189.
[27] Zu Lk 12,16ff., in: CO 45,385.
©Prof. Dr. Matthias Freudenberg, Wuppertal