Liebe, die wählt

Predigt zu Exodus 19, 1-6 zum 10. Sonntag n. Trinitatis


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Von Kathrin Oxen

Vor den jüdischen Schulen stehen Polizisten (…) Sie stehen dort, nicht weil jemand so etwas gerne sähe, sondern weil die Gefährdungsanalysen der deutschen Landeskriminalämter entsprechend sind. (…) Die Bedrohung ist so umfassend, dass alle zwei Wochen ein Anschlag auf einen jüdischen Friedhof registriert wird. (…) Es gibt nicht viele jüdische Friedhöfe im postnazistischen Deutschland; es trifft sie reihum. Wer als Jude hier lebt und eines Tages seine Eltern zu Grabe tragen muss, kann es daher kaum ausblenden: Mit umgetretenen Grabsteinen, mit Schmierereien ist zu rechnen. Es braucht hohe Zäune, so traurig das ist. Judentum in Deutschland, das ist Religionsausübung im Belagerungszustand.“ (SZ vom 10. August 2019)

Manchmal ist es nicht so einfach, konkrete Beispiele für den Predigteinstieg zu finden. Beim Thema Antisemitismus ist es einfach. In der Joachimsthaler Straße, ein paar Schritte von hier, werden eine Buchhandlung und ein Bagel-Laden geschützt, von den Berliner Synagogen ganz zu schweigen. Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens gibt es auch in Berlin genug. Manchmal denke ich: Es ist alles so absurd. Vielleicht sollte man doch versuchen, es mit Humor zu nehmen? So wie in dem alten Witz, in dem die Nazis bei einem Aufmarsch schreien: Die Juden sind an allem schuld! Und sich ein Jude dazustellt und ruft: Und die Radfahrer! Worauf er von den Nazis verdutzt gefragt wird: Wieso die Radfahrer? Und er zurückfragt: Wieso die Juden?

Es gibt Menschen, die über diesen Witz nicht lachen würden. Ihr Weltbild hat einen Kern: Es gibt eine bestimmte Gruppe von Menschen, die mehr wert ist als andere. „White supremacy“, weiße Überlegenheit, so bringt man das in Amerika auf einen Begriff, „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nennen wir es in Deutschland. Feindschaft gegenüber Juden ist ein Grundbestandteil dieser Weltanschauung. Die Juden sollen an allem schuld sein, immer. Wie eine dunkle Unterströmung zieht sich das durch die Geschichte, auch durch die Geschichte der christlichen Kirche. Wann hat dieser Hass eigentlich angefangen?

Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. (Ex 19, 1-6)

Angefangen hat es im dritten Monat nach dem Auszug aus Ägypten, am Beginn der siebten Woche nach der Sklaverei. An diesem Tag kommt Israel an den Berg Sinai. Diese Männer, Frauen und Kindern sind alle durch die Wüste gekommen, die genauso unwirtlich ist, wie man es sich hätte denken können.

Sie haben sich aus dem Wasser gerettet. Sie haben Wasser zu trinken bekommen. Es gab Wachteln zum Abendessen, kleine Vögel mit wenig dran. Jeden Morgen mussten sie sich bücken und das kleinkörnige Wüstenbrot namens Manna einsammeln. Sie wurden gerettet vor den Ägyptern und den Amalekitern. Es ist erst die siebte Woche nach der Sklaverei und die Freiheit stellt sich bisher als überraschend mühsames Unternehmen heraus. Aber jetzt bleiben sie und richten sich ein. Diese siebte Woche verspricht ein bisschen Ruhe, so wie der siebte Tag als Sabbat in jeder Woche Ruhe gibt.

Aber Moses, ihr Anführer, kann sich nicht ausruhen. Er muss den Berg hinauf und eine Nachricht von Gott entgegennehmen. Noch viele Male wird er das tun müssen. Bald wird er jeden Stein an seinem bevorzugten Weg diesen Berg hinauf kennen, dieser leider ungeflügelte Bote zwischen Gott und dem Volk Israel. Denn hier an diesem Berg hat es angefangen.

Zu sich erhoben ohne jedes Verdienst
Die ersten besten von einer Million, allerdings überzeugt,
es habe so kommen müssen – als Preis wofür? für nichts
Von nirgendwoher fällt Licht –
Weshalb gerade auf die und nicht andere?
Beleidigt es nicht die Gerechtigkeit? Ja.
Verletzt es nicht alle sorgsam aufgetürmten Prinzipien,
stürzt die Moral nicht vom Gipfel? Es verletzt und stürzt.
Und diese Zeremonien, Zierereien,
die findigen Pflichten gegeneinander –
es ist wie eine Verschwörung hinter dem Rücken der Menschheit. (aus: Wislawa Szymborska, Glückliche Liebe)

Es ist kein Wunder, dass sie den Tag so genau wissen, den Tag am Beginn des dritten Monats nach dem Auszug aus Ägypten. Denn den Tag, an dem es angefangen hat, den können ja alle Liebenden festlegen. Auch Gott und sein Volk. Und auch alles andere ist so wie bei Liebenden. Ohne Verdienst, in den Augen aller anderen willkürlich, unverdient, unerklärlich, auch ungerecht gegenüber anderen ist die Liebe Gottes zu Israel. Von dem Gipfel dieses Berges in der Wüste stürzen alle Prinzipien, alle Moral und auch das, was wir für Gerechtigkeit zu halten gewohnt sind. Darf es so eine Liebe geben - eine Liebe, die wählt?

Wer von uns auch nur eine ungefähre Vorstellung davon hat, was Liebe ist und wie es ist, zu lieben, kann auf diese Frage nur antworten: Es gibt doch gar keine andere Liebe. Liebe ist immer willkürlich, unverdient, unerklärlich - und leider auch ungerecht gegenüber anderen. Wenn es so eine Liebe nicht geben darf, dann gibt es keine Liebe. An diesem Berg hat es angefangen, am Beginn des dritten Monats nach dem Auszug aus Ägypten. Die Liebe zwischen Gott und Israel wird für eine Verschwörung hinter dem Rücken der Menschheit gehalten. So eine wählerische Liebe darf es doch nicht geben in dieser Welt.

Anders lässt sich für mich all der irrationale Hass gegen Gottes Volk durch die Jahrhunderte hindurch nicht erklären. Ich kann es nicht fassen, dass Stereotypen, Vorurteile und Verschwörungstheorien über „die Juden“ die ich zuletzt in meinem Geschichtsunterricht beim Thema „Drittes Reich“ zur Kenntnis genommen haben, gegenwärtig wieder geäußert und ernstgenommen werden.

Und ich bin entsetzt darüber, dass studierte Theologen heute noch vom „Gott des Alten Testaments“ sprechen, als gäbe es irgendwo noch einen zweiten, anderen Gott. Auch um die Interpretation dieses Sonntags, des Israelsonntags, gibt es bis heute mindestens Diskussionen. Geht es heute um das Gericht über Israel oder um das Verhältnis zwischen Juden und Christen? Ich sage: Der Gott Israels ist der Vater Jesu Christi. Wir werden als Christen niemals den Platz der Juden einnehmen. Aber wir sind mit hineingenommen in Gottes Liebe. Durch Jesus Christus. Den konnte die Welt übrigens auch nicht ertragen, mit seiner Rede von Gottes Liebe, die willkürlich, unverdient, unerklärlich und ungerecht ist. Eine Liebe, die alles in Frage stellt, wonach wir gewöhnlich unser Leben organisieren. Den haben sie gleich umgebracht dafür. Und er hat sich noch nicht einmal gewehrt.

Wenn Liebe so ist, wenn sie wählt, wenn sie willkürlich, unverdient, unerklärlich und ungerecht ist, dann darf sie überhaupt nicht sein. Dann bleibt sie etwas Fremdes in unserer Welt. Und die Menschenfeindlichkeit, die Wut und den Hass, die kann man dann getrost herauslassen und herumschreien auf der Straße überall in Deutschland und auch auf den Wahlplakaten. Dann geht es immer nur darum, dass die einen mehr wert sind als die anderen, die Weißen mehr als die Schwarzen, die Deutschen mehr als die Ausländer, die Heterosexuellen mehr als die Homosexuellen oder was uns sonst noch alles an Abwertungen einfällt unter Menschen. Wenn es die Liebe nicht geben darf in unserer Welt, dann gibt es eben nur noch den Hass.

An diesem Tag am Beginn des dritten Monats nach dem Auszug in Ägypten und in den Tagen danach offenbart sich Gott seinem Volk. Als Liebender. Und die Männer, Frauen und Kinder am Fuß des Berges werden bald auch erfahren, dass die Liebe Gottes zu ihnen zwar bedingungslos ist. Aber sie hat Folgen. Auch das gehört zur Liebe dazu. Die findigen Pflichten gegeneinander sind keine geflüsterten Versprechen, sondern werden in Stein gemeißelt, auf die zwei Tafeln, die der bedauernswerte Mose umständlich und sogar mehrfach vom Gipfel des Berges herunterholen muss.

Die Zehn Gebote kommen von diesem Berg. Und mit ihnen kommt Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit in die Welt. Eine gruppenbezogene Menschenfreundlichkeit, zweifellos. Aber wer Gott liebt, gehört schon in dieser Gruppe. Und mit der Nächstenliebe verbreitet sich die Liebe in der Welt. Dass sie Gottes Gebot in die Welt halten, die findigen Pflichten, die auch unsere Pflichten sind, dafür wurden und werden die Juden gehasst. Denn sie halten seit Jahrtausenden die Tafeln hoch, wie damals Mose am Berg. Sie halten sie in die Welt, für uns. Und wir Christen haben noch andere Worte von einem Berg, von Jesus. Die sind noch schwerer hochzuhalten in der Welt, denn man soll ja keine Politik mit der Bergpredigt machen und das mit der Feindesliebe und der Gewaltlosigkeit lieber nicht so ernst nehmen.

Aber es gibt den Berg immer noch. Und sie stehen immer noch da,
seit dem Beginn des dritten Monats nach dem Auszug aus Ägypten,
sieben Wochen nach der Sklaverei stehen sie dort
die Männer, die Frauen, die Kinder,
das heilige Volk, das Königreich von Priestern.
Mit ihnen kommt Gottes Liebe zu uns.
Sie halten zwei Tafeln hoch.
Und darauf steht nur ein Wort.
Nur ein Wort: „Liebe!“.
Wenn du es lesen kannst,
dann bist du nahe genug bei Gott.

Amen.


Kathrin Oxen
Jeden Sonntag: Gemeinsam unterwegs in besonderen Zeiten - von Kathrin Oxen

Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.