Sein Leben geben

Predigt zu Johannes 15,13


Friedhof für Kriegsgefallene in Flandern / Belgien © Wikimedia

Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe!
Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.
Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.
Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.
Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.
Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's auch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.
(Joh 15,9-1)

Liebe Gemeinde,

„Für was würden Sie ihr Leben geben?“ Diese Frage haben verschiedene Rundfunkanstalten Europas ihren Bürgern und Bürgerinnen gestellt.  Fast 90% der befragten Deutschen antworten: um meine Familie zu verteidigen.  Die eigenen Kinder und Kindeskinder sind damit der größte Antrieb, seine persönlichen Wünsche oder sogar sein eigenes Leben zu vernachlässigen; „Was tut man nicht alles für die Kinder...“ höre ich da meinen Vater schmunzelnd seufzen... Die nächstgrößere Motivation, sein Leben zu geben, sind dann ideelle Werte wie Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit. Gut 16% sind es immerhin noch, die heute laut Umfrage bereit wären, ihr Leben für das Vaterland zu geben.

16% - nicht einmal ein Fünftel der Gesellschaft. Wenn ich mir vorstelle, dass vor 100 Jahren diese Umfrage genauso ausgefallen wäre, dann würden wir in dieser Sommerpredigtreihe wohl nicht auf den ersten Weltkrieg zurückblicken. Das Ergebnis wäre in dieser Frage 1914 vermutlich ganz anders ausgefallen: 100 Jahre ist es her, dass hunderttausende deutsche Soldaten voller Tatendrang und Motivation in einen Krieg zogen. Das Vaterland hatte große Bedeutung für diese Soldaten. Sie identifizierten sich mit der Nation, dem deutschen Volk. Ganz klar war für sie, dass sie ihr Leben, ihre Energie, ihre Kraft für ihr deutsches Land einsetzen wollten. Die Begeisterung war groß. Es ging darum, zu siegen.

Die Soldaten wollten Helden sein, Sieger für das Vaterland. Für den deutschen Sieg war das eigene Leben der größte Einsatz, den sie geben konnten. Und um teilzuhaben an dem erhofften Erfolg, setzten sie das gerne ein. Über eine Niederlage dachte man im deutschen Lager gar nicht groß nach. Sein Leben für das Vaterland einzusetzen, das war Ehrensache. Es dabei zu verlieren, das war im Plan nicht enthalten. Doch wenn man Krieg als Spiel begreift und sein Leben dafür einsetzt, ist das eben die andere Seite der Medaille: Wer das Spiel verliert, hat nichts mehr – nicht einmal mehr das eigene Leben.

Und so kam es, dass der Krieg sich zog. Die Erfolge blieben aus, die Eroberungswellen stockten, die Fronten erstarrten – es gab kein vor und zurück. In diesem Spiel ging es nun um nichts anderes mehr, als um das pure Leben, doch so hatten sich die Soldaten das sicher nicht vorgestellt. Ab 1917 werden die Verluste größer und größer und an vielen Orten bekommt ein biblischer Vers immer mehr Bedeutung. Der Vers steht in der vorhin gehörten Lesung aus dem Johannesevangelium und lautet: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“. Er wird ab 2017 vermehrt gepredigt und steht noch heute an vielen Denkmälern für die Gefallenen: Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.

Der Bibelvers interpretiert hier den Soldatentod an der Front: Er, der Soldat, der sein Leben lassen musste, hat dies für seine Freunde getan. Er hat für sein Volk, sein Vaterland gekämpft und hat sein Leben aus Liebe zu ihnen eingesetzt. Dass er für seine Freunde sein Leben lassen musste, ist nun in Bezug auf den Bibelvers die größte Liebe, die ein Mensch haben und erweisen kann. Die Freunde, das sind in diesem Fall sicher seine Kameraden. Vielleicht auch „die Deutschen“, die Idee des Reiches, für das er sein Leben einsetzt.

Dem Tod des gefallenen Soldaten wird somit ein höherer Sinn gegeben. Der Mutter, die in der Kirche sitzt, soll dieser Vers sagen: „Es war nicht umsonst, dass dein Junge gestorben ist. Dass er sein Leben lassen musste, zeugt von seiner großen Liebe zu seinen Freunden.“ Vielleicht war das für die eine Mutter ein Trost. Für eine andere vielleicht aber auch wie ein Schlag ins Gesicht. Und auch ich werde heute stutzig über diese Interpretation des Verses aus dem Johannesevangelium: Kann es das sein, dass der Tod eines Soldaten, die Gewalt an der Front, durch ein biblisches Jesuswort gerechtfertigt, ja sogar verherrlicht wird? Der Evangelist Johannes meint diesen Satz vermutlich doppeldeutig im Sinne des selbstlosen Todes Jesu am Kreuz. Kann der Satz dann so ohne weiteres mit dem Tod eines Soldaten an der Front gleichgesetzt werden? Und überhaupt: wie ist es zu verstehen, dass es die größte Liebe ist, die du haben kannst, wenn du nur auf der richtigen Seite für deine Freunde stirbst?

Zu Zeiten des ersten Weltkriegs ist es ziemlich klar, wo hier die Grenze zwischen Freund und Feind verläuft: Die Grenzen des deutschen Reiches, die Grenzen zu Polen, zu Frankreich, zu Italien, sind die Grenzen zwischen richtig und falsch, zwischen Gut und Böse, zwischen Freund und Feind. Und wenn du nun für deine Freunde, also die Deutschen, stirbst, dann ist das die größte Liebe, die du deinem Land erweisen kannst. So aus dem Zusammenhang des Evangeliums gerissen, hört es sich so an, als sei es für die Bibel in Ordnung, dass ein 18jähriger Junge an der Front erschossen wird. Schließlich hat er sein Leben ja für einen guten Zweck, „für seine Freunde“ gelassen. Und das empört mich! Wie entspricht diese Aussage dem biblischen Gebot der Nächsten-, ja beziehungsweise auch der Feindesliebe? An welchen Grenzen endet die Liebe unter Menschen, von der Jesus spricht?

Wenn ich in den biblischen Text schaue, stelle ich fest, dass Jesus hier mit seinen Jüngern redet. Der Vers steht im 15. Kapitel des Johannesevangeliums, wir haben ihn vorhin in der Lesung gehört. In einer seiner Abschiedsreden spricht Jesus davon, dass die Jünger sich untereinander lieben sollen, wie er sie geliebt hat. Die Liebe, die von Gott ausgeht, gibt er weiter und er ruft auch seine Jünger auf, sie weiterzugeben: Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben gibt für seine Freunde.

Doch wen meint Jesus eigentlich mit den Freunden, für die die Jünger ihr Leben geben sollen? Sind es die anderen elf Jünger, der engere Freundeskreis Jesu? Es könnten auch symbolisch gesehen die zwölf Stämme, also das Volk Israels gemeint sein, die die zwölf Jünger repräsentieren. Doch was hat das dann mit uns zu tun? Wenn ich mich in der Bibel so umsehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Liebe Gottes an irgendwelchen Grenzen von Freundschaft oder Volkszugehörigkeit Halt macht.

Die Liebe Gottes, von der Jesus spricht, geht über diese Grenzen hinaus: Jesus selbst überwindet die Grenzen von Volk und Religion, als er mit der samaritanischen Frau am Brunnen redet: er lässt sich überzeugen, dass sie wie er das Gute will. Jesus überwindet die Grenzen von Geschlechtern, wenn er die Ehebrecherin unbeschadet heimkehren lässt. Er überwindet die Grenzen von Armut, wenn er als Obdachloser bei einem Zöllner einkehrt. Jesus durchbricht selbst politisch-hierarchische Grenzen, wenn er als Jude den Knecht eines römischen Hauptmanns heilt.
Er durchbricht die Grenze zwischen Scheinheiligkeit und Frömmigkeit, als er den Tempel von den Geldgierigen reinigt. Selbst seine Familie, die engste Grenze, die einer um sich ziehen kann, verleugnet er, indem er den Kreis der Familie ausweitet: Im Markusevangelium sagt Jesus: „Wer Gottes willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Mk. 3,35).

Wenn ich das alles bedenke, wie also konnten Christen vor 100 Jahren davon ausgehen, dass die Grenzen der Freundschaft an den Grenzen des Reiches sind? Und auch heute: Wie können wir denken, dass die Grenzen unserer Solidarität und Freundschaft die Grenzen der eigenen Familie, vielleicht die der Nachbarschaft oder aber die der deutschen Staatszugehörigkeit sind? All diese Beispiele von Jesus zeigen mir, dass das Leben geben für seine Freunde weiter zu fassen ist, als auch ich das normalerweise tu. Wenn ich das biblische Wort als Maßstab meines Handelns nehme, ist es sogar der Anspruch Jesu an seine Jünger und darin auch an uns, bereit zu sein, sein Leben für alle zu geben. Nächstenliebe heißt bei Jesus: jeden Nächsten zu lieben. Die Liebe, die von Gott kommt, macht nicht an Grenzen und Hautfarben halt. Sie ist universal und schließt auch den Franzosen und die Russin mit ein.

Das ist die Botschaft Jesu: von der Entgrenzung der Liebe. Der Anspruch Jesu, den Freunden sein Leben, seine Lebenskraft zu geben meint dann: allen zu dienen. Die größte Liebe, die ein Mensch geben kann, ist es, sein Leben einzusetzen, wie es in anderen Übersetzungen auch heißt. Einzusetzen für alle und jeden. Bei Johannes wird Jesus als Held dargestellt: Er geht über sämtliche Grenzen, um für seine Liebe zu werben. Er begibt sich in Gefahr, wird gefangen genommen und geht gelassen in den Tod, wohl wissend, dass er hier nur einen Auftrag erfüllt, der einem höheren Zweck dient: Dem Auftrag von der Botschaft der Liebe Gottes.

Und auch nach Jesus gab es Menschen, die in der Lage waren, diesen Weg der unbedingten Liebe Gottes zu gehen. Vorbilder wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King waren bereit, ihr Leben zu geben, für ihre Freunde, die Menschen. Sie haben es eingesetzt für ihr Ideal der unbegrenzten Liebe, gegen Rassentrennung und Gewalt an Schwachen. Die Freunde, von denen Jesus spricht, das waren für sie alle Menschen, ob schwarz oder weiß, ob reich oder arm.

Doch, ich frage mich auch, ob wir das leisten können. Wir sind eben nicht alle Gandhis oder Kings. Wir haben manchmal schon Schwierigkeiten mit unserem deutschen Nachbarn am Gartenzaun – sind wir also bereit, unser Leben auch für ihn einzusetzen? Oder auch die Grenzen von Bildung oder Einkommen schrecken uns manchmal ab. Ich kann verstehen, dass es Leuten schwer fällt, Zeit und Lebenskraft für Asylbewerber und Sozialhilfeempfänger einzusetzen. Selbst wenn in der eigenen Familie jemand krank wird – vielleicht kann ich es einfach nicht leisten, den- oder diejenige so zu pflegen, dass mein eigenes Leben gar nicht mehr vorkommt. Wollen und müssen wir uns also ständig mit den hohen Ansprüchen Jesu überfordern?

Ich denke auch, dass der Anspruch Jesu ein hoher Maßstab ist. Natürlich wäre es wunderbar, wenn jede und jeder von uns jederzeit bereit wäre, sein Leben für den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, Altersarmut, Klimawandel, Ausbeutung, Rassismus und Umweltvergiftung und alle möglichen anderen Ideale einsetzen würde. Doch alle möglichen Ideale prallen auch manchmal aufeinander und wir sind und bleiben eben nur Menschen, die je und je mit ihren eigenen Fähigkeiten punkten können.

Doch ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns in unserem Alltag trotzdem immer wieder von der Idee leiten lassen können, dass die Liebe untereinander Grenzen überwinden kann. Auch im Kleinen kann das Leben und die Kraft, die wir einsetzen, vielleicht weiter tragen. Jede Person, die selbst Liebe und Hilfe erfahren hat, gibt sie bei der nächsten Gelegenheit auch eher weiter. Jeder, der bereit war, sein Leben einzusetzen, ermutigt den Nächsten, es ihm gleichzutun und erfährt im besten Fall selbst wieder Dankbarkeit und Ermutigung. Wie wahr ist doch das alte Lied, das ich aus Kindergottesdiensttagen kenne: Viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.

Und wer weiß, ob nicht im Ernstfall doch der eine oder die andere von uns so selbstlos handeln würde, wie man es selbst nicht für möglich gehalten hätte. Ich denke an den Mann, der 2009 an der Münchner S-Bahn-Station sein Leben für völlig fremde Kinder eingesetzt hat, weil sie bedroht wurden. Sein Einsatz hat die Kinder gerettet, aber er selbst musste es dafür lassen. Wenn dieser Mann weniger Wochen zuvor gefragt worden wäre, für wen oder was er sein Leben geben würde, dann stelle ich mir vor, hätte er auch seine eigene Familie genannt.

Und doch war der Kreis der Freunde, für die er sein Leben eingesetzt hat, am Ende größer, als er selbst es für möglich gehalten hätte. Denn Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Amen.

Gehalten am 7. September 201 in der Bergkirche, Osnabrück


Vikarin Katrin Koelmann