''Wir haben eine gemeinsame reformierte Herkunft''

Interview mit Martina Wasserloos-Strunk


Martina Wasserloos (Mitte), mit dem gewählten Executive Committee © William Gibson/WCRC

Nach ihrer Wahl zu einer von fünf Vizepräsident*innen der WCRC steht sie vor verantwortungsvollen Aufgaben. Als bisherige Präsidentin der WCRC-Europa bringt sie dafür einiges an Erfahrungen mit.

Martina, gerade ging Deine Zeit als Präsidentin der WCRC-Europe zu Ende. Jetzt steigst Du als eine von fünf neu gewählten Vizepräsidenten die WCRC direkt in ein neues Amt mit neuen verantwortungsvollen Aufgaben ein. Wie fühlt sich das an?

Eigentlich hatte ich schon überlegt, was ich ohne Amt machen könnte. Dann kam das doch sehr überraschend. Und dann noch so eine Position. Gerade muss ich mich noch gefühlsmäßig reinarbeiten. Ich sehe das aber auch als einen roten Faden auf meinem Weg.

Was nimmst Du aus Deiner Zeit und Deinen Erfahrungen als Präsidentin der WCRC-Europe in Dein neues Amt mit?

Als Präsidentin der WCRC-Europe war es für mich eine Priorität, die europäischen Mitgliedskirchen ins Gespräch zu bringen. Wir überlegten gemeinsam: Wofür steht die WCRC? Wir haben auch theologisch gearbeitet an Themen wie Migration und „Rechter Gottesdienst“. Die Partnerschaft mit der Canaac-Region  ist mir wichtig. Sie gibt uns die Möglichkeit, zwei Gebiete zusammen zu bringen und einander zu begleiten. Bei unseren ersten Gesprächen haben wir bereits entdeckt, dass wir eine Menge gemeinsame Themen haben. Und: Wir haben schließlich eine gemeinsame reformierte Herkunft .

Wie sieht die aus?

Viele Dinge sehen die Mitgliedskirchen unterschiedlich. Wir könnten zum Beispiel endlos darüber diskutieren, wie wir mit LGBTIQ+ umgehen. In unseren westlichen Kirchen ist der Umgang sehr frei, während es in anderen Kirchen der Weltgemeinschaft Konsequenzen haben kann, wenn man sich zu diesem Thema allzu laut äußert. Das müssen wir in den Diskussionen erst einmal verstehen. Trotzdem haben wir die gleiche Grundlage. Das merkte ich auch bei der Generalversammlung: Sobald wir im Gebet zusammentreten, ist da eine gemeinsame Identität, bei allen Differenzen. Am Ende geht es nicht darum, wer Recht hat, sondern darum, was Gott von uns will.

Jahrelang hast Du in Europa das Frauennetzwerk gepflegt. Wie wird es hier weitergehen?

Was soll ich sagen: Wir haben bei der WCRC jetzt eine Präsidentin und drei Vizepräsidentinnen. Das sind wichtige Positionen! Auch wenn manche Mitgliedskirchen vielleicht zusammenzucken bei Themen wie Frauenordination: Wir können mit mehr Frauen in diesen Ämtern leichter darüber reden.

Als Präsidentin des WCRC-Europe spielten für Dich – auch als Politologin – die Beziehungen innerhalb Europas zwischen Ost und West eine große Rolle. Welche Erfahrungen hast Du hier gemacht?

Das war eine interessante und entdeckungsreiche Zeit. Wir sprechen heute gerne von einem vereinten  Europa. In osteuropäischen Kirchen wird vieles aber sehr kritisch gesehen, auch aufgrund  der Erfahrungen im Kommunismus. Das Leben in den postkommunistischen Systemen steht oft noch unter dem Schatten der alten Seilschaften, der Eiserne Vorhang hat an manchen Stellen nur ein paar Löcher bekommen – zur Seite geschoben  ist er nicht überall. Diese Kirchen wollen sich nicht bevormunden lassen. Auch nicht von Europa. Als Politologin habe ich oft gesehen, wie Wertedebatten zunächst theooogisch aufgeladen und dann politisch genutzt wurden. Das betrifft das traditionelle Familienbild in manchen Kirchen dort und auch die Stellung zu Homosexualität. Wir haben da unterschiedliche Zugänge. Ich habe immer für einen offenen Diskurs geworben. Dazu gehört eine offene und zuhörende Haltung. Meine Erfahrung ist, dass dann viele Gespräche möglich werden. 

Was war für Dich das spannendste Thema bei der Generalversammlung 2026 in Thailand?

Aus deutscher Sicht war das Verhältnis von Israel und Gaza ein wichtiger Themenschwerpunkt. Die Diskussion ist besser gelaufen als befürchtet. Es hatte die Sorge gegeben, dass das Workbook keinen Diskussionsspielraum mehr bietet. Das war aber überhaupt nicht so.

Welche Diskussionen kamen hier auf?

Die Frage für uns ist immer: Was bedeutet Solidarität mit Israel? Wie kann man das sauber begründen? Aber auch: Von wem geht Gewalt aus? Da finden wir in der Weltgemeinschaft – aber ehrlich gesagt auch unter uns - unterschiedliche Zugänge. Ich fand es gut, dass wir nicht an Begrifflichkeiten wie Genozid oder Apartheid gescheitert sind, sondern versucht haben, gemeinsam etwas zu formulieren, dass alle tragen können. Und das ist nun wirklich  - das hätte ja auch passieren können – kein windelweiches Konsensblabla, sondern eine wirklich starke Positionierung, die auch theologisch Gewicht hat.

Für mich war in der Erklärung der Weltgemeinschaft wichtig, dass inhaltlich unterschieden wurde zwischen israelischer Regierung und jüdischem Volk und auch, dass deutlich unsere gemeinsame Herkunft betont wurde – und trotzdem war es möglich, sich kritisch zu den politischen Entwicklungen zu äußern.  

Gerade leben wir in einer Welt, in der – früher scheinbar selbstverständliche - Werte zu bröckeln scheinen: Demokratie, Zusammenhalt, Solidarität. Wie kann Kirche hier dagegenhalten?

In den nächsten sieben Jahren sollte auch die Analyse von autoritären Strukturen und ihren Erscheinungsformen  einer unserer Schwerpunkte sein. Das ist nicht nur eine politische Frage, sondern reicht tief in unser reformiertes Selbstbewusstsein hinein. Autoritäre Strukturen leben davon, dass sie bestimmen was „richtig und falsch“ und was „gut und schlecht“ ist. Die Frage danach, was Wahrheit und Lüge in der Politik ist, ist aktueller denn je.  Als Reformierte haben wir gelernt, dass wir auskunftsfähig sein sollen. Auskunftsfähig über unseren Glauben und darüber, was Gottes Wort bedeutet. Wie wir es halten sollen mit Staat und Politik haben wir in Barmen V vor Augen gestellt bekommen.   Ich halte es für unerlässlich sich mit der Frage zu beschäftigen, wie wir als Kirchen mit Rechtsruck und autoritären Strukturen - nicht nur bei uns - umgehen. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Gemeinden, das auch erwarten.

Wie kann es gelingen, dass Reformierte mit der Weltgemeinschaft trotz aller Differenzen  eine gemeinsame Stimme finden?

Das Abstimmungsverfahren in Thailand fand ich ausgezeichnet. Beschlüsse werden nicht nach dem Prinzip gefasst: Die Mehrheit überstimmt die Minderheit. Sondern der Schwerpunkt liegt darauf: Wie argumentieren wir und wie bringen wir uns ein. Dadurch verändert sich die Idee von Beschlüssen: Es wird nicht über das Ergebnis abgestimmt, sondern das Ganze ist ein Prozess an dessen Ende sich der größtmögliche Konsens entwickelt hat.


Das Interview führte Isabel Barragán