Gesetzliches Leben und von Gott verheißene Freiheit - Predigt zu Galater 4,21-31

von Hans Theodor Goebel


© Andreas Olbrich

"Man muss sich nicht auf die Tora berufen, um „gesetzlich“ zu leben. Menschen unterwerfen sich auch ohne Tora – gleichsam als Heiden (die sie waren oder wieder neu werden) – einem selbst aufgerichteten Gesetz. Menschen machen sich zu Sklaven ihres Ich. Sie dienen ihrem Ich und seinen Ansprüchen, seinem unersättlichen Antrieb oder auch Trieb. Bis zur Selbstzerstörung kann das gehen. Als versuchten sie, einen Stein den Berg hinauf zu rollen, der Stein aber rollt immer wieder auf sie zurück und überrollt sie. Das ist die heidnische Knechtschaft unter der ‚Weltmacht’, unter dem System des eigenen Ich."

Galater 4,21-31

 

21     Sagt mir, die ihr unter dem Gesetz – unter der Tora – sein wollt, hört ihr die Tora nicht?

22    Es steht doch geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien.

23    Der nun von der Magd - ist gezeugt nach dem Fleisch, der von der Freien - kraft der Verheißung.

24    Das ist sinnbildlich gesprochen. Denn diese Frauen bedeuten zwei Bundesschlüsse. Den einen vom Berg Sinai, der in die Knechtschaft gebiert. Das ist Hagar.

25    Hagar bedeutet nämlich den Berg Sinai in Arabien und ist gleichzusetzen dem heutigen Jerusalem; das lebt nämlich mit seinen Kindern in der Knechtschaft.

26    Das Jerusalem droben aber, das ist eine Freie. Das ist unsre Mutter.

27    Denn es steht geschrieben: Freue dich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst! Brich in Jubel aus und schreie, die du nicht in Geburtswehen liegst! Denn viele Kinder hat die Einsame, mehr als die, die den Mann hat.

28    Ihr aber, Brüder, seid - wie Isaak -  Kinder der Verheißung.

29    Indes wie damals der nach dem Fleisch Gezeugte den verfolgte, der nach dem Geist gezeugt war, so ist es auch jetzt.

30    Doch was sagt die Schrift? Wirf hinaus die Magd und ihren Sohn. Denn nicht wird erben der Sohn der Magd mit dem Sohn der Freien.

31    So sind wir nun, Brüder, nicht Kinder der Magd, sondern der Freien.

1.

Die Freiheit ist Thema des Galaterbriefs – auch in unserem Predigttext. Warum muss Paulus sie zum Thema machen? Und wir in unseren Predigten über seinen Galaterbrief? Weil sich die Freiheit nicht von selbst versteht. Sich im christlichen Glauben jedenfalls nicht von uns selbst her versteht. Und weil darum die Freiheit auch gefährdet ist und verloren gehen kann - verraten durch uns selbst.

2.

Der Apostel hatte in die Gemeinden Galatiens  die Botschaft der Freiheit gebracht. Eine kühne Botschaft – wie die Menschen wahrscheinlich empfanden: Besagte sie doch: Die Zwänge, denen euer Leben unterworfen ist, sind aufgehoben. Die Gesetze, die euer Leben einengen und denen ihr euch unterworfen habt, sie gelten nicht mehr. Sie sind selbst gemachte Götter. Mächte der Welt.

Solange ihr ihnen dient, lebt ihr am lebendigen Gott vorbei. Und lebt auch an euch selbst vorbei. Verfehlt euch selbst. Verfehlt das Leben in euerm Leben. Den Forderungen des Gesetzes immer nachhecheln und sie doch nicht erfüllen können – das ist ein Fluch, der dich endlos um dich selbst rotieren lässt. Immer jagst du hinter deinen eigenen Ansprüchen her. Und genügst dem Gesetz nie. Dieser Verdammung kannst du nicht entrinnen.  Aber nun hat die Stunde der Mächte dieser Welt geschlagen. Die Götter müssen abtreten. Sie haben ihre Macht über euch und ihr Recht an euch verloren.

Wie war Paulus zu dieser Botschaft gekommen? Er hatte – wie er selbst schreibt – den Galatern den Gekreuzigten vor Augen gemalt. Aus diesem Bild hatte er selbst die Botschaft von der Freiheit herausgelesen: Verflucht ist, der da am Kreuz hängt. Und das ist der Sohn Gottes selber. Er, der Eine, der Gottes Gesetz doch ganz anders verstanden hatte, nämlich als Gesetz der Freiheit. Der Freiheit zu lieben. Denn die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes, wie Gott sie gemeint hat.

Warum hängt er, der Eine, in dem Gott mit seiner Liebe war, so verflucht am Kreuz? Da, wo doch gerade er gar nicht hingehört? Die Liebe hat ihn ans Kreuz gebracht, die Liebe hat ihn in die Lieblosigkeit und Feindschaft unsrer Welt gebracht. Gott wollte gerade da sein.  Mit seiner Liebe setzte er selbst sich unsrer Welt aus. Er ertrug ihre Lieblosigkeit. Um sie mit seiner Liebe zu durchbrechen.

Es ist seine Liebe die uns frei macht von uns selbst und von dem Fluch des Gesetzes. Keine unerfüllte Forderung des Gesetzes darf sich mehr zwischen uns und Gottes Liebe drängen. Davon seid ihr frei gemacht.

Vielleicht war den Galatern die Botschaft der Freiheit zu kühn gewesen. Die Luft der Freiheit zu dünn. Brauchte man für das alltägliche Leben nicht doch ein Geländer zum Festhalten? Wenn keine Ordnungen mehr eingehalten, keine Werte mehr hochgehalten, keine Riten mehr durchgehalten werden müssen, um zu Gott zu kommen – wo kommen wir denn dann hin? Ist vielleicht ein „Belohnungssystem“ Grundmuster unseres menschlichen Verhaltens? Läuft da ein Mechanismus ab, demzufolge uns die Erwartung auf Glück in Erregung und Bewegung bringt und dies und das tun lässt?

Leistung wird sich lohnen – sonst fällt ja aller Antrieb hin und vielleicht hält sich dann auch keiner mehr an die Moral. Auch die Religion lebt doch von diesem Muster. Leistung muss sich doch lohnen – das muss  Lebensgrundsatz sein. Ohne Fleiß keinen Preis.

In die galatischen Gemeinde waren fremde Missionare gekommen und hatten eine Hilfestellung angeboten: Die heidnischen Gesetze habt ihr zu recht abgetan. So mögen sie gesagt haben. Es gibt aber doch von Gott her ein Gesetz. Befolgt es einfach – jedenfalls bestimmte Lebensregeln wie die Beschneidung. Dann habt ihr ein sichtbares Bekenntniszeichen und einen Ritus und eine Ordnung. Dann habt ihr sozusagen den Selbsterweis erbracht, dass ihr zu Gott gehört. Zu seinem Volk. Zu seinen Kindern. So einer Ordnung müsst ihr euch schon verbindlich unterziehen. Wenn ihr aber gar nichts in der Hand habt, das ihr selbst vorweisen könnt und getan habt und zu dem ihr zurückkehren könnt als zu eurer eigenen Lebensentscheidung, dann hört die Unsicherheit nicht auf. Die Unsicherheit überfällt euch bei jedem Fehler, den ihr in euerm Leben macht.

Die Beschneidung liegt uns heute und hier  nicht nahe, aber vielleicht können wir uns  an der Beichte klar machen, wie so etwas wirkt. Aus dem Institut der Beichte mit seinem Schuldbekenntnis, der Lossprechung und der Bußleistung – kann man auch so einen Mechanismus machen, der einen sichert. Man unterzieht sich dem, wie vorgeschrieben – und die Unsicherheit ist weg. Die Galater waren auf die fremden Missionare eingegangen. Das war Paulus zu Ohren gekommen. Und hatte ihn aufgebracht.  Was macht ihr denn da? – fragt er die Christen damals. Und er fragt es uns heute.

Damit fallt ihr doch ins Heidentum zurück. In den Götzendienst. In die alten Zwänge, in die selbst gemachten Schemata. In das Muster der alten Weltordnung. Ob ihr nun Judenchristen seid oder Heidenchristen – ihr werdet allesamt Heiden, wenn ihr euch so wieder Halt bei  Gesetzen sucht. Bei dem, was ihr selber macht und entscheidet. Ihr seid dann wieder gefesselt in die Systeme der gottlosen Welt. Auch wenn ihr euch dabei auf den Gott Israels beruft.

3.

Hören wir, in welche Schule uns Paulus, dieser Lehrer aus Israel, einweist! An einer alten Glaubens-Geschichte macht er anschaulich, wie sich’s mit der Freiheit verhält:

Sagt mir, die ihr unter dem Gesetz sein wollt: Hört ihr nicht das Gesetz, die Tora?“ Es steht nämlich geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien.

Sara, Abrahams Frau, hatte ihrem Mann den Isaak geboren. Als Isaaks Mutter wurde sie die Stammmutter Israels. Aber die Geburt dieses von Gott verheißenen Sohnes hatte auf sich warten lassen. Die Zeit zog sich hin. Da hatte Sara die Sache in die eigene Hand genommen und zu Abraham gesagt: Geh doch zu Hagar, meiner ägyptischen Magd … Sie soll für mich gebären. Ihr Kind wird dann als mein Kind gelten. So war Hagar schwanger geworden und hatte den Ismael zur Welt gebracht.

Und nun waren da zwei Söhne Abrahams – und zwei Mütter. Wer war der legitime Erbe? Paulus versteht, wie er selbst schreibt, diese Geschichte als sinnbildlich: Hagar mit ihrem Sohn Ismael und Sara mit ihrem Sohn Isaak – sie stehen sich gegenüber wie Knechtschaft und Freiheit. Und zeigen in dieser Gegenüberstellung beider Wesen. Beide Kindschaftsverhältnisse stehen sich gegenüber wie „Fleisch“ und „Verheißung“. Der eine „gezeugt nach dem Fleisch“, der andere „kraft der Verheißung“.

Was heißt das? Paulus will damit zeigen, wie die Kindschaftsverhältnisse zustande kommen und wo sie hinführen. Bei Ismael, wo die Kindschaft in die Knechtschaft führt, kommt sie zustande durch menschliche Willkür. Durch selbstmächtiges verfügen und nicht auf Gott warten wollen. Da geht es nicht zu nach Gottes Geist. Da sucht sich das Fleisch, der menschliche Wille seine eigene Erfüllung. So hatten Sara und Abraham selbst einen Ausweg erdacht, zu einem Kind zu kommen. Nämlich über eine Nebenfrau – die ägyptische Magd Hagar.

Und Isaak? Dieser verheißene Sohn wird Sara und Abraham geboren, als das von ihnen her gar nicht mehr zu erwarten ist. Sind sie doch schon arg betagt. Isaak kommt geradezu als ein Wunder zur Welt. Die unfruchtbare Frau empfängt und gebiert in hohem Alter ein Kind. Das ist zum Lachen. Oder ein Geschenk, über dem Gott lächeln möge. Ganz und gar das reine Geschenk ist dieser Sohn Isaak. Alle Anstrengungen vorher, alle eigenen künstlichen Wege zu einem Kind zu kommen, sind hier überholt.

So ist es mit Kindern, die einfach geliebt werden. Frei von aller Vorleistung. Die Tochter- und Sohnschaft in Freiheit - hier kommt ihr Wesen an den Tag. Sie ist das reine Geschenk. Von Gott her. Darum heißt es: Ein Kindschaftsverhältnis kraft der Verheißung. Gott hat gegeben, was er zugesagt hat. Das lässt Gott lächeln und es lässt auch unser Gesicht lächeln, wenn wir es wahrnehmen.

So seid ihr dran, liebe Galater. Schreibt Paulus. Ihr seid Kinder der freien Frau. Die ist eure Mutter. Angenommen durch Gottes Liebe steht ihr ihm gegenüber als seine freien Töchter und Söhne, Menschen mit aufrechtem Gang auch vor den Mitmenschen. Und vor euch selbst. Durch Gottes Zusage seid ihr das. Ohne dass ihr euch das erdienen müsst

4.

Was aber hat es nun mit der Knechtschaft auf sich? Die Knechtschaft hat zu tun – so schreibt Paulus – mit dem Berg Sinai. Hier hat Gott seinem Volk sein Gesetz gegeben, die Tora. Als Lebensurkunde in dem Bund, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat: „Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein.“ Ich ganz allein, aber auch ganz gewiss euer Gott. So wird es sein. Und so werdet ihr leben mit meinen Weisungen.

Diese Lebensordnung Gottes aber ist den Händen von Menschen zu einem Instrument ihrer eigenen menschlichen Selbstverwirklichung geworden. Menschen verkehren Gottes gute Lebensordnung gegen deren Sinn. Gottes so genanntes Gesetz verlockt, es reizt sie dazu, statt kraft der Verheißung aus der Kraft eigenen Tuns leben zu wollen. Sich auf das zu berufen, was sie selbst zustande bringen. Da nehmen sie Gottes Weisungen als Vorschrift für Lebensleistungen, die sie erbringen müssen. Und Gottes Gesetz, das zum Leben dienen soll, wird ihnen zum Fluch, der sie auf sich selbst wirft und an dem sie ersticken.

Man muss nicht die von Menschen gemachte Beschneidung fordern. Als Bedingung dafür, zu Gott zu gehören. Man muss sich nicht auf die Tora berufen, um „gesetzlich“ zu leben. Menschen unterwerfen sich auch ohne Tora – gleichsam als Heiden (die sie waren oder wieder neu werden) – einem selbst aufgerichteten Gesetz. Menschen machen sich zu Sklaven ihres Ich. Sie dienen ihrem Ich und seinen Ansprüchen, seinem unersättlichen Antrieb oder auch Trieb. Bis zur Selbstzerstörung kann das gehen. Als versuchten sie, einen Stein den Berg hinauf zu rollen, der Stein aber rollt immer wieder auf sie zurück und überrollt sie. Das ist die heidnische Knechtschaft unter der ‚Weltmacht’, unter dem System des eigenen Ich.

Da vollzieht sich im Namen der Freiheit ein unheimlicher Umschlag der Freiheit in die Sklaverei. Reflektiert sich das nicht in unsrer „Arbeitsgesellschaft“, wo zuerst und zuletzt angeblich jeder selbst verantwortlich und selbst haftbar ist für das, was er aus seinem Leben macht? Und kann dem nicht entrinnen.

In einem Zeitungsartikel, der mich bei der Predigtvorbereitung beschäftigt hat, las ich, dass sich in Ländern wie Deutschland Menschen heute mehr und mehr über das definieren, was sie tun. Die Arbeit – wenn sie Arbeit haben - wird zur wichtigsten Quelle, aus der sie „Anerkennung schöpfen“ und Glück erhoffen. Menschen gehen in ihrer Arbeit auf. Rotieren in einem Laufrad ohne Stillstand. Nur: „Wenn …jeder selbst für sich verantwortlich ist, dann muss auch jeder selbst die Last des Erfolgszwangs tragen. Und manche brechen darunter zusammen“. So las ich in der Betrachtung der Zeitung (DIE ZEIT vom 8.7.2010 S. 21f). Was man für Freiheit hält: Ganz allein auf sich selbst angewiesen zu sein, kann gnadenlos sein und zum Fluch werden. Unter totalem Erfolgszwang erschöpft sich das Ich selbst.

Ich höre Paulus sagen: Ob ihr aus Gottes Lebensordnung ein religiöses Leistungsgesetz macht oder ob ihr in vermeintlicher Selbstbestimmung euch selbst zum Lebensgesetz macht – ihr verratet die Freiheit, die die Tora verheißen hat und zu der euch Christus frei gemacht hat. Ihr wollt unter dem Gesetz leben. Unter der Tora. Dann hört auf die Geschichte, die die Tora von Sara und Hagar erzählt und von ihren Söhnen. Hört auf die Verheißung Gottes in dieser Geschichte. Von ihr kommt die Freiheit in euer Leben.

Wir haben die Botschaft des Paulus nötig. Ich glaube nicht zuerst wegen fremder Irrlehrer in unseren Gemeinden. Ich habe diese Botschaft nötig, damit ich vor mir selbst geschützt werde. Vor der Selbstvergötzung. In der ich mir mich selbst zum Gesetz  mache. Wo ich mich selbst zum Weg und zur Wahrheit und zum Leben ermächtige, verrate ich die Freiheit an mich selbst. – Das Muster der alten Welt und seine Macht ist produktiv in mir selbst. Darum habe ich die Predigt des Paulus so nötig.

Die Freiheit und die Knechtschaft sind zwei Bundesschlüsse oder Testamente. Sagt Paulus. Zwei Leben bestimmende Systeme. Sie schließen einander aus. Auf der Knechtschaft liegt kein Segen. Darum muss die Knechtschaft und ihr Muster  ausgetrieben werden. So wie die freie Frau Sara die Magd Hagar mit ihrem Sohn vertrieben haben wollte.

5.

Ich möchte mir das von Paulus sagen lassen. Danach, wirklich erst danach aber, möchte ich fragen: Wie, lieber Paulus, wie bist du mit der alten Geschichte von den Müttern Sara und Hagar umgegangen? Ich lese in der hebräischen Bibel wohl, dass Hagar von Sara und Abraham in die Wüste vertrieben wurde. Gott lässt es ausdrücklich so geschehen und bekräftigt seine Zusage: Isaak und nicht Ismael ist der verheißene Segensträger, der Erbe und der Stammvater des Volkes Gottes.

Aber das ist hier ja nicht alles. Gott macht doch aus dieser Vertreibungsgeschichte eine Segensgeschichte für den Sohn der Ägypterin Hagar. Er selber, Gott, der Abraham und Isaak und Jakob erwählt, ihnen die Verheißungen und den Segen gegeben hat, dieser Gott macht Ismael zu einem Verheißungsempfänger eigener Art. Der Araber der Wüste von Gott gesegnet auf eigene Art neben Isaak/Israel.

Hast du, lieber Paulus, die Geschichte von Sara und Hagar, von Isaak und Ismael nicht amputiert, hast du aus ihr nicht den Segen für Ismael herausgeschnitten? Du hast nur erinnert an die harte Forderung Saras: Vertreib die Magd und ihren Sohn. Denn nicht wird erben der Sohn der Magd mit meinem Sohn Isaak – mit dem Sohn der Freien, wie du sagst.

Aber ist Ismael hier nicht geradezu der Repräsentant der Völker neben Israel, die in Abraham gesegnet werden sollen nach Gottes Verheißung? Alles wird nun aber noch verwirrender, wenn du sagst: Hagar, die vertriebene ägyptische Magd, stehe sinnbildlich für das Israel deiner Zeit, das heutige Jerusalem, und damit für die Knechtschaft. Und die Christen aus Juden und Heiden, also auch wir, seien die rechtmäßigen Kinder der Sara, die Kinder der Freien und so selbst frei – im Unterschied zum Judentum.

Die Christen Nachkommen der freien Frau Sara, Kinder der kommenden Stadt Jerusalem, in der Gott wohnt, und  die Juden Nachkommen der ägyptischen Magd Hagar? Die Forderung: „Vertreibe die Magd und ihren Sohn…“ beziehst du dann auf die Juden deiner Zeit. Als sollten die Christen jetzt die Juden austreiben, so wie du selbst in deiner vorchristlichen Zeit die Christen verfolgt  und in deinen Gemeinden selbst Christenverfolgung erlebt hast.

Was für eine ungeheure Verdrehung hast du da vollzogen. Warum nur, lieber jüdischer und christlicher Bruder Paulus? Gewiss, du hast Sara und Hagar mit ihren Kindern sinnbildlich verstanden. Warum aber hast du nicht gesehen, dass eine christliche Judenverfolgung dich beim Wort nehmen und dass die Kirche Israel aus seinem Erbe herausdrängen konnte?

Einige Zeit nach dem Galaterbrief, in deinem Brief an die Römer, hast du, so scheint es, selbst umgelernt und gesagt, dass Gottes Gaben und Berufung ihn nicht gereuen können und dass am Ende ganz Israel gerettet werde. Wenn der Erlöser aus Zion kommen wird. (Röm 11, 25-32).

Weil ich nicht verstehe, möchte ich dich fragen, lieber Paulus: War die sinnbildliche Ausdeutung der Sara-Hagar-Geschichte, wie du sie vornimmst, nötig für deine Predigt von der Freiheit, die nicht zusammen bestehen kann mit der Knechtschaft?  Erzählt uns die alte Geschichte, wenn wir sie ganz ausreden lassen, erzählt uns dein eigener Schriftbeweis nicht von der Verheißung für Israel und die Völker? Vom reinen Geschenk für beide? Du rufst uns doch zum Vertrauen - gerade darauf.

Amen.

Predigt über Gal 4,21-31 am 8. August 2010 – Gottesdienst nach Reformierter Ordnung in der Antoniterkirche Köln


Prof. Dr. Hans Theodor Goebel