Scham

Predigt zu 1. Mose 3, 1-7 - in der Predigtreihe 'Große Gefühle'


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Von Georg Rieger

Liebe Gemeinde,

ich habe manchmal einen verstörenden Traum, für den ich mich schäme. Schon als Jugendlicher hatte ich den – mal öfter, mal lange Zeit nicht. Erst vor ein paar Jahren, als ich mich mal mit Traumdeutung befasst habe, habe ich erfahren, dass dieser Traum einer der häufigsten ist, den auch andere haben. Der Traum findet jedes Mal woanders statt, aber er gleicht sich darin, dass ich nackt bin. Ich laufe herum, mitten unter Menschen und merke erst so nach und nach, wie schrecklich peinlich die Situation ist.

Dieser Traum ist doppelt beschämend. Einmal der Traum selber und dann, darüber zu reden. Was ich sonst nicht tue, sondern ausgerechnet hier und heute in der Kirche. Ermuntert hat mich dazu, dass ich den Traum in einer biblischen Geschichte wiedergefunden habe, die ziemlich am Anfang der Bibel steht, im 3. Kapitel:

31 Die Schlange war schlauer
als alle anderen Tiere des Feldes,
die Gott der Herr gemacht hatte.
Sie sagte zu der Frau:
„Hat Gott wirklich gesagt,
dass ihr von keinem der Bäume
im Garten essen dürft?“

2 Die Frau erwiderte der Schlange:
„Von den Früchten der Bäume im Garten
dürfen wir essen.
3 Nur die Früchte von dem Baum,
der in der Mitte des Gartens steht,
hat Gott uns verboten.
Er hat gesagt:
'Esst nicht davon,
berührt sie nicht einmal,
sonst müsst ihr sterben!'“

4 Die Schlange entgegnete der Frau:
„Ihr werdet ganz bestimmt nicht sterben.
5 Denn Gott weiß:
Sobald ihr davon esst,
gehen euch die Augen auf.
Ihr werdet wie Gott sein
und wissen, was Gut und Böse ist.“

6 Da sah die Frau,
dass dieser Baum zum Essen einlud.
Er war eine Augenweide und verlockend,
weil er Klugheit versprach.
Sie nahm eine Frucht und biss hinein.
Dann gab sie ihrem Mann davon, und auch er aß.

7 Da gingen den beiden die Augen auf,
und sie erkannten, dass sie nackt waren.
Sie banden Feigenblätter zusammen
und machten sich Lendenschurze.

Diese Geschichte, liebe Gemeinde, ist eine der bekanntesten der Bibel: „Der Sündenfall“ wird sie genannt. Untertitel: „Warum wir nicht mehr im Paradies leben.“ Eva und Adam haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, obwohl ihnen das ausdrücklich verboten worden war. Und sie bekommen, was sie wollen: Erkenntnis.

Aber diese Erkenntnis ist leider auch das Ende des entspannten Lebens im Garten Eden. Ab jetzt wird es stressig. Und das Erste, woran sie das merken, ist, dass sie nackt sind. Also, das waren sie natürlich schon vorher. Aber vorher war es kein Problem. Vorher mussten sie sich nicht schämen. Jetzt tun sie es. Und sie bedecken sich mit Feigenblättern. Albrecht Dürer und andere haben das ganz eindrücklich künstlerisch umgesetzt: dieses notdürftige Verhüllen einfach mit dem nächsten, was verfügbar war. Später macht Gott ihnen dann Kleider und es wird ab dann etwas einfacher.

Was ist die Scham?

Dass es heute in der Predigt um Scham geht, bedeutet nicht, dass es die ganze Zeit um so peinliche Situationen und um Nacktheit geht. Aber es ist schon interessant, dass eine der ersten Geschichten der Bibel genau das zum Thema macht, dass wir Menschen uns wegen Bereichen unseres Körpers voreinander schämen.  Und diese Scham wird ja nicht als irgendein Problem unter vielen genannt, sondern als der Unterscheid zu vorher. Weil wir uns voreinander schämen, ist unser Miteinander so wie es ist. Eine Philosophin hat einmal gesagt: Die Scham ist gewissermaßen der Beginn der menschlichen Zivilisation.

Wir stoßen da also auf ein großes Thema. Dieses voreinander nackt sein und sich schämen steht für vieles andere in unserem Leben. Und die Scham hat – wie so vieles – schlechte, aber auch gute Seiten. Sie ist von Gott nicht als Strafe auferlegt worden, sondern als Konsequenz. Der Mensch will für sich selbst sorgen statt für sich sorgen zu lassen. Deshalb gibt es viele Probleme, die es eigentlich nicht geben müsste. Und dafür ist die körperliche Scham tatsächlich ein aufschlussreiches Bild: Dass wir uns voreinander verstecken wollen, das ist uns tatsächlich – auch biologisch – mitgegeben worden. Wo diese Scham herkommt und für was sie gut sein soll, ist allerdings unklar. Aber ein deutliches Zeichen ist ja, dass es eine Körperreaktion fast ausschließlich für schamhafte Situationen gibt, nämlich das Rotwerden.

Alle Versuche, diese Scham zu überwinden, sind äußerst heikel. Die FKK-Bewegung hat das versucht und es gab andere Experimente, die allerdings immer dazu führen, dass sich die befreit fühlen, die einen Vorteil davon haben. Unsere Gesellschaft ist, was Freizügigkeit angeht so offen wie nie zuvor. Doch gleichzeitig steigt die Zahl derer, die sich aus Scham krank oder sogar zu Tode hungern.

Und was auch nicht wirklich weniger wird, ist die übergriffige oder gar gewaltsame Entblößung durch Worte, Blicke und Handlungen. Die Scham eröffnet auf unheilvolle Weise viele Möglichkeiten, Grenzen zu überschreiten und Macht auszuüben. Scham ist keine Schwäche, aber sie wird oft zu einer gemacht, indem sie verletzt wird.

Was macht die Scham?

Die Scham selber ist also viel weniger das Problem als das, was mit ihr gemacht wird. Und da stoßen wir jetzt in ganz andere Bereiche des Lebens vor. Es gibt eben auch diese Scham, die uns nicht jeden Tag, aber immer wieder und manchmal vielleicht auch über lange Zeit überfällt in unserem Leben. Jede und jeder von uns kann da Geschichten erzählen – manche davon vergessen wir uns Leben nie. Und über manche wollen wir auch am liebsten nie reden.

Manche solche Erlebnisse führen uns zurück in unsere Kindheit. Die Scham wurde nämlich – insbesondere bei den Älteren unter uns – noch viel als Erziehungsmethode eingesetzt. „Schäm Dich!“ hieß es dann. Aber warum und wie soll sich ein Kind schämen, das die Regel vielleicht nicht einmal kennt, geschweige denn begriffen hat. Und dieses „Schäm dich!“ ist ja noch dazu deshalb besonders perfide, weil es das Kind dazu auffordert, sich quasi selbst zu bestrafen.

Als Erwachsene tun wir das schon von uns aus. Wir merken in bestimmten Situationen, dass wir auf Ablehnung oder sogar Verachtung stoßen und es ist uns eh schon unglaublich peinlich. Und dann sagt vielleicht noch jemand: „Du solltest dich schämen!“ Wenn eine Gruppe, eine Gesellschaft oder auch eine Religionsgemeinschaft eine Regel durchsetzen will, dann baut sie darum herum eine Schamgrenze. Wer sich nicht an die Regel hält, macht sich dann selbst das Leben schwer.

Wie falsch solche Schamgrenzen eingesetzt werden können, zeigt die gerade erschienene Studie über sexualisierte Gewalt in den evangelischen Kirchen. Statt der Täter schämten sich nämlich oft die Betroffenen und scheuten davor zurück, ihre Kirche in Schwierigkeiten zu bringen. Oft wurden sie auch mit Verweis auf diese Scham dazu gedrängt, den Mund zu halten.

Mit unserem Schamgefühl lassen wir uns leicht manipulieren. Die Scham kann uns quälen, zermürben, zerstören. Sie ist aber anderseits auch unsere Schutzschicht, die wir als Menschen dringend brauchen und deren Verletzung wir abwehren müssen. Deshalb ist es tatsächlich unglaublich wichtig, sich damit zu beschäftigen, welche Schamgrenze gut und wichtig, und welche zu Machtzwecken künstlich aufgebaut ist.

Neben der ganz persönlichen Schamgrenze, die uns schützt, gibt es auch viele Scham­grenzen, die uns als Gesellschaft schützen. Die Scham ist auch ein Instrument, mit dem wir unsere Regeln einfacher einzuhalten machen. Weil wir bestimmte Verhaltensweisen nicht jedes Mal wieder neu diskutieren und abwägen wollen, klären wir vieles dadurch, dass wir Schamgrenzen aufbauen. Das geht manchmal auch ziemlich schnell, wenn wir uns halt einig werden.

Wer raucht denn heute noch in einem geschlossenen Raum, wenn andere dabei sind? Vor zwanzig Jahren noch selbstverständlich wäre das heute richtig peinlich. Wer einen Hund auf die Spielwiese kacken lässt, schämt sich auch mit Recht, oder? Mit der Flugscham funktioniert das noch nicht so gut – ist aber ja auch ein gut gemeinter Versuch.

Und ein anderer Versuch, den wir wohl als gescheitert ansehen müssen, ist der von Theodor Adorno, einem Philosophen des Nachkriegsdeutschlands. Er hat einmal die Hoffnung formuliert, dass sich nach dem, was in Auschwitz passiert ist, eine solch große Scham wecken lässt, dass Menschen künftig vor jeglicher Rohheit, Grausamkeit und Menschenverachtung zurückschrecken. Also er hat sich einen positiven Effekt aus der Scham für das Verbrechen des Holocaust erhofft. Und ich finde es in manchen Diskussionen tatsächlich auch erstaunlich, dass sich Menschen für ihre menschenverachtenden Beiträge nicht einfach schämen.

Aber die Scham ersetzt eben nicht die Auseinandersetzung mit einem Thema. Das gilt für alle Themen, die schambehaftet sind. Diejenigen, die diese Schamgrenzen definieren – und das sind in vielen Fällen wir alle – wir müssen uns also immer wieder fragen, ob diese Grenzen noch stimmen.

Genau das geschieht zum Glück gerade in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus. Wir merken, dass sich Schamgrenzen ganz schlimm verschoben haben, und dass Widerstand nötig ist.

Und noch eine Scham möchte ich ansprechen. Und das ist eine Form der Scham, die wir unter diesem Aspekt eher selten betrachten. Ich meine die Scham für unser Leben, für das was wir sind, oder auch für das, was wir nicht sind.

Denn wir tragen glaube ich alle dieses Päckchen mit uns herum, dass wir ja eigentlich viel besser, erfolgreicher, liebenswerter sein könnten. Das ist eine Scham, die nicht so überfallartig kommt und uns das Blut ins Gesicht strömen lässt, so dass wir rot werden. Das ist so die Scham, die im Hintergrund mitschwingt und permanent an unserem Selbstbe­wusstsein nagt. Auch die ist uns mitgegeben und wir werden sie nicht vertreiben können. Aber es kann uns helfen, was Gott dazu sagt.

Die Scham überwinden?

Wer sich nämlich intensiv mit der Scham auseinandergesetzt hat, ist Jesus. Die Geschichte des Zachäus, die wir in der Lesung gehört haben, ist ein Beispiel dafür. Dieser Mann hat sich so geschämt, dass er sich in einem Baum versteckt hat. Und war, weil er als Zöllner sehr unbeliebt war. Aber Jesus hat sich ihm zugewandt und diese Scham aufgelöst. In vielen anderen Geschichten hat er ähnlich gehandelt und Menschen ihr Selbstwertgefühl zurückgegeben. Und zwar bewusst so, dass es alle mitbekommen haben. Um die zu beschämen, die verächtlich gedacht und gesprochen haben.

Und zu guter Letzt hat sich Jesus selbst maximal beschämen lassen. Die Kreuzigung war ausdrücklich die Hinrichtungsmethode, die in aller Öffentlichkeit geschah und seine Persönlichkeit vernichten sollte. Aus dieser maximalen Beschämung sollen wir erfahren, dass es vor Gott überhaupt keinen Grund zur Scham gibt. „Vor Gott musst du dich nicht schämen!“

Untereinander können wir die Scham nicht abstellen, sondern sollen so verantwortungsvoll und rücksichtsvoll wie möglich damit umgehen. Aber vor Gott müssen wir uns nicht schämen. Für nichts. In Gedanken bei ihm sind wir nach wie vor im Paradies. Oder anders gesagt: Das Gegenteil von Scham ist nicht Schamlosigkeit, sondern Gott vertrauen.

Amen.


Georg Rieger