Gedenke des Feiertages, dass du ihn heiligest

Überlegungen und Chancen zum vierten Gebot in der heutigen Zeit

Ein Vortrag von Kirchenpräsident Jann Schmidt (Evangelisch-reformierte Kirche) im Rahmen der Nacht der offenen Kirchen in Emden am 28. September 2007

Als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung haben Sonn- und Feiertag Einzug ins deutsche Grundgesetz gefunden. Der Rhythmus, alle sieben Tage frei zu haben, ist nach christlichem Verständnis gute Schöpfungsordnung. Darum hat die EKD vor vierzehn Tagen eine neue Initiative zum Schutz des Sonntags gestartet. Sie trägt den Titel: "Gott sei Dank - es ist Sonntag".

Es mag sein, dass es Ihnen hier in Borssum/Emden relativ egal ist, was in den großen Städten geschieht. Wann die Kaufhäuser geöffnet haben, wie lange sie geöffnet haben, ob man Tag und Nacht einkaufen kann oder ob man jeden Sonntag einkaufen kann.

Nach dem mit der Föderalismusreform die Zuständigkeit für Fragen der Ladenöffnung auf die Bundesländer übergegangen ist, reagieren die Bundesländer höchst unterschiedlich. Manche Bundesländer sind gewillt, die bisher möglichen vier verkaufsoffenen Sonntage pro Jahr beizubehalten oder gar zu reduzieren. Sie folgen damit dem Verfassungsgebot, also unserem deutschen Grundgesetz, den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung zu achten. Andere Bundesländer dagegen meinen, die Umsatzchancen des Handels steigern zu können, in dem sie die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage erweitern und dabei auch die Adventssonntage einbeziehen. Dabei wird der besondere Schutz des Sonntags ins Gegenteil verkehrt - der Sonntag ist dann nicht mehr geschützt.

Ein solches Vorhaben, den Sonntag zum Werktag zu machen, nimmt den Menschen nur noch als Konsumenten wahr, nimmt den Menschen wahr als einen der sein Geld am Werktag und am Sonntag in die Geschäfte bringen soll. Die Pflicht zum Schutz des Sonntags, die unsere Verfassung dem Staat aufgibt, scheint dabei überhaupt nicht im Bewusstsein zu sein.

Dem halten die Kirchen entgegen: Der Sonntag ist als Tag des Gottesdienstes, der Muße und der Besinnung zu erhalten. Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage. Dieser Satz, den wir als evangelische Kirche vor wenigen Jahren in einer öffentlichen Kampagne vertreten haben, gilt auch heute. Denn es geht beim Sonntagsschutz um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion. Eine Aushöhlung des Sonntagsschutzes, eine immer weiter gelockerte Ladenöffnung, widerspricht den Vorgaben des Grundgesetzes. Das, was da geschieht, lässt sich nicht mit der Religionsneutralität des Staates begründen. Eher drückt sich in einem solchen Verhalten eine Parteinahme aus, nämlich die Parteinahme für die, die am Konsum verdienen. Deshalb wollen wir den Sonntag als Tag des Gottesdienstes, der Muße und der Besinnung erhalten.

Die Frage aber geht tiefer: Was steht eigentlich bei einem Leben ohne Sonntag auf dem Spiel? Anders gefragt: Was ist der Sinn des Sonntags, warum gibt es das Wochenende? Ich will in einigen kleinen Abschnitten zunächst einmal herausarbeiten, woher wir denn eigentlich das Wochenende haben.

1. Die jüdische Sabbattradition
Seit alters her orientiert sich die Zeiteinteilung des Jahres am Zyklus der Sonne. Die Einteilung der Monate orientiert sich am Mond. Auch der Tag, also der Rhythmus von Tag und Nacht bezieht sich auf natürliche Gegebenheiten, auf den Wechsel von hell und dunkel. Und das wissen wir sehr genau: Das schwankt von Jahreszeit zu Jahreszeit. Und darum waren früher die Arbeitstage im Sommer länger und im Winter kürzer. Es hat schon etwa vor
4000 Jahren eine Unterteilung der Nacht und des Tages in vierundzwanzig Stunden gegeben, bei den Babyloniern nämlich. Und auch die Römer vor 2000 Jahren hatten sich den Tag aufgeteilt in Tagwachen und Nachtwachen, jeweils vier Tagwachen und vier Nachtwachen. Aber die waren nicht gleichmäßig, sondern sie schwankten in ihrer Dauer der Jahreszeit entsprechend.

Unsere Gleichmäßigkeit in der Zeiteinteilung des Tages steht im Zusammenhang mit der Verbreitung der Uhr, vor allem der Kirchturmuhr und des künstlichen Lichts. Denn auf einmal wurde die Zeit gemessen, wurden die Stunden gezählt. Ob es nun hell war oder dunkel, die Stunde hatte 60 Minuten. Und die allgemeine Elektrifizierung macht die Nacht zum Tag. Und eine allgemein gültige Zeit in ganz Europa, die wir erst seit 160 oder
170 Jahren haben (in einigen Gegenden erst seit 130 Jahren) seit es nämlich die Eisenbahn gibt. Vorher - Jahrhunderte, Jahrtausende vorher, galt immer nur die Ortszeit. Und die war in Italien anders als in Norwegen, denn in Norwegen ist es im Winter anders und länger dunkel als in Italien.

Bei der Zeiteinteilung in Jahre, Monate, Tage und Stunden begegnen wir also über viele Jahrtausende einer Orientierung an ganz natürlichen Dingen: An der Sonne, am Mond, am Wechsel zwischen hell und dunkel. Diese Orientierung an der Natur verschwindet erst in der Neuzeit, mit der Erfindung der Uhr, mit dem Einzug der Elektrizität in unser Haus und in unser Leben.

Um so überraschender ist es, dass die Wocheneinteilung seit Jahrtausenden unverändert ist. Mit der völlig gleichmäßigen Periode orientiert sich die Woche nicht an der Natur. Sie geht auch nicht in der naturorientierten Zeiteinteilung des Jahres oder des Monats auf. Nein, die Woche orientiert sich an sozialen und kulturellen Bedürfnissen. Das heißt, die Woche gibt dem gesellschaftlichen Miteinander oder gibt der Kultur oder der Religion einen Rahmen. Dafür haben wir die Woche.

Die Römer kannten in der Zeit vor Christi Geburt - also vor mehr als 2000 Jahren - eine Wochenperiode, die acht Tage hatte. Der letzte Tag war Markttag und Gerichtstag. Anderswo gab es Wochen mit zehn Tagen. Die Sieben-Tage-Woche, wie wir sie kennen, ist wohl semitischen Ursprungs. Das heißt, die Juden haben sie wahrscheinlich von den Babyloniern übernommen. Völlig einmalig und damit eigentlich israelitisch-jüdisch ist jedoch die Ausgestaltung der Woche in einem Wechsel von sechs Arbeitstagen und einem arbeitsfreien Ruhetag. Der Sabbat ist seinem Ursprung nach israelitisch. Als Geschenk zuerst an das Christentum und dann an die Welt hat sich die Sieben-Tage-Woche mit einem Ruhe- und Feiertag als der soziale und kulturelle Rhythmus unserer Zeit ausgebreitet. Es hat in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Versuche gegeben, eine andere Periode einzuführen. Vor 230 Jahren in der Französischen Revolution zu Beispiel, wollte man den Monat in drei Dekaden, also in drei Zehnerabschnitte, einteilen. Oder in der russischen Revolution, die erst 110 Jahre zurückliegt, da wollte man die Einführung einer gleitenden Fünf-Tage-Woche durchsetzen. Aber nein, beide Versuche sind gescheitert, das Festhalten an der jüdisch-christlichen Sieben-Tage-Woche war stärker. Die genaue Entstehungszeit des Sabbats, des Feiertags, lässt sich nicht sicher bestimmen, aber es handelt sich wohl um eine sehr alte Tradition. Wie Sie wissen, gibt es das Sabbatgebot, das vierte Gebot, schon in der Reihe der Zehn Gebote. Das lässt vermuten, dass es schon ganz, ganz früh in der israelitischen Geschichte diese Tradition gab. Das Sabbatgebot lautet - Sie kennen es alle: "Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Tag des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh. Auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles was da rinnen ist und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn". (2. Mose 20,8f.)

Die jüdische Sabbattradition wurzelt also in den zentralen Glaubensinhalten dieser Religion: Gott hat die Welt für die Menschen geschaffen und ihnen, damit sie darin leben können, gute Ordnungen gegeben: Gebote. Die Säulen dieser Ordnungen sind die Zehn Gebote. Und eine dieser Säulen, auf denen das Leben der Menschen ruht, ist das Sabbatgebot. Beim Propheten Hesekiel heißt es zum Beispiel: "Ich Gott, gab ihnen meine Gebote..." durch die der Mensch lebt... ich gab ihnen auch meine Feiertage". (Hesekiel 20,11) Wie alle Gebote, ist auch das Sabbatgebot keine Forderung, sondern eine Gabe. Im diesem Fall eine Gabe, die von der Forderung befreit zu arbeiten.

Das Sabbatgebot regelt eine grundlegende Zeitordnung der Gemeinschaft, der Gemeinde, der Menschen, die zusammenleben: Im Wechsel zwischen Arbeit und Nichtarbeit. Das hebräische Verb, das hebräische Tuwort ?Sabbat? bedeutet nichts anderes als aufhören. Nämlich aufhören zu arbeiten und aufhören zu wirtschaften.

In seiner vermutlich ältesten Form lautet dieses Gebot: "Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebenten Tag sollst du aufhören. Auch in der Zeit des Pflügens und des Erntens." Aufhören, also auch gerade dann, wenn die Arbeit drängt. In der Unterbrechung des Wirtschaftens, in der Unterbrechung der Arbeit, zeigt sich auch der innere Zusammenhang. Der Mensch braucht diesen Rhythmus. Aber es bleibt bei diesem Sabbatgebot nicht bei der Forderung nach dem Aufhören. Die Bibel zeigt den Zusammenhang zwischen menschlicher Arbeit und der Schöpfungsarbeit Gottes. Das Gebot wird begründet: Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und ruhte am siebenten Tag. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.

Wörtlich genau steht die Schilderung dieses Aufhörens am Ende der Schöpfungsgeschichte: Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag. Und so vollendete Gott am siebenten Tag die Werke, die er machte und ruhte am siebenten Tag.

Ich will aufhören mit dem, was über den jüdischen Sabbat zu sagen wäre. Es müsste noch sehr viel gesagt werden über den Gottesdienst am Sabbat, über die gottesdienstliche Gestaltung, es müsste etwas gesagt werden über den Segen oder über die Gerechtigkeit, über die Ruhe usw. Dafür ist heute Abend keine Zeit. Ich komme zum zweiten Teil meines kurzen Vortrags: Ich will von der christlichen Sonntagstradition berichten.

2. Die christliche Sonntagstradition
Es ist deutlich, dass Jesus das Sabbatgebot nicht abgeschafft hat. Er hält sich als Jude an die Sitte. Aber will das Sabbatgebot aus seiner Strenge lösen. Er will dem Sabbat seinen ursprünglichen Sinn wiedergeben. Der Sabbat soll gute Gabe Gottes für die Menschen sein. Und so ist dann auch sein Satz zu verstehen: "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen". (Markus 2,27)

Nach dem Tod Jesu lebte die Sabbattradition nur bei den Judenchristen fort. Sie verloren aber nach etwa 100 oder 150 Jahren an Einfluss. In der griechisch geprägten christlichen Welt wurde der Sabbat allerdings nicht verbindlich. Auch Paulus geht vom Sabbat ab. "Lasst euch von niemandem ein schlechtes Gewissen machen", sagt Paulus, wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertags oder Sabbats. (Kolosser 2,16)

So brach in der frühen Christenheit die Sabbattradition zunächst als allgemein verbindliche Sitte ab. Stattdessen wurde schon bald der vom Sabbat folgende erste Tag der Woche als Tag des Herrn und Auferstehungstag ein Versammlungstag der christlichen Gemeinde. Der erste Tag der Woche wird der Freudentag, an dem nicht gefastet wird, sondern das Abendmahl gefeiert wird, der Sonntag. In Apostelgeschichte 20 Vers 7 heißt es: "Am ersten Tag der Woche aber, als wir versammelt waren, das Brot zu brechen, predigte Paulus".

Der Sonntag ist der Erstgeborene der christlichen Feste schreibt etwa um 300 nach Christus Athanasius und er hat sicher recht. Die wöchentliche Versammlung entsprach dem religiösen und gesellschaftlichen Bedürfnis.

Dies ändert sich erst im Jahre 321, als Kaiser Constantin den Sonntag zum Ruhetag, zum Tag ohne Gerichtsverhandlung, zum Tag ohne Urteilsvollstreckung erklärte. Später wurden auch alle Sklavenarbeiten am Sonntag verboten. Dann schließlich alle schweren Arbeiten für alle. Damit nahm das Christentum allmählich die Tradition der Sabbatruhe wieder auf. Und zwar gerade mit der sozialpolitischen Komponente, die Abhängigen zu schützen, ihnen den Gottesdienstbesuch zu ermöglichen, sie von der Arbeit freizustellen. In der östlichen Kirche begegnet man seit dem vierten Jahrhundert - also seit 350 bis 380 der Wiedereinführung des Sabbattages als ein dem Herrentag, dem Sonntag vorgeschalteter Ruhetag, mit dem an die Schöpfung erinnert werden soll. Und trotzdem: Es gilt festzuhalten, dass die frühe Christengemeinde sehr schnell den Sabbat vergessen hat und stattdessen am Sonntag, am ersten Tag, am Tag der Auferstehung zusammen kam, um Gottesdienst zu feiern.

3. Luther und die Reformatoren
Wir machen jetzt einen etwas größeren Sprung und springen in das Jahr 1500 und sehen nach, was Luther und die anderen Reformatoren aus dem Sabbat, aus dem Sonntag gemacht haben. Luther und die Reformatoren übertragen das Sabbatgebot auf den Sonntag. Sie kämpfen allerdings gegen einen allgemeinen Schlendrian und gehen eine schlechte Arbeitsmoral. Die Wirtschaftssituation war miserabel. Es gab Kirchengesetze, die garantierten den Arbeitern neunzig Ruhetage pro Jahre, zweiundfünfzig Sonntage und achtunddreißig Feiertage. Das waren für die damalige Situation und für die wirtschaftliche Notsituation eindeutig zu viele Feiertage. Und darum kämpfte Luther auch für die Abschaffung dieser Feiertage. Er wollte die Heiligen-Feiertage nicht mehr. Er hat geschrieben: "Wollte Gotte, dass in der Christenheit kein Feiertag wäre außer dem Sonntag... feiern ist jetzt nicht Not noch Gebot." Das heißt also: Er will ausdrücken: Wollte Gotte, das heißt soviel: Gäbe es doch bloß die vielen Feiertage nicht, gäb's doch nur den Sonntag. Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass Luther die Arbeitsruhe am Sonntag abschaffen wollte. Er wendet sich gegen das zeitgenössische Missverständnis, als sei das feiern eines bestimmten Tages vor Gott ein verdienstvolles Werk. Luther wendet sich wie Jesus und Paulus gegen ein gesetzlich formales Missverständnis des Feiertagsgebots. Also gegen die Art und Weise, wie etwa die Pharisäer das Feiertagsgebot einhalten wollten: Sklavisch mit Nichtstun, in enge Grenzen und enge Gesetze gefasst. Luther und alle, die nach ihm kamen, haben sehr schnell entdeckt, dass es nicht um den letzten Tag, sondern um den ersten Tag der Woche geht. Der erste Tag der Woche ist der Feiertag, der Ruhetag. Der Sonntag ist der Tag der Auferstehung. Es ist nicht der Ruhetag, den man sich durch seine Leistung während der Woche verdient hat, sondern der erste Tag ist ein Zeichen für das Geschenk, das aller Leistung vorausgeht. Die Arbeit der Woche wächst aus dem geschenkten Leben. Alles ist Geschenk. Zeit ist Geschenk. Und aus dem geschenkten leben wächst das Feiern und das Arbeiten.

Also das, was mit dem Sabbat verbunden war, die Ruhe nämlich, verbindet sich jetzt in der christlichen Tradition mit dem Geschenk. Es ist das Geschenk der Ruhe. Der Sonntag ist Gottes Angebot in der Zeitstruktur. Die Gemeinschaft war am Sabbat eingeladen aufzuhören, zurückzutreten von der Arbeit mit ihren Zwängen, Gottes Schöpfungswerk zu betrachten und das eigene Werk als ein Teil dazu zulegen, um dann zur Ruhe zu finden, um zum befreiten Atmen zu finden. Das gilt jetzt auch für den Sonntag. Der Sonntag aber ist mehr. Er ist Geschenk. Der Sonntag ist der erste Tag der Auferstehung und er wird gefeiert mit dem Abendmahl. Das gehörte Jahrhunderte zum Sonntag dazu. Von daher gab es den feierlichen Rahmen, die sonntäglichen Kleider, die festlichen Klänge, der besondere Ablauf.

Christlicher und jüdischer Sabbat widersprechen sich nicht, sie ergänzen sich. Aber wie der Sabbat, so wurde auch der christliche Sonntag in seiner Bedeutung nicht immer erkannt, nicht immer bewahrt, nicht einmal von den Kirchen. Immer wieder wurde auch der Sonntag zu einer Zwangsjacke, unter der das Leben eher zu ersticken drohte, als dass es aufatmete. Die Bedrohung des Sonntags durch die Wirtschaft blieb und bleibt uns nicht erspart. Der Sonntag ist unter Druck und zwar nicht erst in unseren Jahren. Der Sonntag ist schon seit 200 Jahren unter Druck. Seit der Zeit als der Mensch die Maschine erfand. Die Maschine, die etwas kostet. Die Maschine, die sich bezahlt machen muss. Und wenn Benjamin Franklin hat 1746 jungen Kaufleuten gesagt: "Bedenke, dass Zeit Geld ist und zwar Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur". Das heißt: Optimaler Kapitaleinsatz und Vermehrung des Kapitals verstieß nicht mehr gegen die gute christliche Sitte. Und darum brauchte man eine neue Arbeitsauffassung, eine neue Geschäftsauffassung anstelle eines eher beschaulichen Lebens mit täglich fünf oder sechs Kontorstunden und reichlich freien Tagen. Es folgt die rastlose Geschäftigkeit. In Verbindung mit den neuen technischen Möglichkeiten, mit dem künstlichen Licht zum Beispiel oder mit den jetzt elektrisch laufenden Maschinen. Da wurde die Nacht zum Tage und der Sonntag zum Alltag. Arme wurden gezwungen auch Sonntags zu arbeiten, denn sie brauchten das Geld. Die Löhne waren so niedrig, die Armut war schrecklich, Arbeitslosigkeit ein Grauen. Arbeiterinnen und Arbeiter mussten sich der restlosen Geschäftigkeit anpassen. Die Arbeitspausen wurden immer mehr reduziert, Zwölf-Stunden-Tage, Vierzehn-Stunden-Tage und von einem freien Sonntag wagte niemand mehr zu träumen.

Sonntagsarbeit nahm im 18. und
19. Jahrhundert immer mehr zu. Etwa um 1850 lag die tägliche Arbeitszeit im Ruhrgebiet bei 14, manchmal 18 Stunden und das sieben Tage in der Woche für Männer, Frauen und Kinder. Arbeitsruhe am Sonntag war für viele ein schöner Traum.

4. Die Tradition des freien Wochenendes
Der gesetzliche Sonntagsschutz begann mit dem preußischen Arbeitschutzgesetz im Jahre 1839. Dieses Gesetz untersagte die Sonntagsarbeit von Kindern und Jugendlichen. Hintergrund war die Sorge des Militärs, keine tauglichen Rekruten mehr zu bekommen. Obwohl es eine breite politische Koalition zwischen katholischen Abgeordneten, kirchenfremden Sozialdemokraten und lutherischen Adeligen gab im preußischen Parlament, dauerte es noch bis zum Jahre 1895, bis die Sonntagsarbeit generell verboten wurde.

In der Mitte des vorletzten Jahrhunderts, also etwa 1850, hatten Wuppertaler Färbergesellen von ihren Arbeitgebern gefordert, dass Sonn- und Feiertage wieder arbeitsfrei sein sollten mit der Begründung, auch unsere Körper müssen einen Sabbat, auch unsere Seelen einen Sonntag haben. Aber diese Forderung blieb unerfüllt. Es ging den Arbeitgebern um eine möglichst pausenlose Arbeitszeit. Mit der Begründung, der in den Maschinen fixierte Wert müsse sich schnell rentieren. Dabei glaubte man, durch die Maschinen sei die Arbeit etwas rein Mechanisches geworden und hielt den letzten Augenblick der Tagesarbeit deshalb für sehr kostbar.

Der in Preußen neu erkämpfte freie Sonntag war aber nicht derselbe wie vorher. Auch die Arbeiter konnten nun wieder den christlichen Gottesdienst besuchen, aber nur ein kleiner Teil machte davon Gebrauch. Die Kirche hatte gegenüber der Massenverelendung versagt. Die Kirche hatte große Armut zugelassen. Es gab eine Entfremdung zur Kirche. Kirche musste allerdings jetzt ihren Anspruch auf den Sonntag mit dem Arbeitersport, den Natur- und Wasserfreunden und mit politischen Versammlungen teilen. Dabei ist in theologischer Wertung nichts anderes erfolgt als die Wiederaneignung der alten sabbatlichen Tradition. Der arbeitsfreie Sonntag aber wurde zum Symbol des sozialen Fortschritts.

Der nächste Schritt war nun gerade in der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung die Erkämpfung des arbeitsfreien Samstagnachmittags. Das war vor allen Dingen ein Kampfziel der Fabrikarbeiterinnen. Das waren 1907 immerhin 2,1 Million Frauen, denn die hatten bei einem zehn bis zwölfstündigen Tag natürlich keine Zeit mehr, Wäsche zu waschen, zu bügeln, Strümpfe zu stopfen oder die Wohnung in Ordnung zu halten, ihre Kinder zu baden oder dies oder jenes Notwenige zu tun.

Zweiundzwanzig Wochen lang kämpfte die Textilarbeitergewerkschaft 1903/1904 für den Zehn-Stunden-Tag und für eine Verkürzung der Samstagsarbeitszeit. 1908 gab es einen ersten kleinen Erfolg. Es wurde eine Bestimmung erlassen, nach der Arbeiterinnen Sonnabends nicht länger als bis 17.00 Uhr arbeiten durften. Das war der Einstieg in den sogenannten Sonnabendfrühschluss nach englischem und amerikanischem Vorbild. 1913 wurde dann der Sonnabendfrühschluss auf 13.00 Uhr festgelegt. Diese Praxis hat sich allerdings erst schrittweise durchgesetzt. Im Laufe der Jahre, die dann folgten, wurde die Arbeitszeit kontinuierlich verringert. 1918 waren es noch 48 Wochenstunden, 1924 dann aber wieder 50. 1932 waren es nur 42 Stunden und 1940/41 wieder 50 Stunden. Da war dann natürlich auch immer der Samstag berührt.

Nach dem 2. Weltkrieg lag die Wochenarbeitszeit wieder bei 48 Stunden und fiel 1957 auf 45 Stunden. 1966 wurde mit der Vierzig-Stunden-Woche erstmals für die meisten Produktionsbereiche der Samstag ganz arbeitsfrei. Das freie Wochenende war erreicht. Und das gilt nun seit etwa 30 Jahren als eine Institution des gesellschaftlichen Lebens: Das freie Wochenende.

Ich fasse diesen Abschnitt zusammen: Der sogenannte Sonnabendfrühschluss und schließlich der produktionsfreie Sonnabend sind die konsequente Weiterentwicklung eines sozialen Fortschritts, der sich zunächst im Sonntagsarbeitsverbot ausdrückt. Es geht um das Anliegen einer ausreichenden gemeinsamen Pause in der Arbeit. Sonnabend und Sonntag sind deshalb nicht zu trennen, sie sind in ihrer Funktion aufeinander bezogen. Der freie Samstag oder im Einzelfall der Samstagnachmittag ist zwar erwerbsfrei, aber keineswegs arbeitsfrei. Der Samstag dient der Eigenarbeit in Haus und Garten und dient der Familie. Dadurch ermöglicht er den Sonntag im weit höherem Maß als freien Tag zu erleben und sich so dem Sinn der jüdisch-christlichen Tradition anzunähern.

5. Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage
Nach diesem Ausflug in die Sabbattradition, in die Tradition des christlichen Sonntags und in die Entwicklung des freien Wochenendes kommen wir jetzt zu der Feststellung: Ohne Sonntag gibt?s nur noch Werktage.

In der Bibel wird erzählt, Gott habe nach sechs Tagen schöpferischer Arbeit am siebten Tag geruht. In den zehn Geboten heißt es dann im Blick auf den Menschen: Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun, aber am siebenten Tag ist der Tag des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh auch nicht der Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Der gemeinsame arbeitsfreie Tag ist also eine Wohltat für alle, auch für die, die ihn nicht für den Besuch des Gottesdienstes in Anspruch nehmen. Das hat der christliche Sonntag aus der jüdischen Sabbattradition übernommen. Und das ist ein Bestandteil unserer Kultur geworden, der den Schutz des Grundgesetzes erhalten hat. Es gilt, diese Kultur zu bewahren.

Und darum hat die Evangelische Kirche in Deutschland jetzt wieder eine Kampagne gegen den Schutz des Sonntags gestartet. Mit dieser Kampagne will die EKD ein Nachdenken über den Wert des Sonntags bewirken, zur persönlichen Meinungsbildung herausfordern und zur Auseinandersetzung mit der Position der Evangelischen Kirche einladen. Der Sonntag als besonderer Tag der Woche hat einen hohen, kulturellen und religiösen Wert. Die Evangelische Kirche in Deutschland tritt als Anwältin der Gesellschaft für diesen Gesamtwert des Sonntags ein. Die Evangelische Kirche will vor Augen führen, wie sich eine fortschreitende Aushöhlung des Sonntagsschutzes auf das eigene Leben auswirken könnte. Und die vermehrten Ladenöffnungszeiten und die vielen Aufnahmeregelungen zur Ladenöffnung am Sonntag führen zu einer Ausweitung der Sonntagsarbeit, führen zu einer Aushöhlung des Sonntagsschutzes und werden unser Leben maßgeblich verändern.

Bereits jetzt arbeiten über 8 Millionen Menschen Sonntag für Sonntag. Mehr oder weniger freiwillig, damit das Leben in dieser Gesellschaft weiterläuft. Es gibt traditionelle Schwerpunkte in der Sonntagsarbeit: In der Gastronomie, im Rundfunk, im Fernsehen, bei den Zeitungen, bei Feuerwehr und Polizei. Hier ist ein Spielraum genutzt, der das Prinzip des Sonntags nicht aushöhlt, sondern es gewährleistet. Krankenschwestern, Ärzte, sie nehmen die Last der Sonntagsarbeit auf sich, damit wir uns auch am Sonntag wohlfühlen. Inzwischen ist aber der Schutz des Sonntags in besorgniserregendem Umfang durch Ausnahmeregelungen vom grundsätzlichen Verbot der Sonntagsarbeit ausgehöhlt worden. Innerhalb von nur zehn Jahren ist die Sonntagsarbeit um die Hälfte anstiegen: im Handeln, im Dienstleistungsbereich. Und wenn jetzt weiter im Einzelhandel am Sonntagsschutz gerüttelt wird, droht ein Flächenbrand. Das würde ein Signal setzen auch für andere Branchen. Warum sollen wir dann am Sonntag nicht auch Autos produzieren, das Rathaus öffnen oder Laster über die Autobahn brummen lassen? Dann wäre der Sonntag bald wie jeder x-beliebige Wochentag. Und darum darf es beim Sonntagsschutz keine Kompromisse mehr geben. Die Evangelische Kirche plädiert darum dafür, in Deutschland einheitliche Regeln für den Sonntagsschutz zu setzen.

Wir müssen uns als Gesellschaft insgesamt fragen, was uns der Sonntag wert ist. Dazu gibt es klare gesetzliche Vorgaben. Zentral ist die Formulierung im Grundgesetz. Da heißt es: Der Sonntag ist geschützt als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. So hochwertig behandelt unsere Verfassung den Sonntag. Sollte das Grundgesetz an dieser Stelle wirklich außer Kraft gesetzt werden? Zu den Bestimmungen, die sich aus dem Grundgesetz ableiten, gehören unter anderem das Verkaufsverbot. Zum Sonntag gehören aber auch eine Menge ungeschriebener Konventionen. Und es wäre nicht wieder gut zu machen, wenn wir die außer Kraft setzen. Heute kann man noch einigermaßen sicher sein, am Sonntag oder am freien Wochenende mit Freunden oder Bekannten etwas gemeinsam u unternehmen. Vereine können ihre Mitglieder einladen zu Sportveranstaltungen. Noch hört sich der Sonntag auch anders an, er ist leise. Noch fühlt sich der Sonntag anders an, er ist gelassener und schmeckt der Sonntag auch anders, dadurch das wir in Ruhe gemeinsam um den Mittagstisch sitzen. Dieser Sonntag, dieser Tag der Woche gibt der Woche und dem ganzen Jahresablauf einen Rhythmus von Arbeit und Ruhe. In den Kirchen feiern wir am Sonntag Gottesdienst. Das ist der besondere Beitrag der Kirchen zur Sonntagskultur. Unser Kampf für den Erhalt der Sonntagskultur zielt aber nicht auf den Freiraum für den Gottesdienst. Der Sonntag setzt vielmehr ein Signal, dass Leben mehr ist als Arbeiten, Kaufen und Besitzen. Darum hat die Evangelische Kirche in Deutschland eine neue Kampagne angeregt. Die Kampagne soll verhindern, dass der Sonntag als gemeinsamer Ruhetag aufgegeben wird.

Ich will jetzt noch einen abschließenden Teil anfügen, denn es geht nicht nur darum, den Erhalt des Sonntags zu fordern, es geht auch darum zu fragen, mit welchen Mitteln können sich Kirchen und Christen für den Schutz des Sonntags einsetzen. Und das ist dann mein letzter Teil.

Nicht das, was Kirchen und Christen über den Schutz des Sonntags sagen, nicht das, was sie politisch fordern ist ausschlaggebend, sondern wie wir Christen selbst mit dem Sonntag umgehen. Die Sonntagskultur oder eben die Sonntagsunkultur im Erscheinungsbild von Gemeinden und Familien spricht eine sehr viel deutlichere Sprache, als alle öffentlichen Erklärungen und Entscheidungen von Kirchenräten und Synoden. In diesem Zusammenhang kommt dem Gottesdienst am Sonntag eine besondere Bedeutung. Nicht, dass der Sonntag erst und allein durch den Gottesdienst zum Sonntag würde, das meine ich gar nicht. Die Heiligung des Sonntags steht in einem anderen Zusammenhang, in einem Rhythmus von Arbeiten und Ruhen. Aber in diesem anderen Begründungszusammenhang geht es darum vorzuleben und zu demonstrieren, dass sich der Sonntag sinnvoll vom Alltag abhebt, und dass die Unterscheidung des Sonntags vom Alltag den Menschen gut tut. Aber ich glaube, wir haben eine Verlegenheit, den Sonntag sinnvoll zu füllen und zu gestalten.

Der öffentliche Gottesdienst am Sonntagmorgen ist das Markenzeichen für die kirchliche Gestaltung des Sonntags. Wenn der Gottesdienst inhaltlich dürftig bleibt, wenn er lieblos wirkt und kümmerlich besucht ist, dann wird er als Gestaltungsmittel für den Sonntag beschädigt. Der Gottesdienst ist das zentrale Angebot im Schaufenster kirchlicher Beiträge zur Heiligung des Sonntags. Heiligung des Sonntags heißt allerdings nicht, dass nichts getan werden soll. Es geht mir darum, dass die Arbeit, das Tägliche, heilsam unterbrochen wird. Mir geht es nicht darum, so streng wie die Pharisäer zu sein. Mir geht es auch nicht um die Freudlosigkeit und die gähnende Langeweile bei den strengen Reformierten. Nein, es sollen am Sonntag Feste stattfinden. Auch kirchliche Feste. Es sollen am Sonntag Gemeindefeste, Seminare oder Synoden stattfinden. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, sie unterbrechen die Arbeit.

Für schwerwiegender halte ich das, was in der Lebensführung des einzelnen vor den Augen der Öffentlichkeit geschieht. Ich weiß das von mir selbst am besten. Ich mache den Sonntag gelegentlich zum Werktag. Das sind Zeiten, in denen ich unter dem Eindruck stehe, für meine berufliche Arbeit reichten die sechs Werktage nicht aus. Das ist das eigene Verhalten. Und mit dem eigenen Verhalten beschädige ich dann den Sonntag. Der Schutz des Sonntags ist also eine Frage an mich, an jeden einzelnen von uns. Sonntagsheiligung ist nicht an bestimmte politische oder rechtliche Gegebenheiten gebunden. In anderen Ländern und Kulturen gibt es andere Geflogenheiten. Da müssen auch Christen andere Wege gehen, wie auch Juden und Muslime bei uns in unserer Kultur ihre Tradition anders pflegen.

Das Jahr 312, der 3. März 312 ist der Geburtstag des Sonntags. Seit der Zeit ist der Sonntag ein staatlicher Ruhetag. Ich will noch einmal verlesen, was Kaiser Constantin damals in seinem Edikt geschrieben hat: Alle Richter, die Bevölkerung der Städte, die gesamte Erwerbstätigkeit sollen frei am verehrungswürdigen Tag der Sonne ruhen. Es gibt hier keine Enge. Und weiter heißt es: Die Bauern allerdings sollen frei und ungehindert der Bestellung der Felder nachgehen, da es häufig vorkommt, dass kein Tag geeigneter ist, den Getreidesamen, den Furchen und die Weinstocksetzlinge den Löchern anzuvertrauen, damit nicht etwa die Gunst des Augenblicks von himmlischer beschieden, verpasst werde.

Der Sonntag und die Sonntagsheiligung müssen durch den Staat, durch die Institutionen geschützt werden. Und darum ist es heute Aufgabe der Kirchen und der Christen als Politiker, als Unternehmer, als Gewerkschafter sich für verlässliche Regelungen zum Schutz des Sonntags einzusetzen.

Wenn wir als Christen am Sonntag festhalten, wenn wir als Gemeinde Jesu Christi für den Sonntag einsetzen, dann ist das ein Protest gegen eine Gesellschaft, die alle überkommenden Ordnungen ihres gesellschaftlichen Lebens bis hin zum Rhythmus von Arbeit und Freizeit einebnen möchte. Die Gesellschaft will zu optimalen Effekten der Arbeitsleistung. Hier müssen wir als Christen widerstehen. Hier müssen wir um den Sonntag kämpfen.

 


Jann Schmidt