Nur eben niederknien

Ansprache zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Rheydt von Martina Wasserloos-Strunk


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„Das alles will ich Dir geben, wenn Du Dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.“ (Matthäus 4, 1-11)

Rheydt vor 75 Jahren – der Krieg ist zuende. Die Stadt liegt in Trümmern. Auch die Hauptkirche ist schwer beschädigt. Der Ort, an dem Joseph Göbbels noch wenige Jahre zuvor von tausenden Menschen bejubelt worden war – am Boden. Bis in diese Tage erinnern sich Menschen daran, wie es damals war. Noch in der letzten Woche habe ich beim Seniorencafe gehört:

„Es hat noch Monate gedauert, bis wir alle wieder beisammen waren“, „ja, unser Vater ist ja nicht zurück gekommen und meine Mutter hat nie den Gedanken aufgegeben, dass er doch eines Tages vor der Tür stehen könnte.“, „Weihnachten ist bis heute das Schlimmste für mich – ich sehe noch, wie meiner Mutter die Tränen über die Wangen liefen“, „Wir Kinder mussten jeden Tag raus und an die Tür von unserem kapputten Haus schreiben „Familie wohlauf, lebt bei Schmitz!“, „wir hatten ja nichts, außer Brennesselsuppe“, „Ich bin damals von Schleswig zu Fuß nach Rheydt gelaufen“, und: „Uns hat ja keiner gefragt, wir Kinder mussten funktionieren“, „Manchmal hatten die Familien ein Geheimnis, dass alles für immer vergiftet hat“. Rheydt vor 75 Jahren – Die Stadt liegt in Trümmern. Die Seelen der Menschen sind für immer verdunkelt. Noch heute, noch in der dritten Generation ist das Geschehene nicht vergessen. Es hat Menschen bis in unsere Tage gezeichnet.

Nur eine Woche vor dem Ende des Krieges in Rheydt geht die Stadt Dresden im Feuer unter. Innerhalb von zwei Tagen sterben fast 25.000 Menschen in den Flammen. Heute, 75 Jahre danach, können wir darüber sprechen, was gemeint ist, wenn wir von „Opfern des 2. Weltkriegs“ reden. Das war lange Zeit nicht möglich. Da hing den Toten von Dresden und anderen Orten das Diktum vom „Selber schuld“ an.

Ich erinnere mich gut an eine Gedenkfeier im Hamburger Rathaus. Auch in Hamburg hatte ein Feuersturm gewütet. Einige junge Leute stürmten mit Transparenten auf die Bühne und forderten die Absage der Veranstaltung – es ginge hier nicht um Opfer des Feuersturms, sondern um Täter des Nationalsozialismus – selber schuld halt, wer Sturm sät, wird Sturm ernten. Es war ausgerechnet Ignaz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, der erbost an das Mikrophon trat und forderte, dass es nicht Opfer erster und zweiter Klasse geben dürfe – aber sehr wohl die Frage nach Schuld, Verantwortung und Versöhnung!

Für mich klingen diese Worte noch immer nach. Ja – als die Massen im Sportpalast den totalen Krieg wollten, ja, als sie sich auf dem Rheydter Markt geehrt und erhoben fühlten von der Anwesenheit des Reichspropagandaministers – einer von uns, einer aus Rheydt – ja, als hier in der Hauptkirche die Uniformierten vor dem Kanzelaltar standen, da waren sie schuldig geworden. Sie hatten sich verführen lassen. Der Versucher hatte ihnen eingeflüstert, sie könnten mehr haben, als sie hatten, weil sie besser seien, weil sie stärker seien, weil sie blonder seien, weil sie rassereiner seien, weil sie dazu geboren seien, die Welt zu beherrschen. Und sie haben ihm geglaubt. Sie haben sich verführen lassen. Nur ein kleines bisschen mussten sie dafür tun. Den Nachbarn verraten, die Lehrerin anzeigen, den Arm heben, nicht sehen, wenn Menschen abgeholt, nicht hören, wenn andere verprügelt werden, die Sprache der Unmenschen benutzen. Nur eben vor dem Satan niederknien. Nur eben den Gott der Liebe verraten.

Am Ende waren viele zu Opfern geworden. Zu Opfern ihrer Vermessenheit. Und mit ihnen wurden auch die zu Opfern, die nur am Rand gestanden hatten. Wie das geschehen konnte? Seit Jahren haben wir diese Frage gestellt. Wir haben untersucht, was politisch geschehen ist, wir haben die Reden der Verführer gelesen und die Bücherregale der Verführten angesehen und uns ihre Geschichten angehört. Wir wissen wie es funktioniert und wie die Verführer arbeiten: und sind gerade in großer Gefahr, selbst zu Verführten zu werden.

Zuerst hat es mit der Sprache begonnen – „die da“ und „wir“. Die da – die Menschen, die so fremdländisch aussehen. Die da – die Menschen, die zum Freitagsgebet gehen (wird das denn auch in Deutsch gehalten? Man weiß ja gar nicht, was da geredet wird!), oder eine Dönerbude besitzen (wenn das mal nicht die türkische Mafia ist, oder Geldwäscherei), oder die da, die in einer Shishabar den Feierabend genießen (kennt man doch – das sind die, die immer Autokorso machen und sich an keine Regeln halten) oder die, die zum Shabat in der Synagoge sitzen (die wollen ja immer nur ihr eigenes Ding und uns ein schlechtes Gewissen machen).

Haben Sie sowas auch schon gehört?
75 Jahre nach Kriegsende möchte ich sagen: das darf nicht wahr sein!

Die Verführer von heute kommen im Sakko mit Krawatte und erzählen vom Fliegenschiss und davon, dass es die anderen Schuld sind, wenn sie selbst radikale Sprache benutzen. Damit muss man jetzt mal aufhören, sagen die Verführer, und wollen damit verhindern, dass es als das entlarvt wird, was es ist: bodenlos gemeine Rhetorik, die Sprache der Unmenschen, Gift. Die Verführer von heute sind niederträchtig genug, unsere Freiheit für ihre Spielchen zu missbrauchen, sie führen die Demokratie am Nasenring durch Thüringen, sie schwafeln vom christlichen Abendland und von deutscher Familie und Identität, sie lügen und nicht wenige glauben ihnen.

Es ist nicht leicht, dagegen zu halten. Ja – gegen die platten Parolen, das geht. Aber zugleich merke ich bei mir selbst, wie das Gift wirkt. Wie ich unsicher werde. Wie ich Menschen mit dunklem Bart oder Kopftuch genauer ansehe, wie ich öfter als einmal denke: „Mannomann, die sollen sich doch besser anpassen, dann ist es doch für uns alle leichter!“ So einfach geht das, so schnell wächst das Misstrauen, die Angst, die Ablehnung, das Bedürfnis nach starken Entscheidungen, nach klarer Kante.
So schnell wirkt das Gift.

In unserem Text aus dem Matthäusevangelium verdichtet sich die Geschichte zum Schluss auf das Äußerste. Schon zweimal hat der Satan vergeblich versucht, Jesus zu verführen. Am Ende zieht er den letzten Joker – Alle Reiche der Welt, alle Pracht, Stellung, Macht soll er haben, wenn er nur vor dem Satan niederkniet. Was für ein Angebot! Nur ein kleines bisschen muss Jesus tun. Nur eben niederknien, nur eben Verrat an Gott üben:

Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht 9 und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. 10 Da sagte Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen. 11 Darauf ließ der Teufel von ihm ab und siehe, es kamen Engel und dienten ihm.


Martina Wasserloos-Strunk, Präsidentin des europäischen Gebiets der Weltgemeinschaft reformierter Kirchen