Unverlierbar

Predigt zu Lukas 15, 1-10 am 3. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2021


Von Kathrin Oxen

Auf dem Küchentisch liegt ein kleines Schaf, passenderweise aus Wollfilz. Es hat ein Öse, die aussieht wie ein übergroßes Piercing. Denn es ist nicht nur ein Schaf, sondern auch noch ein Schlüsselanhänger. Wieder einmal eines dieser Produkte aus dem reichhaltigen Sortiment christlicher Geschenkideen. Was wird wohl mit meinem Hausschlüssel, wenn ich ihn diesem gepiercten Schaf anvertraue? Gehen 99 andere Schlüssel unwiderruflich verloren, während meiner als einziger wieder zu mir als Besitzerin zurückfindet? Oder werde ich ihn gar nicht erst verlieren, weil er dank Schaf jetzt zur Herde der 99 Prozent Unverlierbaren gehört?

Haben es Christen überhaupt besser, weil manche von ihnen gepiercte Schafe in der Handtasche mit sich führen, die sie an ihre Unverlierbarkeit erinnern? Und ich denke an Jesus aus dem Kindergottesdienst, dessen Schäflein ich ja bin und der mir immer nachsteigt, egal, wohin ich mich gerade verliere. Und ob ich das eigentlich möchte, denke ich auch. Dann ist der Kaffee alle und ich suche wie jeden Morgen den Schlüssel, um die Haustür abzuschließen. Das gepiercte Schaf bleibt auf dem Küchentisch zurück.

Es gibt Geschichten in der Bibel, die wirklich jeder kennt. Die Geschichte vom verlorenen Schaf gehört zum festen Repertoire im Kindergottesdienst. Schafe sind ja dankbar darzustellen, selbst von kleineren Kindern. Krabbeln und „mäh“ rufen bekommen auch schon unter Dreijährige hin. Und man kann Schafe auch recht einfach ausschneiden, mit echter Wolle bekleben oder sie filzen. Später wird es dann schon schwieriger mit dem Selbstverständnis als Schaf. „Herde“ ist unter Konfirmanden einerseits angesagt - andererseits möchte niemand sein wie alle anderen und lieber eigene Wege gehen. Und wer erwachsen ist, wird wahrscheinlich nur sehr widerstrebend von sich behaupten, mit Freuden ein echtes Herdentier zu sein. Ich will weder „mäh“ rufen noch ausschneiden oder filzen. Ich will nachdenken über diese Geschichte, über das Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit der Verlorenen und unter den Tisch Gefallenen- Die Quote ist aus der Geschichte ja leicht zu berechnen. 99 zu eins.

Das Gleichnis vom verlorenen Schaf gehört in die Mitte des Lukasevangeliums. Es könnte sogar sein, dass es die Mitte dieses Evangeliums ist. Zusammen mit den Geschichten vom verlorenen Groschen und vom verlorenen Sohn malt Lukas aus, wie Gott ist. Wie ein Hirte, der mit 99 Schafe gut zu tun hätte und doch dem einen hinterhergeht, das sich in der Wüste verlaufen hat. Wie eine Frau, die sich tief bückt und auf dem Boden im Staub kriecht und in alle Ecken guckt, bis sie den einen Groschen gefunden hat, der ihr heruntergefallen ist. Und wie ein Vater, der Enttäuschung und Verbitterung über das Verhalten seines jüngeren Sohnes nicht kennt. Ein Vater, der die verlorenen Jahre in der Beziehung zu seinem Sohn nicht zählt und von einem Moment auf den anderen ein großes Fest ausrichtet. Aus lauter Freude, dass der verlorene Sohn zurückgekommen ist.

Verlorengehen. Es ist manchmal das, was im Leben passiert. Wenn die Dinge aus dem Gleichgewicht gehen. Wenn alles ins Wanken gerät. Dann ist es wie Runterfallen, Wegrollen und Liegenbleiben. Was einen alles zu Fall bringen kann, was die Seele schwer macht, was dir dein Herz bedrückt. Was du verloren hast und wo du nicht aufhörst, zu suchen, das weißt du selbst am besten.

Es ist jetzt Zeit, höre ich manche sagen, dass wir jetzt alles wieder hochfahren. Dass wir suchen und aufholen, was verloren gegangen ist in den fast eineinhalb Jahren der Pandemie. Und wir haben viel verloren. Menschen, die ihr Leben verloren haben. Menschen, die ihre Existenzgrundlage verloren haben und nun ganz neue Wege suchen müssen und auch Banales und trotzdem Herzenswichtiges. Feiern und Feste, Zeit und Gelegenheiten, Kunst und Kultur, Restaurantbesuche, schöner Urlaub. Manches wird sich auch erst noch zeigen. Die Spätfolgen, vor allem für die Kinder und Älteren und all die Branchen, die so schwer getroffen waren und noch sind.

Auch auch wir als Kirche haben weiter verloren in dieser Pandemie, an Relevanz und an Bedeutung. Uns ist der Kontakt zu einem beträchtlichen Teil von Menschen verloren gegangen. Das war auch schon vorher so. Aber jetzt betraf es auch den „Stamm der Vertrauten“. Suchen was verloren ist. Diese Aufgabe haben wir als Kirche in vielerlei Hinsicht an die Diakonie abgegeben und aus dem gemeindlichen Leben ausgelagert. Wir haben die Nähe und den Bezug zu Menschen verloren und wissen nicht was zu tun ist, was Not tut. Auch deshalb werden wir von immer mehr Menschen kritisch gefragt: „Was macht ihr eigentlich konkret? Inwiefern tut ihr das was ihr verkündet. Ich merke und sehe nichts davon. Und wenn ihr nur redet und nicht entsprechend handelt, dann habt auch mich für euch verloren. Ich bin draußen.“

Alle diese Geschichten, besonders aber die letzte, werden nicht einfach so erzählt. Sie haben etwas Zwingendes und rufen Reaktionen bei denen hervor, die sie hören. Unverantwortlich von diesem Hirten, die anvertraute Herde so allein zu lassen. Hysterisch von der Frau, wegen eines Groschens so einen Aufstand zu machen. Und ungerecht von dem Vater, diesen Taugenichts feierlich willkommen zu heißen, während der brave ältere Bruder offenbar so selbstverständlich genommen wird wie die Luft zum Atmen. Wenn das alles Bilder von Gott sind, die hier gemalt werden, dann ist Gott unverantwortlich, hysterisch und ungerecht.

Also alles das, was wir natürlich niemals sind, denn wir sind alle immer verantwortlich, vernünftig und gerecht und handeln auch immer so. Ironie ist nicht nur in Predigten, sondern auch in Gleichnissen eine schwierige Sache. Aber ich glaube, dass es in Lukas‘ Geschichten von den verlorenen Schafen, Groschen und Söhnen viel weniger um diese Schafe, Groschen und Söhne geht. Es geht um den Rest, der leider die Mehrheit ist, um die 99 anderen Schafe, um die neun Groschen, um den älteren Bruder und seine jahrelangen treuen Dienste. Es geht um die, die sich selbst für verantwortlich, vernünftig und gerecht halten. Und die es nicht sein können, ohne doch irgendwie auf eine Belohnung dafür zu schielen.

Geht es um uns? Oder sogar um mich? Diese Geschichte rüttelt an allen Berechenbarkeiten, auf die ich in meinem Leben, zerreißt meine heimlichen Verträge mit Gott oder der Gerechtigkeit: Wenn ich mich so und so verhalte, dann bekomme ich irgendwann einmal dies oder das. Verantwortlich, vernünftig und gerecht sein, das zahlt sich irgendwann aus. Das stimmt. Aber es darf nicht sein, dass man darüber die Verlorenen und unter den Tisch Gefallenen vergisst.

Ich denke an die Bilder von Gott, die Lukas ausmalt, an diesen unverantwortlichen, hysterischen und ungerechten Gott. So ist Gott, weil er uns Menschen nachgeht und niemanden in die Wüste schickt, verloren gehen lässt oder abschreibt. So handelt Gott, weil er uns Menschen liebt. Und seine Liebe ist wie alle Liebe unberechenbar. Jesus hat sich nicht besonders für die Mehrheit und für deren - echte oder angebliche - Verantwortlichkeit, Vernunft und Gerechtigkeit interessiert. Alle unsere Berechenbarkeiten hat er über Bord geworfen und damit auch viel von der Sicherheit, die sich manche Glaubenden wünschen. Sein Herz und sein Handeln waren immer bei den Wenigen, den Kleinen, bei denen am Rand. Berechnungen und Quoten zählen für ihn gar nichts. Jeder einzelne Mensch ist unverlierbar.

Wenn wir uns in den kommenden Wochen fragen, welches Fest wir in der Kirche wohl als Nächstes feiern, dann soll diese Geschichte unser Partymotto sein. Wenn die einen gemerkt haben, was andere verloren haben. Sobald das Suchen begonnen hat, nach dem was verloren ging, wenn in unserer Kirche Menschen angesprochen werden und ernst genommen werden, wenn Not aufgespürt, gefunden, bedacht und unterstützt wird.

Dann ist Freude im Himmel bei den Engeln. Dann ist der Moment da, wo der Hirte die Last auf seinen Schultern gar nicht spürt vor Erleichterung, dass er sein Schaf wiederhat. Wo die Frau mit dem Groschen in der Hand zu ihren Freundinnen und zu den Nachbarn rennt und wo der Vater seinem Sohn den Tisch decken lässt. Dann ist das wirklich ein Grund zur Freude. Ich glaube wir müssen als Kirche solches Tragen und Sich bücken und Entgegenkommen feiern. Und wir müssen auch ungeduldig sein miteinander und uns ermahnen, nicht nur unsere Verluste zu beklagen, sondern den Menschen nachgehen, ihnen tragen helfen, sie suchen und ihnen entgegen kommen.

Und wenn ich selbst einmal nicht zur Mehrheit gehöre, wenn mich das Schicksal oder mein eigener Wille oder meine Fehler oder alles zusammen verloren gehen lassen, dann geht Gott mir nach und bückt sich nach mir und kommt mir entgegen. Wie der Hirte, wie die Frau, wie ein guter Vater. Ich glaube, ich stecke dieses gepiercte Schaf doch noch in meine Tasche. Damit ich nicht vergesse, dass ich unverlierbar bin.

Amen.


Kathrin Oxen
Jeden Sonntag: Gemeinsam unterwegs in besonderen Zeiten - von Kathrin Oxen

Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.