Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1886-1968)
Karl Barth wurde am 10. Mai 1886 als Sohn des Theologieprofessors Fritz Barth (1856-1912) und seiner Frau Anna, geb. Sartorius (1863-1938) in Basel geboren. 1889 zog die Familie nach Bern um. Dort verbrachte er seine Jugendjahre, in die auch von 1901 bis 1902 der Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Robert Aeschbacher und von 1896 bis 1904 der Besuch des Freien Gymnasiums fiel. Von 1904 bis 1908 studierte Barth evangelische Theologie in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg, war 1908/09 Redaktionsgehilfe bei der in Marburger scheinenden „ChristlichenWelt“ und übernahm von 1909 bis 1911 eine Hilfspredigerstelle in Genf.
Von 1911 bis 1921 wirkte Barth dann als Pfarrer in der aargauischen Gemeinde Safenwil. Aus der 1913 mit seiner früheren Konfirmandin Nelly Hoffmann (1893-1976) geschlossenen Ehe gingen fünf Kinder hervor: Franziska (1914-1994), Markus (1915-1994), Christoph (1917-1986), Matthias (1921- 1941) und Hans Jakob (1925-1984). Erschüttert durch das Versagen der damals herrschenden „liberalenTheologie“ angesichts der Herausforderungen jener Zeit exponierte sich Barth einerseits politisch, indem er 1915 in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eintrat und die Arbeiter seiner Kirchengemeinde zu gewerkschaftlicher Solidarität anhielt. Andererseits ging es ihm um eine fundamentale Neuherausarbeitung des Wesens von Theologie und Kirche.
Als Frucht dieser Bemühungen erschien 1919 und, völlig überarbeitet, nochmals 1922 „Der Römerbrief“, ein Kommentar zu jener neutestamentlichen Schrift des Paulus, an der er die Bibel ganz neu zu lesen lernte. Die große Wirkung dieses Buches bis in unsere Gegenwart hinein ist unter anderem daran abzulesen, daß es 14 Auflagen erreicht hat. Mit dem Erscheinen des „Römerbriefes“ begann die akademische Lehrtätigkeit Karl Barths.Sie war durch eine Dynamik gekennzeichnet, die sowohl in der Person als auch in den überstürzenden Ereignissen unseres Jahrhunderts begründet war. Von 1921 bis 1925 ging Barth als Honorarprofessor für reformierte Theologie nach Göttingen.
In diese Zeit fiel auch der Beginn zahlreicher ihm zuteil werdender Ehrungen: Dr. theol. h.c. der Universität Münster 1922, Glasgow und Ehrenprofessor Sárospatak 1930, Utrecht 1936, St. Andrews 1937, Oxford 1938, Entzug 1939 und Neuverleihung 1946 des Dr. h.c. von Münster, Budapest 1954, Edingburgh 1956, Straßburg 1959, Chicago 1962, Sorbonne/Paris 1963.
Von 1922 bis 1933 war er als Mitbegründer und Mitarbeiter der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ zusammen mit Emil Brunner, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann, die später ihre eigenen Wege gingen, und dem getreuen Freund Eduard Thurneysen der Hauptvertreter der um diese Zeitschrift sich versammelnden „Dialektischen Theologie“. Von 1925 bis 1930 war Barth Professor für Dogmatik und neutestamentliche Exegese in Münster, sodann von 1930 bis 1935 Professor für systematische Theologie in Bonn. Seit 1929 begleitete ihn seine Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum (1899-1975), die ihr Leben ganz in den Dienst der Arbeit an dieser Theologie stellte.
1931 trat er in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein. Barths Hauptwerk „Die Kirchliche Dogmatik“ nahm 1932 ihren Anfang mit dem Erscheinen des erstenTeilbandes (KD I/1), der zusammen mit dem zweiten (KD I/2) von1938 als „Die Lehre vom Wort Gottes“ die Prolegommen abildet. Dieses trotz seiner über 9000 Seiten unvollendet gebliebene Werk ging als die bedeutendste systematisch-theologische Leistung des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein. Auf der Arbeit an diesem Werk lag in den folgenden Jahrzehnten Barths Hauptaugenmerk, so daß zwei Bände Gotteslehre (KD II/1 1940, II/2 1942), vier Bände Schöpfungslehre (KD III/1 1945, III/2 1948, III/3 1950, III/4 1951) und vier Bände Versöhnungslehre (KD IV/1 1953, IV/2 1955, IV/3 1-2 1959, IV/4 (Fragment) 1967) erscheinen. Barths wache Zeitgenossenschaft spiegelt sich besonders deutlich in der für den Weg der Bekennenden Kirche in Deutschland grundlegenden Schrift „Theologische Existenz heute!“ von 1933 und in der hauptsächlich aus seiner Feder stammenden „Theologischen Erklärung“ von Barmen 1934 wider.
1935 wurde er aufgrund der Verweigerung des bedingungslosen Eides auf die Person des „Führers“ von der Bonner Universität entlassen. Von 1935 bis 1962 setzte Barth seine Lehrtätigkeit als Professor für systematische Theologie in Basel fort. Der von Anfang an maßgebend am Widerstand gegen den Nationalsozialismus Beteiligte blieb auch von Basel aus mit dieser Thematik beschäftigt - er beteiligte sich 1940 als Soldat im bewaffneten Hilfsdienst am nationalen Widerstand der Schweiz gegen Hitler - und mit der Bekennenden Kirche in Deutschland in enger Verbindung.
Auch in der Nachkriegszeit bewahrte sich Barth seine eigenständige Haltung. Dies zeigte sich sowohl in seiner deutlichen Absage an jeden Revanchismus gegenüber den Deutschen als auch an seiner Haltung im Ost-West-Konflikt: Hier ließ er sich weder zum Kreuzzug gegen den Kommunismus gewinnen noch vor den Karren einer antiamerikanisch gefärbten Weltfriedensbewegung spannen. Damit stieß er hier wie dort auf viel Unverständnis und Ablehnung. Barths Arbeit an der Erneuerung der Theologie und als Mahner der Kirche, ihrem Auftrag treu zu bleiben, wurde dadurch jedoch nicht geschmälert.
Eine gelegentliche Reise- und Vortragstätigkeit in Ost und West, oft verbunden mit der Entgegennahme von Auszeichnungen aller Art, war unter anderem ein Beweis dafür: So reiste er 1936 und 1948 nach Ungarn, folgte 1946 und 1947 dem Ruf auf eine Gastprofessur nach Bonn und besuchte 1962 die Vereinigten Staaten von Amerika; 1952 wurde ihm der Britische Verdienstorden „For Service in the Cause of Freedom“, 1963 der Sonning-Preis für besondere Verdienste um die europäische Kultur in Kopenhagen und 1968 der Sigmund-Freud-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt verliehen, nachdem er zuvor zum „Membre Accocie de l’Academie des Sciences Morales et Politiques del’Institut de France“ und zum Ehrensenator der Universität Bonn ernannt worden war.
Neben seiner akademischen Tätigkeit lag Barth das Predigen stets am Herzen. Seit 1954 tat er es fast ausschließlich in der Basler Strafanstalt. Im Jahr 1956 nahm er das Mozart-Jubiläum zum Anlaß, seine tiefe Liebe zu der Musik dieses Komponisten wiederholt auszusprechen. Mit der im Wintersemester1961/62 gehaltenen Vorlesung „Einführung in die evangelische Theologie“ verließ er das universitäre Amt. In den Folgejahren empfing er zahlreiche Gäste und Besuchergruppen aus der ganzen Welt in Basel, die ihn zu Gesprächen aufsuchten, und nahm von 1966 bis 1968 Seminarübungen an der Basler Theologischen Fakultät wieder auf.
Obwohl Barth seine reformierte Herkunft und Haltung zu keiner Zeit verleugnete, wurde die ökumenische Bedeutung seines Werkes erkannt. Dies ist unter anderem auch daran abzulesen, daß ihm an der ersten ökumenischen Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam das einleitende Hauptreferat „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan“ übertragen wurde. Steigende Beachtung wurde ihm auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche zuteil, deren sichtbaren Höhepunkt 1966 der Besuch des Vatikans und die Begegnung mit Papst Paul VI. in Rom darstellte.
Am 10. Dezember 1968 starb Karl Barth im Alter von 82 Jahren in seinem Haus in Basel. Die Gesellschaft möchte zu eigenem Nachdenken des von Barth Gedachten einladen und Mut machen, mit Barth neu zu den Texten der Bibel zu greifen, die unseren Alltag heilsam unterbrechen, indem sie uns alle an den einen Jesus Christus verweisen, der in Kreuz und Auferstehung uns Menschen näher kommt und näher ist, als jeder von uns sich selber nahe zu kommen und nahe zu sein vermag. Durch eine Mitgliedschaft in der Karl Barth-Gesellschaft unterstützen Sie deren Ziele. Als Mitglied unserer Gesellschaft erhalten Sie regelmäßig Berichte über unsere Tätigkeit und Einladungen zu unseren Veranstaltungen sowie Informationen über den jeweiligen Stand der Gesamtausgabe und die Subskriptionsbedingungen.
Weiterführende Informationen:
Das Neue Testament als Zuwendung zu Israel
''Israel'' in der Theologie Johannes Calvins
I Calvin als Ausleger des Alten Testaments
Die großen Kommentare sind die Belege: Zeit seines Lebens hat Calvin insbesondere im Alten Testament geforscht. Die Auslegungswerke, deren umfangreiche philologische und historische Arbeiten die deutschen Übersetzungen auch nicht entfernt erahnen lassen, zeichnen sich aus durch eine im Geist des Humanismus durchgeführte strenge und genaue exegetische Forschung am hebräischen Urtext. Wir wissen heute, daß Calvin sich nicht damit begnügte, die schriftgelehrten Kommentare der großen jüdischen Exegeten Ibn Esra (1092-1167), Kimchi (1160-1232) und Raschi (1040-1105) in den Kompendien des Nikolaus von Lyra (1270-1340) zu erarbeiten, wie z.B. Luther es getan hat, sondern daß er diese Kommentare im Grundtext las und sich ständig auf sie bezog.
Ad fontes - »zu den Quellen«, das war die Losung humanistischer Wissenschaft. Calvin suchte die Quellen des hebräischen Sprachverständnisses bei den Juden auf. Sie waren für ihn die authentischen Sprachlehrer. So heißt es immer wieder in den Kommentaren: »Die Juden erklären hier ...« Man kann wohl sagen, daß in Calvins Rezeption der mittelalterlichen Opera jüdischer Gelehrter der Grundstein moderner Bibelwissenschaft gelegt worden ist. Auf das Spezifikum des Lernens von den Juden werde ich noch zurückkommen.
Es entspricht humanistischem Geschichtsverständnis, daß Israel in seiner geschichtlichen Existenz gesehen und im Kontext seiner Geschichte erklärt wird. Ich werde diesen Satz später korrigieren müssen, halte aber zunächst daran fest, daß Calvin in entscheidenden, grundlegenden Phasen seiner Exegese der hebräischen Bibel sich als Historiker erweist. Damit wird dem christlichen Brauch und Bedürfnis das Alte Testament für die Predigt der Kirche zu annektieren, ein Riegel vorgeschoben. Die Botschaft des Mose und der Propheten ist an das geschichtliche Israel gerichtet. Zu Jes 6,10 schreibt Calvin: »Jesaja war nicht zu irgendwem gesandt, sondern zu den Juden.«
Genau wird die jeweilige geschichtliche Situation ermittelt. Selbstverständlich verliert Calvin keinen Augenblick aus dem Auge, daß in der hebräischen Bibel die besondere Bestimmung und Sendung Israels überall aufleuchtet und den Weg des Volkes kennzeichnet. Zu Joh 4,22 erklärt der Genfer Reformator: »Nur deshalb waren die Israeliten von den übrigen Völkern abgesondert worden, daß von ihnen aus die wahre Erkenntnis Gottes schließlich auf die ganze Welt übergehen sollte.« In diesem Sinn ist Joh 4,22 zu verstehen: »Das Heil kommt von den Juden.«
Im Zentrum steht die TORA, das Gesetz. Im Strom der kirchlichen Auslegungstradition steht Calvin wie ein einsamer, herausragender Felsen. Immer wieder war die Exegese der Kirche versucht, der markionitischen Trennung und Entgegensetzung von »Gesetz« und »Evangelium« zu folgen, das »Gesetz« als jüdische, hinfällige Religionsstufe zu erklären und entsprechend abgehoben das »Evangelium« als »Erfüllung« zu feiern. Es kann hier im einzelnen nicht dargelegt werden, inwieweit auch Luther dieser Versuchung erlegen ist. Calvin setzt sich den Aussagen des Alten Testaments aus und nimmt das TORA-Verständnis Israels aus. Und zwar in dem Sinn: Durch Erwählung und Bund ist Israel gewürdigt, Gottes TORA zu empfangen, zu hören und zu befolgen.
Unter dieser TORA zu leben ist keineswegs eine »gesetzliche Strenge« und Sklavendienst, sondern Vorzug und Inbegriff der Freude. Der Name Gottes, »Inbegriff seiner geoffenbarten Gnade und Macht«, ist Israel bekannt gemacht worden. Es heißt in Inst 11.11.11: »Diesem Volk allein hat er die Kenntnis seines Namens zuteil werden lassen, so daß es allein unter allen Völkern ihm gehörte, seinen Bund hat er ihm gewissermaßen in den Schoß gelegt, seine göttliche Majestät hat er ihm gegenwärtig offenbart, mit lauter Vorrechten hat er es geschmückt.« Mit diesen und ähnlichen Sätzen preist Calvin die einzigartigen Vorrechte des erwählten Volkes. Denn Israel war Gottes geliebter »Sohn« (Ex 4,22), die anderen waren Fremde; Israel war von Gott geheiligt, die anderen waren Gottferne (profani). Im Unterschied zu Luther hält Calvin an dem biblisch-alttestamentlichen Tora Verständnis fest. Das zeigt sich am deutlichsten in seiner Erklärung des Dekalogs, der von der Präambel her gedeutet wird: »Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe« (Ex 20,2). Inst. 11.8.15: »Gott hat sein Volk aus elender Sklaverei dazu befreit, daß es nun seinen Befreier in freudiger Bereitschaft gehorsam verehre.«
Der Exodus ist Befreiungsgeschehen. Die Gebote stehen unter diesem Vorzeichen. Calvin kann sagen: Mit seinem Wort und seinen Geboten führt der Gott des Bundes in das »regnum libertatis« (Reich der Freiheit). So könnte man, wie Karl Barth und Kornelis Heiko Miskotte im Anschluß an Calvin gedeutet haben, die Gebote vernehmen als von dem Ruf durchdrungen: »Bleibe bei deinem Befreier, Israel!« Wenn Paulus in Röm 8,2 vom »Gesetz des Geistes« spricht, dann muß man sagen, daß Calvin dieses »Gesetz des Geistes« in Israel wirksam sieht. Inst II.11.8: Die Unterscheidung von Buchstaben und Geist darf man ... nicht so verstehen, als ob der Herr den Juden die TORA ohne Frucht gegeben hätte ...« Vor allem im Ps 119 erkennt Calvin das in Israel effektive »Gesetz des Geistes«.
Man hat Calvin oft den Vorwurf gemacht, mit der Aufrichtung und Preisung des »Gesetzes« habe er eine neue (reformierte) »Gesetzlichkeit« heraufgeführt. Aber hier ist eine einschneidende Neubesinnung notwendig. Denn wir alle kennen den Vorwurf bzw. das Urteil, das Christen Juden gegenüber erheben, wenn sie von »gesetzlicher Religion« oder »Gesetzlichkeit« reden. Calvin aber belehrt uns, daß derartige Urteile vor dem genuinen TORA-Verständnis des Alten Testaments nicht zu halten und zu verantworten sind. Die TORA-Theologie Calvins, so denke ich, öffnet den Christen ein besseres Verständnis der TORA-Frömmigkeit der Juden; sie baut die Schranken ab, die ein traditionelles Vorurteil aufgerichtet hat. Ich halte es darum für ein bemerkenswertes Zeichen, wenn in den durch Calvins Theologie geprägten Niederlanden in den reformierten Gemeinden eine viel größere Offenheit und Vorurteilsfreiheit den Juden gegenüber besteht als bei uns. Aber hier geht es nicht um konfessionelle Eigenart, sondern um Treue gegenüber dem biblischen Wort und um ein vorurteilsfreies TORA-Verständnis, wie es heutzutage in der alttestamentlichen Wissenschaft, vor allem in der Theologie Gerhard von Rads, sich durchgesetzt hat.
II Kirche und Israel
Ich habe zu zeigen versucht, daß das humanistisch geprägte Geschichtsverständnis Calvins die Vereinnahmung des Alten Testaments zurückweist und Israel dadurch in die Distanz zur Kirche rückt. Doch angesichts dieser Tatsache erhebt sich sogleich die Frage: Was verbindet denn die Kirche mit Israel? Was motiviert das Interesse der neutestamentlichen Gemeinde am Alten Testament? Vor allen ekklesiologischen Versuchen der Beantwortung dieser Fragen ist das messianisch-christologische Argument zu bedenken. Jesus als der Christus verbindet die Kirche mit Israel. Genauer sagt Calvin: Der Jude Jesus von Nazareth als der Messias Israels und Herr der Kirche begründet die Gemeinschaft der Kirche mit Israel, dem Gottesvolk des Alten Testaments. Die beiden Akzente: Jesus als »wahrer Jude« und als Messias Israels werden schärfer gesetzt, als es sonst in der christlichen Tradition geschieht.
Calvins Christologie ist eine alttestamentlich bestimmte Messianologie vor allem in der Triplex-munus-Lehre, die der Heidelberger Katechismus in der Frage 31 aufgenommen hat: Als Messias, als Geist-Gesalbter, ist Jesus der endzeitliche Prophet, Priester und König, der sein Charisma den Christen mitteilt und sie an seinen messianischen Gaben partizipieren läßt. In Christus geschieht Bestätigung und Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen und Verheißungen. Augustinus lehrte: »Christus universae scripturae scopus est.« Die Reformatoren, so auch Calvin, bekannten sich zu diesem Satz, allerdings mit unterschiedlicher praktisch-exegetischer Ausführungsweise. In seinen Auslegungen des Alten Testaments erweist sich der Genfer Reformator in der Frage christologischer Interpretation des Alten Testaments als äußerst zurückhaltend und vorsichtig. An entscheidenden Stellen schert er aus der christlichen Auslegungstradition aus
Ich nenne zwei Beispiele: 1. Den Psalm 72 deutete man in der Auslegungstradition der Kirche christologisch. Calvin hingegen eröffnet die Interpretation dieses Psalms mit folgender Erklärung: »Den Psalm ohne weiteres auf das Königtum Christi zu beziehen ist eine Gewaltsamkeit. Wir sollten den Juden keinen berechtigten Anlaß zu dem Vorwurf geben, wir würden alles unbedacht verdrehen, indem wir alle Einzelheiten auf Christus beziehen, die doch durchaus nicht von ihm handeln.« Wann und wo hat es das in der Kirche schon einmal gegeben, daß ein christlicher Theologe sich in seiner Erklärung der Hebräischen Bibel den Juden gegenüber verantwortlich weiß?! Daß er jüdische Reaktion mitbedenkt?! Ursache solcher Aufmerksamkeit ist die Tatsache, daß Calvin ständig in den jüdischen Kommentaren, die ich erwähnte, arbeitete und forschte. 2. Ergebnis solcher intensiven Befassung mit jüdischer Auslegung ist die Leugnung und Ausscheidung des sog. Protevangeliums. Gen 3,15 wurde in der christlichen Auslegungstradition als Protevangelium, d.h. als erste Ankündigung des Evangeliums von der den Satan überwindenden Macht Christi, verstanden: »Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinen Nachkommen und ihren Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.«
Calvin hat sich von den jüdischen Gelehrten des Mittelalters belehren lassen, daß das hebräische Wort sära (Same) keineswegs auf einen speziellen Nachkommen bezogen werden kann, sondern kollektivisch offenbleibt, also den unabsehbaren Konflikt zwischen Schlangen und Menschen ankündigt. Ich zitiere aus dem Genesis-Kommentar Calvins: »Ich meine, daß hier eine wirkliche Schlange gemeint ist, keineswegs aber eine Allegorie vorliegt.« Gen 3,15 ist also so zu verstehen, »daß immerwährend zwischen dem Menschengeschlecht und den Schlangen ein Kriegszustand herrschen wird«. »Es ist nicht erlaubt, den Sammelbegriff sära (Samen oder Nachkommenschaft) auf eine einzige Person zu deuten. Von einer fortwährenden Feindschaft ist die Rede.«
Damit ist das sog. Protevangelium natürlich erledigt, doch sind die Verfasser des Heidelberger Katechismus in dieser Sache keine aufmerksamen Schüler Calvins gewesen, denn sie haben die alte Theorie zu neuem Leben erweckt: »Gott selbst hat anfänglich das heilige Evangelium im Paradies geoffenbart« (Frage 19; die Randnotiz verweist auf Gen 3,15). Man kann sagen, daß durch Calvin Tabus gebrochen wurden, denn tatsächlich hat die Kirche bestimmte Verheißungen und Weissagungen des Alten Testaments christologisch tabuisiert, um auf diese Weise Altes und Neues Testament eng zu verklammern. Wo immer aber Calvin selbst christologische Erklärungen in seine Auslegungen des Alten Testaments einbringt, da geschieht dies in messianischer Perspektive und sachlicher Konsequenz, unter betonter Ausscheidung jeder allegorischen oder typologischen Kunstgriffe.
Es bleibt also zuerst festzustellen: Der Jude Jesus von Nazareth als der vom Alten Testament angekündigte Messias verbindet die Kirche mit Israel. Aber nun bedürfen die christologischen Argumente der ekklesiologischen Konkretisierung. In der Geschichte der Kirche findet man - von den Anfängen an - immer wieder die Enterbungs- oder Substitutionstheorie. Diese Theorie, die das Gewicht eines Dogmas hat, besagt: Israel hat den Bund gebrochen und ist von Gott enterbt worden; Erbe der Erwählung, des Bundes und aller Verheißungen ist die Kirche geworden; ihr gehört das Alte Testament, das für sie nun ohne weiteres zugänglich ist. In der Gestalt der Substitutionsthese heißt dies: An die Stelle Israels ist die Kirche getreten, denn Gott hat sein Volk Israel verstoßen. Daß diese Erklärungen und die entsprechenden Verfahrensweisen der Kirchen von weitreichender Wirkung für ihr Verhältnis zu den Juden wurden, wird uns immer mehr bewußt.
Die Position Calvins in dieser Sache ist die eines einsamen und energischen Widerspruchs, denn er hat stets der Gewißheit Ausdruck gegeben, daß der Bund Gottes mit Israel ewigen Bestand hat und ungekündigt besteht. Wer hier einmal genau hinhört und vergleicht, der wird erkennen müssen, daß es in der Tat eine einsame Stimme in der Kirche ist, die dies zu sagen wagt - gegen ein eingewurzeltes dogmatisches Urteil. Wie kommt Calvin zu dieser außergewöhnlichen Aussage?
Zum einen weist der Ausleger des Alten Testaments darauf hin, daß in der Verheißung des Neuen Bundes Jer 31,31-34 keineswegs von einer Verwerfung Israels die Rede ist, vielmehr wird ja doch ausdrücklich gesagt, der Neue Bund werde mit dem »Haus Israel« und mit dem »Haus Judas« geschlossen. Zum anderen bezieht Calvin sich auf die Ausführungen des Apostels Paulus in Röm 9-11. Es heißt in Röm 11,2 kategorisch: »Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor ersehen (erwählt) hat«.
Calvin geht, Paulus folgend, keineswegs an der Tatsache vorüber, daß Israel den Bund gebrochen hat. Aber er schreibt dann folgendes in seiner Erklärung zum Römerbrief:
»Es erhebt sich eine ganz andere Schwierigkeit: Es fragt sich, ob der Bund, den Gott einst mit den Erzvätern geschlossen hat, wirklich habe abgeschafft werden können. War auch die Strafe des Volkes eine wohlverdiente, so wäre es doch ungereimt, wenn der Menschen Treulosigkeit den Bund sollte ins Wanken bringen können. Denn der Grundsatz steht unbedingt fest, daß die Annahme zur Kindschaft ein Werk der freien Gnade ist, nicht auf Menschen, sondern allein auf Gottes Grund gebaut, daß sie also fest und unbeweglich stehen muß, wenn auch aller Unglaube der Menschen sich wider sie auflehnt. Dieser Knoten muß entwirrt werden, wenn nicht der Schein entstehen soll, als hinge Gottes Wahrheit und Erwählung an der Menschen Würdigkeit.«
Soweit Calvin, der zum Ausdruck bringt und stets wiederholt hat: Die Bundestreue Gottes hat kein Ende. Israel ist und bleibt Gottes erwähltes Volk. Wer dem widerspricht, zerstört die Fundamente des Heils, die auf Gottes freier Gnade beruhen und nicht hinfällig werden. Das reformatorische »sola gratia« (allein aus Gnade) ist in Israel verwurzelt und verbürgt. D.h. aber: Israel ist nicht nur, wie in der Kirche bisweilen gedeutet wird, ein Anschauungsunterricht der Bundestreue Gottes für die Kirche. Die Bundestreue Gottes ist und bleibt vielmehr für Israel geschichtlich real und konkret - bis zum Letzten. Dieses »Letzte« wird vom Apostel Paulus mit den Worten bezeichnet, daß am Ende, wenn die Fülle der Heiden in das Reich Gottes eingegangen sein wird, »das ganze Israel gerettet wird« (Röm 11,26).
Sicher nicht sachgemäß versteht Calvin unter »ganz Israel« das Gottesvolk aus Juden und Heiden. Aber beachtlich und bezeichnend sind seine Ausführungen:
»Wenn nämlich die Heiden in Gottes Reich eingegangen sein werden und zugleich auch die Juden ... zum Gehorsam des Glaubens sich sammeln werden, dann wird das Heil des ganzen Israel Gottes, welches er aus beiden sich sammeln will, sein Ziel erreicht haben, doch so, daß die Juden als die Erstgeborenen der Familie Gottes den ersten Platz einnehmen.«
Bis in die eschatologische Vollendung hinein bleibt die Prärogative Israels als der Ersterwählten bestehen. Unermüdlich betont Calvin die Würde und das Vorrecht der Ersterwählten, der Juden. Er bedient sich dabei einer sehr wichtigen ekklesiologischen Bezeichnung. Das Gottesvolk des Alten und des Neuen Testaments bildet zusammen und als Einheit die »familia Dei«, die »Familie Gottes«, in der die Juden die älteren Geschwister sind. Hätte die Kirche, durch Calvin belehrt, so die Juden angesehen: als die älteren Geschwister ein- und derselben Familie Gottes, des Vaters, dann wäre wohl all das Schreckliche nicht möglich gewesen, das Christen den Juden angetan haben an Haß, Verfolgung und Versagung von Beistand und Hilfe in den mörderischen Pogromen.
Calvin weiß wohl um den Schmerz und das Leid der getrennten Wege, auf denen Kirche und Synagoge wandeln. Aber er schaut aus nach der großen Wende und sehnt sie herbei. Im Kommentar zu den Psalmen wird der Stachel spürbar, daß Israel und die Kirche, Juden und Christen, getrennt mit denselben Liedern und Gebeten Gott loben. Calvin spricht diese schmerzliche Tatsache aus und sehnt sich nach der Vollendung, wenn Juden und Christen gemeinsam mit den Psalmen Israels Gott loben und anbeten.
Wenn es sich darum handelt, das Verbindende zwischen Kirche und Israel zu bezeichnen, dann könnte die ekklesiologische Formulierung »familia Dei« wohl eine Hilfe sein. Aber Calvin bemüht sich - vor allem in der Institutio - noch um andere Zuordnungskategorien. Davon muß die Rede sein, auch wenn der Begriff der »Zuordnungskategorien« schon gewisse Schematismen ankündigt, die wir kritisch zur Kenntnis nehmen müssen. Ich setze ein mit dem ekklesiologischen Theologumenon »ecclesia aeterna« (ewige Kirche), das zum unverzichtbaren Inventar des kirchlichen Dogmas gehört: Die Kirche besteht in Ewigkeit.
Die großen Bekenntnisse, die in die Exegese des Alten Testaments hineinwirken, lauten dann z.B. so: Von Anfang der Schöpfung an existiert Kirche. Die Urväter und Erzväter sind die Prototypen der »ecclesia aeterna«. Israel ist Bestandteil der »ewigen Kirche«. Es ist unschwer zu erkennen, daß mit dem Dogma »ecclesia aeterna« das gesamte Alte Testament mitsamt den Erzvätern, Israeliten und Propheten von der Kirche »vereinnahmt«, in die »ewige Kirche« eingeordnet wird. Dies ist im Verlauf der Kirchen- und Theologiegeschichte oft auf sehr plumpe Weise geschehen, immer aber so, als verstehe es sich von selbst, daß sich in der Geschichte der Offenbarung alles allein um die Kirche dreht.
Auch Calvin konnte sich dem Bann der Idee »ecclesia aeterna« nicht entziehen. Aber er rezipierte diese Idee in einer eigenartigen und differenzierten Weise. Und zwar unter Berufung auf neutestamentliche Texte, über deren sachgemäße Interpretation man streiten könnte. In einer Kombination von Gal 3,24 (»Das Gesetz ist unser Zuchtmeister [Erzieher] auf Christus hin gewesen«) und Eph 4,13 (»bis wir gelangen zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mannesalter, zum vollendeten Maß der Fülle Christi«) - in der Kombination dieser beiden Texte entwirft Calvin die Vorstellung vorn Wachstum eines Menschen, der unter Gottes Erziehung heranwächst.
Der heranwachsende und im Neuen Testament ausgereifte Mensch lebt im Alten Testament in der »aetas puerilis«, im knabenhaften, kindlichen Zeitalter. Er bedarf der Erziehung durch die Tora, der - wie der humanistische Begriff heißt - eruditio. Inst II.11.2: »Die Menschen des Alten Bundes haben das gleiche Erbe, das auch für uns bestimmt ist; aber in ihrem Alter waren sie noch nicht fähig, dieses Erbe anzutreten oder zu verwalten. Es war unter ihnen die gleiche Kirche (eadem ecclesia) - aber sie stand noch im Kindesalter. So hat sie der Herr unter dieser Erziehung gehalten, und dabei hat er ihnen die geistlichen Verheißungen nicht bloß und offen gegeben, sondern gewissermaßen unter irdischen Verheißungen verdeckt.«
Nach Calvin ist also die Heilsgeschichte Erziehungsgeschichte, die die Kirche durchläuft. Im Unterschied zur Rede von der familia Dei wird jetzt auf Identität und Kontinuität der Kirche (eadem ecclesia) insistiert. Dabei ist nun freilich für die christliche Kirche die Erziehungsphase des Alten Testaments nicht einfach überwunden; sie muß für die Kirche immer noch wirksam sein zur besseren Erkenntnis Christi, zur immer neuen Heranführung an die messianische Erfüllung. Dies ist der eine, durch das Neue Testament motivierte Argumentationsstrang; der andere rekurriert auf Kol 2,17; Hebr 8,5 und Hebr 10,1. In diesen Texten werden Institutionen des Alten Testaments als skia, als »Schatten« des Zukünftigen bzw. des Himmlischen verstanden.
Unter Anleitung dieser Unterscheidung von eschatologischer bzw. himmlischer Realgestalt und deren vorankündigenden, vorauflaufenden »Schatten« wird das Alte Testament gedeutet. Und es kann nicht übersehen werden, daß Calvin hier platonischen Ideen Einlaß gibt, wenn die neutestamentliche Unterscheidung durch das Schema platonischer Philosophie in ein Urbild-Abbild-Verhältnis gerückt wird. Und immer steht, auch in diesen Variationen, die Idee der »ecclesia aeterna« im Hintergrund. Auf diese Weise wird der Zugang zum Alten Testament reguliert und erleichtert. Es wird eine Aneignung der Texte Israels möglich.
Deutlich unterscheidet sich diese systematisch-dogmatische Kategorisierung von dem humanistisch-historischen Ansatz der Exegese, den ich im 1. Teil schilderte. Aber man wird die Unterschiede nicht dramatisieren und überschätzen dürfen. Denn stets, sowohl in der humanistisch angeleiteten historischen Forschung wie auch auf den Bahnen der Regulierung durch das »Erziehungs«- und »Schatten«-System, fragt Calvin nach dem »Wort Gottes« im Zeugnis der Heiligen Schrift. Er sucht die Anrede Gottes in den alttestamentlichen Texten - des Gottes, der für ihn, den Christen, der »Gott Israels« ist und bleibt: in der Unverwechselbarkeit seines heiligen Namens.
Wir müssen uns heute kritisch von all den Aneignungsregulationen, mit denen die Kirche sich des Alten Testaments zu bemächtigen sucht, distanzieren. Denn es geschieht zumeist nichts anderes als eine oft latente, häufig manifeste »Enterbung Israels«. Wenn in dieser Sache ein zwiespältiger Eindruck bei der Kenntnisnahme der Israel Theologie Calvins entsteht und der Bann der Idee der »ecclesia aeterna« nicht geleugnet werden kann, so sind doch die positiven, für die Begründung eines neuen Verhältnisses von Christen und Juden dominanten Züge unverkennbar. Und dies gilt auch für die Stellung der Kirche zum Alten Testament. Immer wieder kennzeichnet Calvin die Grenze der geschichtlichen und durch Erwählung herausgehobenen Eigenexistenz Israels, der die Kirche gegenübersteht.
Würde man ihn fragen, mit welchem Recht die Kirche sich auf das Alte Testament bezieht, so gilt für ihn nicht nur die messianische Perspektive, sondern - oft betont - der Abraham-Bund, der Anteil am Segen Israels allen Völkern verheißt. Wollte man die Teilhabe der Kirche am Weg Israels, wie Calvin sie in seinen Kommentaren zum Alten Testament praktiziert, genauer beschreiben, dann könnte man Dietrich Bonhoeffer zitieren: »... wir ziehen, uns selbst vergessend und verlierend, mit durch das Rote Meer, durch die Wüste, über den Jordan ins gelobte Land, wir fallen mit Israel in Zweifel und Unglauben und erfahren durch Strafe und Buße wieder Gottes Hilfe und Treue, und das alles ist nicht Träumerei, sondern heilige, göttliche Wirklichkeit« (Gemeinsames Leben, S. 43).
Es geht zunächst um den Sprachgebrauch, um den Kontext der Bezeichnungen. Da ist zu unterscheiden zwischen einem biblischen und einem nachbiblischen Begriff »Juden« in der Theologie Calvins. Als nach der Zerstörung des Nordreichs Israel im Jahr 722 v.Chr. nur noch das Südreich »Juda« existiert, liegt es nahe, die Einwohner dieses Südreichs »Judaei«, »Juden« zu nennen. So verfährt auch Calvin, wobei jedoch die Unterscheidung keine Scheidung vollzieht, sondern in der Bezeichnung »Juden« - »Israel« meint. Dies ist um so bemerkenswerter, als Calvin seine frühmittelalterlichen Lehrer und Gewährsmänner von Raschi bis Ibn Esra auch »Judaei«, »Juden« nennt - ohne eine unterscheidende Erklärung einzufügen. So stehen die biblische und die nachbiblische Bezeichnung oft unvermittelt nebeneinander. Und dies hat natürlich Grund und Voraussetzung in der von mir erwähnten Tatsache, daß der Bund mit Israel ungekündigt ist und, wie dem alttestamentlichen Israel, so auch den in der nachbiblischen Ära lebenden Juden gilt. Sie gehören zusammen, sie sind eine Einheit: Israel und die Juden. Dies ist in der kirchlichen Tradition - ich sagte es schon - ein Novum, ein einsamer Vorstoß mit erheblichen Folgen.
Um das Israel des Alten Testaments, ja überhaupt die hebräische Heilige Schrift zu verstehen, müssen Christen bei den Juden in die Schule gehen. Sie müssen einen umfassenden und tiefreichenden »Sprachunterricht« nehmen. Denn wer anders als der Jude kann Auskunft geben über die Idiome der hebräischen Sprache? Christen sind immer wieder versucht, ihre ethnisch-griechische Begrifflichkeit in die Erklärung des Alten Testaments zu transportieren und sich mit Allegorie und Typologie die fremden Aussagen anzueignen, sie auf ein neutestamentliches »Niveau« emporzuheben. Allen diesen Versuchen und Versuchungen widerspricht Calvin scharf und streng. Unter Berufung auf die hebräischen Lehrer klagt er über den Unverstand der allegorischen Exegese, der auch Luther verfallen war.
Nehmen wir als Beispiel die Überschrift zum 22. Psalm, wörtlich zu übersetzen: »Ein Psalm Davids, vorzusingen nach der Weise »Die Hirschkuh, die früh gejagt wird«. Luther übersetzt »Hände der Morgenröte«. Calvin fragt »die Juden« (ein namentliches Zitieren gab es damals noch nicht), was diese Überschrift wohl bedeutet, und nimmt die Erklärung auf: Es handelt sich um ein profanes Volkslied, ein Jagdlied, das für Ps 22 die »Melodie« angibt. Man muß diese einfache und sachliche Erklärung nun einmal vergleichen mit all dem allegorischen Zauber, den christliche Exegeten in die Überschrift hineingeheimnißt haben, zumal in diesem Psalm das Wort Jesu am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« zu finden ist. Luther nimmt die Erwähnung der »Morgenröte« zum Anlaß, einen heilsgeschichtlichen Sonnenaufgang angekündigt zu sehen. Was der historisch-kritischen Forschung heute kein Problem mehr ist, war zur Zeit der Reformation eine erstaunliche Provokation: der Ausbruch aus einem klerikalisierten Welt- und Sprachverständnis.
Zu seiner Zeit, in der ersten Hälfte des 16. Jh.s, hatte Calvin kaum eine Gelegenheit, Juden zu begegnen. In Genf gab es keinen Judenbezirk, keine Synagoge. Ein Dialog zwischen Kirche und Synagoge, Christen und Juden lag - nach Jahrhunderten währender Trennung - außerhalb der Möglichkeiten. Zeittypisch war vielmehr die Anschuldigung aus der Distanz, wie sie aus Luthers Traktat »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) bekannt ist. Um so erstaunlicher ist es, daß sich in der schriftlichen Hinterlassenschaft Calvins, veröffentlicht in CR XXXVII, 653-674, ein Dokument mit folgender Überschrift findet: »Ad quaestiones et objecta Iudaei cuiusdam« (Zu Fragen und Einwänden eines Juden), also ein Dialog des Genfer Reformators mit einem (ungenannten und unbekannten) Juden.
Anders als der berühmte »Dialog mit dem Juden Tryphon« des Apologeten Justin aus dem 2. Jh. n.Chr. führt Calvin nicht einen fiktiven Dialog, in dem es nur darum geht, die Wahrheit des Christentums an einem Zerrbild des Judentums darzutun. Es werden vielmehr theologische Fragen an Calvin gerichtet, die in erster Linie das rechte Verständnis der Auslegung des Alten Testaments und die Messianität Jesu betreffen. [1] Ich kann diesen umfangreichen Dialog jetzt nicht referieren, sondern nur ein paar zusammenfassende Bemerkungen vortragen. Die Fragen des Juden, auf die geantwortet wird, erstrecken sich auf die allgemein bekannten Unterschiede und Konflikte zwischen Juden und Christen. Sie sind offensichtlich von Calvin zusammengestellt worden.
Ich möchte nun zwei positive Kennzeichen dieses Dialogs zuerst benennen: 1. Calvin erweist sich als ein aufmerksamer, aufgeschlossener Zuhörer, der die Pointen der Frage sorgfältig wiederholt, Rückfragen stellt und seinem »Gegenüber« gerecht werden will. 2. Die Fragen werden auf dem gemeinsamen Grund der Hebräischen Bibel ausgetragen, in exegetischen Hinweisen und Erklärungen. Beides ist, auf der Folie traditioneller Verfahrensweise gesehen, ungewöhnlich und eben wohl auch beispielhaft.
Sicher nicht positiv zu bewerten ist die Schlußpassage jeder »Antwort«. Letztlich ist es für Calvin - wie er immer wieder betont - »ein Leichtes«, die in den Fragen des Juden enthaltenen Einwände gegen den Christus-Glauben der Christen zu widerlegen. Calvin will nicht zugestehen, daß der Jude (wie es Bonhoeffer einmal ausgedrückt hat) »die Christusfrage offenhält«. Für ihn ist letztlich doch alles im Kontext des kirchlichen Dogmas abgeschlossen und besiegelt. Auch Calvin weiß sich im Lager der ecclesia triumphans gegenüber den Juden. Ein Exodus aus dieser Position zeichnet sich - bei allen positiven Ansätzen - nicht ab. Auch er behaftet, wie es in der Kirche üblich war, die Juden mehr bei ihren »Übertretungen« - statt nun gerade ihnen gegenüber von der ewigen Bundestreue des Gottes Israels zu reden, wie er es doch in der theologischen Theorie getan hat.
Aber diese Feststellung bedarf nun doch einer in den Bibelauslegungen zu beobachtenden Klärung. Wenn im Alten Testament, vor allem in den prophetischen Anklage- und Gerichtsbotschaften, die Schuld Israels aufgedeckt wird, ja wenn im Neuen Testament von der Schuld der Juden, der Pharisäer und Schriftgelehrten, die Rede ist, dann unternimmt Calvin es nicht, die Schuldaussage für Israel und die Juden festzuschreiben, sie auf Israel und die Juden zu fixieren. Vielmehr erweist er sich darin als Hörer der Anrede des Wortes Gottes im Alten und Neuen Testament, daß er selbst sich in jeder Schuldenthüllung als der Getroffene weiß, daß er die christliche Kirche als die akut Angesprochenen erkennt.
Die apostolische Mahnung »Sei nicht stolz, sondern fürchte dich!« (Röm 11,20) erklärt diese Grundhaltung. Denn dies eine kann man Calvin nicht nachsagen, daß er ein Vertreter jenes kirchlichen Stolzes und Hochmuts dem Judentum gegenüber gewesen sei, wie ihn die Kirchengeschichte allüberall in Erscheinung treten läßt. Tief eingeprägt in die gesamte Theologie Calvins ist das Paulus-Wort: »Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich« (Röm 11,18). Israel ist der Geschichtsgrund der Kirche. Auf diesem Grund erhebt sich das Haus der Kirche. Das tragende Fundament bestimmt bis in die Einzelheiten das ganze Gebäude. Dieser Tatsache entsprechend ist das Neue Testament auszulegen - eben nicht in der ständigen Antithese zum Judentum, wie sie vor allem von Markion und den zahlreichen Markioniten in der Kirche betrieben wurde, sondern in der permanenten Zuwendung zu dem tragenden Geschichtsgrund Israel.
Hier müßte nun eigentlich ein Kapitel »Calvin als Ausleger des Neuen Testaments« folgen, in dem gezeigt werden könnte, wie konsequent Calvin mit allen philologischen und historischen Erkenntnismitteln aufweist, daß Begriffe und Aussagen des Neuen Testaments aus der Wurzel Israel, aus dem Alten Testament hervorgegangen und entsprechend zu erklären sind. Calvin ist in der Neuzeit der erste Repräsentant einer Israel-Theologie der Kirche, wie sie heute von denjenigen erstrebt und verfochten wird, die den Dialog mit den Juden aufgenommen und demgemäß auch die Entwicklung des kirchlichen Dogmas kritisch zu befragen begonnen haben. Ich meine dies im Sinne der These des neuen Buches von Friedrich-Wilhelm Marquardt »Von Elend und Heimsuchung der Theologie«, wo es auf S. 35 heißt: »Grund der Theologie ist die biblisch bezeugte und bis heute sich weiter ereignende Geschichte des Gottes Abrahams, Isaaks, Jakobs und des Vaters Jesu Christi mit dem Volk Israel und allen Völkern um es herum. - Theologie bekennt sich zu ihrem Grund, wenn sie sich zur nachdenkenden Teilnahme an dieser Geschichte bekennt.«
Abschließend aber möchte ich noch einmal zu bedenken geben, welche Konsequenzen die Begegnung und der Dialog zwischen Christen und Juden hat, wenn ausgegangen wird von der Gewißheit, daß der Bund mit Israel unkündbar besteht. »Gottes Gaben und Berufung sind unkündbar«, sagt der Apostel Paulus in Röm 11,29. Israel lebt. Bis auf den heutigen Tag. Diese Tatsache bestimmt die Begegnung mit dem Alten Testament und mit dem Judentum; sie führt die Kirche in Buße und Umkehr, die Theologie in einen bis in die Wurzel des Denkens und Forschens reichenden Umsturz.
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Quelle: Hans-Joachim Kraus, Rückkehr zu Israel. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog, Neukirchen-Vluyn 191, S. 189-199
[1] Anm. der Redaktion reformiert-info: Die Schrift „Zu den Fragen und Einwürfen irgendeines Juden“ (ca. 1563) ist in lateinischer Fassung und deutscher Übersetzung, eingeleitet von Achim Detmers abgedruckt in: Calvin Studienausgabe, Bd. 4: Reformatorische Klärungen, hrsg. von E. Busch, M. Freudenberg, A. Heron, Chr. Link, P. Opitz, E. Saxer, H. Scholl, S. 366-405, Neukirchen-Vluyn 2002. Sehr wahrscheinlich hat Calvin die 23 Fragen eine hebräischen Übersetzung des Matthäusevangeliums, einer Abschrift von Schemtobs „Eben bochan“ entnommen. Calvin spricht in seiner Schrift seine jüdischen Gegner nicht persönlich an, sondern schreibt in der 3. Person über sie. „Calvin wandte sich also nicht an eine jüdische, sondern eindeutig an eine christliche Leserschaft […] Calvin beabsichtigte, Gegenfragen für den christlichen Gebrauch zu formulieren.“ (Ebd. 361)
Prof. Dr. Hans-Joachim Kraus (1918-2000)
Hans-Joachim Kraus, „Israel“ in der Theologie Calvins (1988).pdf