Nicht sterben, Taube

Predigt zu Gen 9, 12-17 am 3. November 2019 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche


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von Pfarrerin Kathrin Oxen, Berlin

Gestern an Land gegangen
Mit letzter Kraft
die Taube deren Flügel schon lahmten
auf einen Baumstumpf gesetzt dem Tier
gut zugeredet Nicht sterben Taube

(aus: Klaus Heinrich, Aus dem Tagebuch Noah)

Das war Gott. Er hat geschlagen, getroffen und versenkt. Alle, außer Noah und die Seinen in der Arche. Das mit dem „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ war wohl doch keine so gute Idee. Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es den HERRN, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Da sprach Gott zu Noah. Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde (Gen 6,5-7.13)

Untergangsstimmung. Vernichtungsphantasien. Und alles andere als ein lieber Gott. Man muss sich ernsthaft fragen, wie es die Arche Noah als Poster und Tapete, als Spielzeug und Bilderbuch in so viele Kinderzimmer geschafft hat. Die klugen Kinder unserer Kita jedenfalls haben mich bei der biblischen Geschichte das als erstes gefragt: Was denn eigentlich mit all den Tieren und Menschen war, die nicht mit in die Arche durften. Auch die Antwort haben sie sich gleich selber gegeben: Die sind alle ertrunken.

Einen Moment war es still in unserem Gruppenraum. Denn diese Antwort reicht bis zum äußersten Rand der Fragen, die man an Gott stellen kann. Sie dehnt sich wie die endlosen Wasserflächen auf Erden nach der Sintflut. Ein trügerisch glatter, glitzernder Wasserspiegel in der Sonne. Das wirft plötzlich ein ganz anderes Licht auf Gott, als die Sonne wieder hervorkommt nach dem Regen. Unter der glatten Oberfläche der kalte Tod. Ertrunken sind nicht nur die Frevler, die richtig Bösen, sondern auch die vielen, die so mittelgut bis mittelböse gelebt haben. Und ihre Kinder und ihre Tiere hat es auch getroffen und die konnten ja wohl nun wirklich nichts dafür. Mit der kinderzimmerbunten Fröhlichkeit des lustigen Auszugs aus der Arche im Sonnenschein ist es plötzlich vorbei.

Noah und die Seinen sind die einzigen Überlebenden einer Menschheitskatastrophe und sie sehen auch so aus. Es braucht wenig Phantasie, sich die Geschichte von seiner Arche ganz anders auszumalen. Die Enge, das Dunkel, stickige Luft und gekürzte Rationen für Mensch und Tier, während der Regen unaufhörlich auf das Dach der Arche prasselt. Der Elefant will nicht fressen. Es wäre auch gar nicht genug da für ihn. Das Krokodil weint, echte Tränen diesmal. Und die Taube so sterbensmüde, dass ihr die Flügel erlahmen. Gestern an Land gegangen, diese blasse, abgemagerte Gemeinschaft zwischen Trümmern, ertrunkenen Bäumen und den Überresten von all dem, was da auf den Grund gesunken ist, als es nicht mehr aufhörte zu regnen und die Wasser stiegen auf Erden.

Das war Gott. Er hat auch sie geschlagen, getroffen und fast versenkt, Noah und die Seinen. Noch gehen sie leicht schwankend umher, türmen eilig ein paar Steine auf, sammeln mit zitternden Händen ein bisschen nasses Holz zusammen und hoffen, dass es brennt. Von den geretteten Tieren müssen einige jetzt noch dran glauben. Ein Altar und ein Brandopfer für Gott. Rauchzeichen nach oben. Wir sind noch da, siehst du uns, Gott, bist du da? Und als sie das tun, wissen sie nicht, ob sie von diesem Gott wirklich eine Antwort bekommen möchten.

Ein Gott, so fremd und fern und furchterregend, ein Gott nicht fürs Kinderzimmer, sondern erst freigegeben ab 18, wenn die Katastrophen kommen im Leben und die Untergänge und die Fragen sich endlos dehnen bis zum Horizont. Und Gott dich schlägt und trifft. Und du Gott nicht mehr findest. Jedenfalls nicht den lieben.

In der Geschichte von der Sintflut muss man unter die glatte Oberfläche tauchen auf der Suche nach Gott. Dorthin, wo es dunkel ist und kalt und still. Und wenn wir Menschen wirklich nach Gottes Bild geschaffen sind, dann kann uns das eigentlich nicht so fremd sein, wie sich das mit den Menschen für Gott anfühlt. Die Enttäuschung darüber, dass etwas nicht so geworden ist, wie ich es mir ausgedacht hatte: Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es den HERRN, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen.

Ein Ausweg aus Enttäuschung und Traurigkeit ist Wut. Wenn es so nicht ist, wie ich es mir vorgestellt habe, dann muss es eben weg. Gott ist traurig und enttäuscht und verhält sich vorsintflutlich. Und in unserer Zeit gibt es leider mehr als genug Menschen, die sich ebenso vorsintflutlich verhalten. Wenn es mit diesem vereinigten Deutschland nach 30 Jahren nicht so geworden ist, wie ich mir das vorgestellt habe, dann muss es eben weg. Egal, ob es uns eigentlich gut geht. Dann wählen wir Menschen in die Regierung, die auch nur noch alles weghaben wollen: Das mit der Demokratie und das mit der Vielfalt, die Ausländer und Flüchtlinge. Und natürlich die Juden, immer die Juden. Weil es irgendwie nicht so ist, wie sie es sich vorstellen. Aber was dann eigentlich kommen soll, wenn das alles weg wäre, das wissen sie auch nicht.

Das hatten wir doch alles schon einmal, in den zwölf Jahren von 1933 bis 1945, als es unaufhörlich genau die gleichen Parolen auf die Menschen regnete und am Ende Millionen Leben darin untergegangen sind. Und die Überlebenden schwankend und blass umhergingen zwischen lauter Trümmern.

Ich bin manchmal so sterbensmüde davon, mir das in unseren Tagen wieder anzuhören, die Dummheit und die Lüge, all die dumpfen Ressentiments, die Wahlergebnisse. So müde wie die Taube an dem ersten Tag ohne Regen. Enttäuscht und traurig darf jeder sein. Gott ist es auch gewesen. Aber diese Wut, die ist vorsintflutlich.

Gestern an Land gegangen
Mit letzter Kraft
die Taube deren Flügel schon lahmten
auf einen Baumstumpf gesetzt dem Tier
gut zugeredet Nicht sterben Taube

Nicht sterben, Taube. Wir sind noch hier, Gott, bist du da? Wir geben unsere Rauchzeichen, auch heute noch. Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (Gen 8, 21f,)

Es hat sich nichts geändert mit den Menschen. Ihr Dichten und Trachten ist und bleibt böse von Jugend auf. Das ist die schlechte Nachricht hinter all den schlechten Nachrichten jeden Tag. Sterbensmüde kann man davon werden. Aber die gute Nachricht ist: Gott hat sich geändert. Seit dem Tag nach dem Regen ist es vorbei mit Schlagen und Treffen und Versenken. Für immer.

Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe. (Gen 9, 12-15)

Am Tag nach dem Regen erhebt sich zum ersten Mal ein Bogen über der Erde. Nach einem Regen, der zur Flut geworden ist, der Tod und Zerstörung gebracht hat statt Wachstum und Leben. In den abziehenden Wolken, in den ersten Strahlen der Sonne hängt Gottes Bogen. Er muss schon vorher dagewesen sein. Er war es auch. Denn der Bogen Gottes war eine Waffe, ein Kriegsbogen. Gott hat ihn gegen seine Menschen eingesetzt, hat damit alle bis auf Noah und die Seinen getroffen und versenkt. Es war einer von den Bögen, die auch entspannt noch gebogen sind. Mit aller Kraft muss man solche Bögen ganz durchdrücken. Ihre Kraft ist durchschlagend. Ihre Pfeile treffen.

Doch nun ist Gottes Bogen nicht länger gespannt, nach unten gegen die Erde gerichtet. Entspannt und hoch gewölbt hängt er vor den Wetterwolken. Gott selbst hat ihn dorthin gehängt, als Erinnerung für sich, nicht für uns. Denn über die Welt und die Menschen macht sich Gott keine Illusionen mehr. Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Die Welt ist alles andere als ideal. Aber Gott gibt dieser nicht idealen, der realen, der zweitbesten aller möglichen Welten trotzdem sein Versprechen. Mit dem Zeichen des Regenbogens. Damit wir nicht zweifeln an seinem Versprechen, auch wenn so vieles zum Verzweifeln ist. Damit wir Hoffnung haben. Wenn selbst Gott sich ändern kann, dann wir Menschen doch auch.

Nicht sterben, Taube, nicht jetzt. Wir sind doch noch da. Gott hat uns etwas versprochen. Gott hat uns eine Antwort gegeben und ein Zeichen. Seit dem Tag nach dem Regen. Gegen all das vorsintflutliche Schwarz-Weiß, gegen die einfachen Lösungen hat Gott den leuchtend bunten Bogen aus siebenfachem Licht vor die Wolken gehängt. Jedes Mal, wenn wir ihn sehen, verwandelt er uns, auch die Menschen ab 18. In die, die wir sind: Gottes verzweifelt geliebte Kinder.

Amen


Kathrin Oxen