''Stellt euch vor, es ist Weihnachten, und keiner geht hin!''

Predigt zu Titus 2,11-14 (Christvesper)


© Andreas Olbrich

''Weihnachten ist nicht der Zielpunkt menschlicher Sehnsucht, sondern Zwischenstation. Insofern bleibt Weihnachten ein Warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes wenn er in Herrlichkeit sein Reich errichten wird. Weihnachten hat einen deutlichen Sehnsuchts-Überhang.''

Liebe Gemeinde!

Die eben gehörten Worte der Weihnachtserzählung nach dem Lukasevangelium klingen noch in den Ohren und dann ein solcher Satz. „Stellt euch vor, es ist Weihnachten, und keiner geht hin!“ Und doch möchte ich sie bitten, sich einmal auf diesen Gedanken einzulassen. Auch wenn es schwer fällt, denn schließlich sind sie ja gekommen um zu sehen, was es denn mit Weihnachten auf sich hat. Und das freut mich von Herzen! Und doch:

Was wäre denn anders, wenn niemand gekommen wäre? Wenn niemand dem Stern gefolgt wäre und hätte den angesagten König der Juden gesucht. Wenn die Hirten auf dem Feld sich lieber dem Schlaf hingegeben hätten, statt sich durch den Lobgesang der Himmlischen Heerscharen auf den Weg bringen zu lassen? Wäre dann Weihnachten ausgefallen? Die Nacht des Universums hätte die Strahlen des Weihnachtssterns in sich aufgesogen und der Klang der himmlischen Stimmen wäre im Nichts verklungen. Und Weihnachten?

Millionen und Milliarden von Lichtern leuchten seit 4 Wochen und wollen uns einladen, nachzuschauen, was denn da in Bethlehem wohl geschehen ist. Der Lobgesang der Engel ist abgelöst worden durch hunderte von Radiosendern und Tausende Kaufhauslautsprecher, die von morgens 9.30 Uhr bis 20.00 Uhr uns die unterschiedlichsten Melodien und Lieder der Weihnachtszeit in unser Ohr säuseln. Lassen wir uns einladen, uns mit der Tochter Zion zu freuen und einen freudigen Lobgesang anzustimmen. Wagen wir ein Freudentänzchen auf der Straße, vor dem geschmückten Weihnachtsbaum, weil Gott Mensch geworden ist? Oder stimmen wir ein in den alljährlich melancholischen Gesang von Wham: last Christmas, I gave you my heart…Letztes Jahr Weihnachten habe ich dir mein Herz geschenkt. Aber schon am nächsten Tag hast du es weggeworfen. Aber dieses Jahr habe ich es, um mich vor den Tränen zu schützen, jemand speziellem geschenkt. Oder sind wir auf dem Heimweg mit Chris Rea: Driving home for christmas… und selbst rote Ampeln können unsere ersehnte Fahrt zum Weihnachfest nach Hause nur kurz hindern, aber doch nicht aufhalten. Oder stimmen wir  mit dem meist verkauften Lied aller Zeiten mit Bing Crosby überein und sagen: I'm dreaming of a white Christmas,

Die Erwartungen, Vorstellungen und Hoffnungen auf Weihnachten hin sind so vielgestaltig und verschieden, dass ich wirklich bei meiner Eingangsfrage bleiben möchte: „Stellt euch vor, es ist Weihnachten, und keiner geht hin!“ Was ist, wenn Weihnachten die Sehnsüchte gar nicht in der Art befriedigt, wie ich das das gerne hätte. Was, wenn Weihnachten quer liegt zu meinem Bild von Weihnachten und meiner Vorstellung davon, wie es denn sein muss, damit es Weihnachten wird. So sehr ich mir selbst eine tief verschneite Weihnacht wünsche, bei der unter dem dicken Mantel einer weißen Schneeschicht alle Nöte, alle Zwietracht, aller Unfriede und aller Hass zugedeckt werden, so sehr merke ich, dass ich Konditionen aufstelle und Erwartungshaltungen aufbaue, die Weihnachten quasi aussperren aus meinem Leben. Deshalb stelle ich die ernsthafte Frage: wie viel Weihnachten brauche ich, damit es Weihnachten werden kann? Und das ist keine rhetorische Frage, sondern eine Frage, die versucht, die Sehnsüchte wahrzunehmen und mit Weihnachten in Beziehung zu bringen. Ich lese uns nun den Predigttext aus Titus 2,11-14:

[11] Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen [12] und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben [13] und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus, [14] der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.

Der für den Heiligen Abend vorgeschlagene Predigttext aus dem Titusbrief kommt so ganz unweihnachtlich daher. Paulus deutet den Inhalt von Weihnachten ganz ohne Weihnachtsidylle. Eher theologisch nüchtern reflektiert er, was denn das Kommen Gottes in diese Welt bedeutet und welche Konsequenzen es hat. Ich möchte sie einladen, den Gedanken des Paulus zu folgen, denn darin könnte eine Chance liegen, einen neuen Zugang zu Weihnachten zu finden.

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen. Was sich für uns wie ein schwacher Reflex auf die Weihnachtsgeschichte nach Lukas anhört, zielt aber gar nicht auf eine Erinnerung an den Stern von Bethlehem, sondern deutet die Menschwerdung Gottes im Lichte des römischen Kaiserkultes. Das von Paulus benutzte griechische Wort „epiphainomai“ ist ein Begriff des Kaiserkultes. Im Kontrast und Abgrenzung dazu redet Paulus aber nicht vom Erscheinen und der Selbstinszenierung eines römischen Kaisers, sondern vom Erscheinen der Gnade Gottes in Jesus Christus.

Weihnachten: Gottes Gnade erscheint in der Nacht

Epiphanie: Erscheinen, Erscheinung, Aufscheinen. Der Vorstellungshintergrund der Epiphanie Gottes ist ein Licht- und Strahlungswunder. Und eben damit steht die wichtigste Metapher des weihnachtlichen Heilsgeschehens auf dem Plan. In das Dunkel der Welt bricht Gottes Licht ein und bricht dieses auf. Aber dieses Aufstrahlen Gottes lässt sich nicht in Lichtstärke und Photonen messen. Erfahren, verstanden und begriffen wird es nur von denen, die in der Finsternis sitzen. Auch davon haben wir ja eben in der Lesung aus Jesaja 9 gehört. In bedrückenden Bildern wird die Situation derer umschrieben, die in der Finsternis sind. Ein schweres Joch lastet auf ihren Schultern und unter Schlägen werden sie angetrieben. Militärstiefel und blutverschmierte Mäntel lassen die Drangsal erahnen, die die Wirklichkeit der unterdrückten Menschen ausmachen.

Was uns betrifft, hier und heute, so sehen die Bilder unserer Finsternis anders aus. Aber sind die Dunkelheiten und Ausweglosigkeiten  unserer Tage nicht existenziell zu spüren, verschüttet unter Jingle Bells, Glühwein und Lichterketten. Wie viele Tränen werden in diesen Tagen unter den Weihnachtsbäumen vergossen und selbst grelle LEDs bringen dann kein Licht in die schmerzhaft empfundene Finsternis.

Und wie sehnen wir uns danach, dass doch alles anders würde. Doch zugleich merken wir, wie wir das nicht schaffen und leisten können. Der berühmte Münchhauseneffekt war schon damals nur Aufschneiderei und er ist auch heute noch nichts anderes als Selbstbetrug. Nein, unser Heil und unsere Rettung müssen von außen kommen, oder aber es bleibt wie es ist.

Weihnachten: Gottes Gnade erscheint in dem Friedensfürst

Mit Verheißungsworten von Jesaja möchte ich die weihnachtliche Hoffnung zum Ausdruck bringen: Doch es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind (Jes 8,23) Ich wünschte, dass an diesem Heiligen Abend alle Menschen diesen Hoffnungssatz erfahren. Gott möge es schenken, dass keiner aus den Kirchen hinausgeht, sich niemand in der Heiligen Nacht in seinem Bett voller Sorgen und Ängste wälzen muss, ohne diesen Zuspruch Gottes: Es wird nicht dunkel bleiben über deinen Ängsten!

Gottes Gnade bricht wie ein heller Lichtschein in die Dunkelheit. Die Dunkelheiten und Finsternisse dieser Welt sollen und werden nicht das letzte Wort behalten. Der von Jesaja angekündigte Friedefürst wird sein Recht und seine Gerechtigkeit aufrichten. Alle Lebensangst wird eine Antwort finden in Jesus Christus. Gott kommt zur Welt. Er stellt sich mitten in die Dunkelheiten der Welt hinein. Er begibt sich in die Angst deren, die am Leben verzweifeln. Er wird zur Hoffnung der Hoffnungslosen, die bisher nichts als Ohnmacht und Leid erfahren.

Der Fürst, der den umfassenden Shalom Gottes in diese Welt bringt, wird die Welt verändern. Und eben deshalb ist es schon an Heilig Abend wichtig, über die Krippe hinauszublicken. Das war der Anfangspunkt der göttlichen Epiphanie. Aber zum Glück ist es nicht dabei geblieben. In Jesus Christus haben die Menschen damals erfahren, wie Gottes Wirklichkeit und Nähe ihre Lebensnacht erhellt. In seiner Gegenwart haben sie gespürt, was Leben sein kann; Leben vor und mit Gott.

Spätestens mit Jesus wird deutlich, dass Gott nicht in einer neutralen Position und sicheren Distanz zur Welt steht, sondern er begibt sich mitten in die Ängste, Finsternisse und Ohnmächtigkeiten dieser Welt hinein. Er stellt sich an der Seite der Menschen mitten unter alle Widerwärtigkeiten und Lebensfeindlichkeiten und macht sie zu seiner Sache und Angelegenheit. Wenn wirklich der Begriff „Chefsache“ irgendwo auf dieser Welt eine Bedeutung hat, dann doch bei Gott. In dem Friedensfürst Jesus, macht er das Heil der Welt zu seiner Sache; eben zur Chefsache.

Weihnachten: Warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes

Wenn wir gleich in den Heiligen Abend gehen und in den nächsten Tagen Weihnachten feiern, dann feiern wir, dass Gottes Herrlichkeit schon einmal aufgestrahlt ist in Jesus Christus. Zugleich feiern und hoffen wir, dass Gott vollenden wird, was in der Krippe in Bethlehem begann. In diesem Sinne bedeutet Weihnachten zu feiern, zwischen Verheißung und Erfüllung zu leben. Und eben deshalb ist Weihnachten keine Geschichte, die man verstehen sollte unter dem Vorzeichen: „es war einmal…“, wohin man dann sehnsüchtig zurückblickt oder sich zurücksehnt. Weihnachten will stattdessen verstanden sein als Blick in die Zukunft. „Es wird werden!“. Ich möchte Weihnachten vergleichen mit der Mittelstation einer Bergfahrt. Wer auf der Mittelstation aussteigt und hängen bleibt, der verpasst doch das Beste. Da kommt doch noch mehr. Die Gipfelfahrt und das Gipfelerlebnis stehen doch noch aus.

Weihnachten ist nicht der Zielpunkt menschlicher Sehnsucht, sondern Zwischenstation. Insofern bleibt Weihnachten ein Warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes wenn er in Herrlichkeit sein Reich errichten wird. Weihnachten hat einen deutlichen Sehnsuchts-Überhang. Deshalb kann man an Weihnachten doch eigentlich nur hoffnungsvoll mit dem Liederdichter singen und beten: Eia wärn wir da, eia wärn wir da.

Weihnachten: Christus verschenkt sich

Berichtet die Weihnachtserzählung des Matthäus davon, dass die drei Magier Jesus mit königlichen Geschenken bedenken, so ist das weitere Leben und Wirken Jesu dadurch geprägt, dass er sich verschenkt. Paulus drückt das in unserem Predigttext so aus: „der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste“. Spätestens mit dieser Aussage fällt ein deutlicher Schatten des Kreuzes Jesu in unseren Heiligen Abend hinein. Krippe und Kreuz fangen nicht nur mit dem gleichen Buchstaben an, sondern sie sind auch aus dem gleichen Holz geschnitzt. Unsere Liebe und Zuneigung, die den holden Knaben mit dem lockigen Haar heute am liebsten liebevoll in einer gut ausgepolsterten Krippe wiegen möchte, wird sich verkehren. Auch unser leises Wiegenlied wird sich in den barbarischen und verachtenden Schrei verwandeln: kreuzige ihn!

Damit aus dieser Tötungsaufforderung nicht unser Todesurteil wird, musste Jesus sterben. Der Predigttext des heutigen Abends trägt das in unseren Heiligen Abend hinein. Maler späterer Jahrhunderte haben diesen Gedanken so aufgegriffen, dass in ihren Stallszenen im Hintergrund oft ein wenigstens schemenhaft erkennbares Kreuz zu sehen ist. Sie denken zusammen, was zusammen gehört.

Weihnachten: wir werden verändert

Es würde wahrlich Weihnachten werden, wenn wir heute nicht nur die frohe und tröstende Botschaft mit nach Hause nehmen, dass es nicht dunkel bleibt über unserer Angst, sondern wenn wir uns verändern lassen durch die Liebe Gottes. Das ist für Paulus die logische und stringente Folge von Weihnachten. Es soll nicht alles beim alten bleiben, aber wir sollen auch nicht alles beim alten lassen. Wie aber kann ein verändertes Leben beginnen? Hören sie dazu folgende Erzählung:

Mit den Hirten betrat ich den Stall und schaute mich um. Ich sah die Tiere, Maria und Josef und die Krippe. Ich schaute das Kind an, und das Kind schaute mich an. Plötzlich erschrak ich, und Tränen traten in meine Augen. „Warum weinst du?“ fragte das Kind. „Weil ich dir nichts mitgebracht habe!“, antwortete ich. „Ich möchte aber gern etwas von dir“, sagte das Kind. Ich fiel ihm gleich ins Wort: „Meinen neuen Mantel, mein Fahrrad und mein spannendes Buch?“ „Nein“ erwiderte das Kind, „das brauche ich nicht. Dazu bin ich nicht auf die Erde gekommen. Ich möchte etwas ganz anderes von dir haben!“ Ich überlegte. „Was denn?“ frage ich erstaunt. „Schenk mir deinen letzten Aufsatz“, sagte das Kind leise, so dass es niemand anders hören konnte. Ich erschrak. „Jesus“, stotterte ich und kam ganz nah an die Krippe heran, „aber da hat doch der Lehrer ‚nicht genügend’ drunter geschrieben.“ „Eben deshalb möchte ich ihn haben“ sagte das Kind. „Aber warum denn?“, fragte ich. Das Kind antwortete: „Du kannst mir immer das bringen, wo nicht genügend drunter steht. Willst du das?“ „Ja, gern“, sagte ich etwas verwirrt. „Ich möchte aber noch ein zweites Geschenk von dir“, sagte das Kind. Hilflos schaute ich es an. „Deinen Trinkbecher“ fuhr das Kind fort. „Aber den habe ich heute früh zerbrochen“, erwiderte ich. Aber das Kind sprach: „Du kannst mir immer das bringen, was in deinem Leben zerbrochen ist. Ich will es wieder heil machen. Gibst du mir das?“ „ Das ist schwer“, zögerte ich, „aber ich will es versuchen.“ „Nun mein dritter Wunsch“, sagte das Kind. „Bring mir die Antwort, die du deiner Mutter gegeben hast, als sie fragte, wie denn der Becher kaputt gegangen sei.“ Da wurde ich ganz rot, legte voller Scham die Stirn auf die Kante der Krippe und weinte. „Ich, ich, ich....“, brachte ich heraus, „in Wirklichkeit habe ich den Becher nicht versehentlich umgestoßen, sondern ihn absichtlich auf den Boden geworfen, weil ich so wütend auf meine Mutter war.“ „Ja“, sagte das Kind, „du kannst mir immer deine Lügen, deinen Trotz, deinen Ärger, deine Enttäuschungen, deine Scham und das Böse, das du getan hast, bringen. Und ich werde es mir anhören und dich annehmen.“ Und ich schaute, hörte, staunte und betete an.

Solche Erfahrungen, die uns schauen, hören, staunen und beten lassen – die wünsche ich ihnen zur Weihnachtszeit. Denn in diesen Erfahrungen wird Gottes heilsame Gnade deutlich, die uns ins Leben und zum Leben hilft. „Stellt euch vor, es ist Weihnachten, und keiner geht hin!“ Und selbst wenn niemand kommt um zu schauen, was denn geschehen ist, deswegen wird es trotzdem Weihnachten. Aber selig sind die Menschen, die kommen, schauen, staunen und anbeten. Denn für sie wird es Weihnachten. Das schenke uns Gott. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen

(Die abschließende Geschichte kenne ich aus einem Weihnachtsbuch. Jetzt wieder gefunden in einer „Internetpredigt“ zum Text)

Predigt gehalten zum Heiligen Abend 2009 in der evangelischen Johanneskirche Oberfischbach


Martin Braukmann, Pfarrer in Oberfischbach
Heilig Abend

Er hat zu mir gesagt: "Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. Bitte mich, so will ich dir Völker zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum."